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Eigenwillige Urlauber vor der Küste Cornwalls

Der Roman „Das Fest“ von Margaret Kennedy spielt im Sommer 1947 in einer Familienpension am Fuße der hochragenden Klippen Cornwalls. Dass es dem Untergang geweiht ist, wird gleich am Anfang vorweggenommen. Doch wie kam es zu dem Felssturz? Und wer zählt zu den Überlebenden? Was sich eine Woche zuvor in dem Hotel angespielt hat, erfahren wir aus Briefen, Dialogen und Tagebüchern der illustren, höchst eigenwilligen Gäste. Sieben von ihnen verkörpern jeweils eine der Todsünden - eine originelle Idee! - was uns rätseln lässt, wer wohl zu den Opfern des Unglücks zählen wird. 
Ich fand den Roman very british, aber nicht im Sinne von distinguiert und gentlemanlike, denn die Figuren gehen nicht gerade zimperlich miteinander um, sondern vielmehr was ihre Marotten und den bissigen Humor betrifft. Die Mischung aus amourösen Verflechtungen, moralisch fragwürdigem Verhalten und kritischen Debatten über die Nachkriegspolitik bietet eine unterhaltsame, kurzweilige Lektüre.
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Die Society-Reporterin ist zurück!

Im ersten Teil der Dilogie „Die Reporterin - Zwischen den Zeilen“ hatte sich die Protagonistin Malou ihre Stelle als Gesellschaftskolumnistin bei einer Münchner Zeitung hart erkämpft. In der Fortsetzung „Die Reporterin - Worte der Wahrheit“ steht ihr Privatleben etwas stärker im Fokus.
Als Malou die Wahrheit über ihren Vater erfährt und obendrein eine Tochter zur Welt bringt, zieht das eine Menge praktischer und emotionaler Komplikationen mit sich. Aber auch als berufstätige Mutter, die ihr „Frauennetzwerk“ nutzt, um weiterhin schreiben zu können, bleibt die Figur für mich sehr authentisch. Besonders gern habe ich die Passagen gelesen, in denen sie Stars wie die Rolling Stones, Roy Black oder Zarah Leander interviewt und sie mit klugen Fragen und Geschick zum Reden bringt.
Doch man erfährt nicht nur Interessantes über die Promis, sondern auch über die kulturellen und politischen Entwicklungen und die Aufbruchsstimmung im München der 1960er Jahre. Die Autorin greift historische Ereignisse wie die Olympischen Sommerspiele 1972 oder die Mondlandung auf und rollt frisch und lebendig ein spannendes Stück Zeitgeschichte auf.
 
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Literaturwissenschaftlerin im Liebeswahn

Ein Buch wie „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ von Terézia Mora möchte man nach der Lektüre zuklappen und sich erleichtert sagen „Zum Glück ist alles nur erfunden.“ Doch ich fürchte, das, was der Ich-Erzählerin widerfährt, kommt in der Realität häufiger vor, als man wahrhaben will.
Muna wächst in einer ostdeutschen Kleinstadt auf und verliebt sich mit achtzehn in den deutlich älteren Lehrer und Fotografen Magnus. Fortan ist sie ihm mit Haut und Haaren verfallen. Muna studiert Literatur, wohnt in Berlin, London und Wien und sammelt berufliche Erfahrungen im geisteswissenschaftlichen Umfeld. Sinn macht das Leben für sie jedoch nur, wenn sie mit Magnus zusammen ist.
Es schmerzt, mitanzusehen, wie eine intelligente und gebildete Frau jegliche Selbstachtung verliert, wenn sie emotional abhängig wird und sich in einer toxischen Beziehung verfängt. Eine Amour fou zwischen einer impulsiven, sinnlichen Frau und einem sich geheimnisvoll gebenden, arroganten Intellektuellen mag eine klischeehafte Konstellation sein, doch was Terézia Mora daraus macht, ist weit davon entfernt. Sie arbeitet mit Stilmitteln, die die Beklemmung nur noch steigern. Abrupte Perspektivwechsel und durchgestrichene Wörter und Sätze wie in einem Tagebuch lassen tief in das Innenleben der Protagonistin blicken. Ähnlich wie die Erzählungen der Autorin „Die Liebe unter Aliens“ wird auch dieser Roman bei mir noch lange nachhallen.
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Buchtipps, die das Leben verändern

Bücher über Bücher und japanische Literatur liegen voll im Trend. Auf „Frau Komachi empfiehlt ein Buch“ trifft beides zu. Fünf Menschen sind unzufrieden mit ihrem Leben und finden Hilfe bei Frau Komachi, die in einer Gemeindebücherei in Tokio arbeitet. 
Charmant an der Geschichte ist, dass die Bibliothekarin jedem ein Buch empfiehlt, das völlig fachfremd ist und gar keinen Bezug zu der jeweiligen Lebenssituation zu haben scheint. Wie sollen ein Kinderbuch oder ein Bildband über Pflanzen den Kunden helfen? Das weckt beim Leser die Neugier und Spannung, wie die Bücher wohl ihre Wirkung entfalten werden.
Michiko Aoyama porträtiert in jeweils abgeschlossenen Geschichten sehr unterschiedliche Figuren, die breites Identifikationspotenzial bieten - von einer Berufsanfängerin über einen Arbeitslosen bis hin zum Rentner. Dabei spricht sie gesellschaftliche Probleme an, zum Beispiel den Druck, im Leben etwas aus sich zu machen, die Benachteiligung von Müttern im Beruf oder die Ausgrenzung von Erwerbslosen.
Wie hilfreich Bücher sein können, wenn man einen Impuls braucht, um an seinen Träumen festzuhalten, seinen Blickwinkel zu ändern oder sein Leben in eine andere Richtung zu lenken, davon muss uns leidenschaftliche Leser wohl keiner überzeugen. Trotzdem kann ich allen diese warmherzige und mutmachende Geschichte über das Glück, zur richtigen Zeit zum richtigen Buch zu greifen, empfehlen.
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Der Sommer ihres Lebens

Ich war weder in Malibu noch habe ich Surfen gelernt, doch die titelgebende Hauptfigur „Gidget“ hat sofort Jugenderinnerungen geweckt. Hat das nicht jeder schon einmal erlebt? Die Begegnung mit einer coolen Clique, der Wunsch dazuzugehören und der Stolz, wenn man endlich akzeptiert wird. Bei Franzie sind es die Surferboys in Malibu, die ihr den Spitznamen „Gidget“ verpassen und ihre Abenteuerlust im Allgemeinen und die Leidenschaft für das Wellenreiten im Speziellen wecken. 
Wie sie sich heimlich davonschleicht, um mit ihren neuen Freunden am Strand abzuhängen und das Surfen zu lernen, wie sie sich unsterblich in einen der Jungs verliebt und sich Strategien überlegt, um ihm zu imponieren – das alles wird aus Sicht der aufgeweckten, mutigen und frechen Gidget erzählt. Dabei stammt die Geschichte aus der Feder ihres Vaters, einem Hollywoodautor, und wurde schon mehrfach verfilmt. Der federleichte Roman über eine der ersten Surferinnen weckt die Sehnsucht nach Abenteuer, Strand und Meer.
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Gefangen im Kokon

Ich lese gern Geschichten über Außenseiterinnen wie „Die Ladenhüterin“ von Sayaka Murata, noch dazu wenn sie in Japan spielen. In dem Roman „All die Liebenden der Nacht“ von Mieko Kawakami fiel es mir jedoch schwer, Zugang zu der Hauptfigur zu finden. Die 34-jährige Fuyuko meidet soziale Kontakte, führt ein einsames Leben und geht nur in ihrem Beruf auf. Als sie eines Tages beschließt, ihren Kokon zu verlassen und ihr Leben zu verändern, hatte sie noch meine volle Unterstützung, doch leider greift sie zur Flasche und trinkt sich Mut an. 
Einen Absturz nach dem anderen mitzuerleben fand ich auf die Dauer deprimierend. Was mir dagegen gefiel, waren ihre Beobachtungen und Gedanken auf ihren nächtlichen Spaziergängen durch Tokio. Als Korrekturleserin hat sie genau den passenden Beruf: Sie muss Distanz zu den Texten wahren, überträgt dies aber auch auf ihr Privatleben und lässt nur zwei Menschen an sich heran: ihre Auftraggeberin Hijiri und ihre Zufallsbekanntschaft Mitsutsuka, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Hijiri ist lebenshungrig, oberflächlich und das krasse Gegenteil von Fuyuko während Mitsutsuka sich sehr zurückhaltend verhält. Auch hier war mir manches zu überzogen: Hijiris übertriebenes Selbstbewusstsein und ihre Monologe im Kontrast zu Fuyukos Unsicherheit und Einsilbigkeit in jeglichen Gesprächen. Der Roman spiegelt den Druck auf Frauen in der japanischen Gesellschaft wider und zeigt eine Protagonistin, die sich zaghaft öffnet, doch er war nicht ganz mein Fall.
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Musikalisches Krimi-Vergnügen

Endlich wartet eine neue Aufgabe auf den Commissario „Di Bernardo“, den ich schon bei seinen ersten zwei Fällen in die Musikszene begleiten durfte. Diesmal wird er gleich mit zwei Morden neben der Basilica San Giovanni in Laterano konfrontiert, die er nur schwer miteinander in Verbindung bringen kann. 
Sofort fühlte ich mich in vertrauter Gesellschaft: Der Commissario, der schnell die Geduld verliert, wenn er in eine Sackgasse gerät und sich darüber ärgert, etwas Wichtiges zu übersehen; sein Partner Del Pino, der immer nach etwas Essbarem Ausschau hält, aber auch fachlich einen guten Riecher beweist, wenn es darauf ankommt.
Natasha Korsakova würzt die flotten Dialoge mit italienischen Ausdrücken und lässt uns während der Ermittlungen die Plätze und Straßen Roms wie bei einer Kamerafahrt erleben. Es war ein großes Vergnügen, bei dem komplizierten Fall mitzutüfteln, nebenbei Interessantes über die Kunst des Bogenbaus zu erfahren und den von ihr gespielten Musikstücken zu lauschen, die man per QR-Code abrufen kann. Manchmal fragte ich mich, von welchen realen Personen und persönlichen Erlebnissen sich die Violinistin wohl inspirieren ließ. Fest steht, dass sie als engagierte Umweltschützerin ihren persönlichen Bezug zum brasilianischen Regenwald raffiniert verarbeitet hat.
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Einfühlsames Ehe- und Gesellschaftsporträt

Mit einem so berühmten Maler wie Edward Hopper verheiratet zu sein, ist sicher nicht einfach – besonders wenn man selbst künstlerische Ambitionen hat wie Josephine. Von ihrem alljährlichen Sommerurlaub am Meer auf Cape Cod und ihrem schwierigen Eheleben erzählt der Roman „Schmales Land“ von Christiane Dwyer Hickey. Josephines Verhalten ist ambivalent. Einerseits hackt sie auf ihrem Mann, der in einer Schaffenskrise steckt, ständig herum, treibt ihn zum Malen an und will an seinem Schaffensprozess teilhaben; andererseits leidet sie darunter, stets in seinem Schatten zu stehen.
Es ist kein typischer Künstlerroman, denn die Autorin erzählt eine weitere Geschichte – über den deutschen Waisenjungen Michael Novak, der den Sommer ebenfalls auf Cape Cod bei der Familie Kaplans verbringt. Als sich die Wege zwischen Michael und Josephine kreuzen, entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Josephine genießt die ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuneigung des Jungen, den sie wie einen Erwachsenen behandelt. Michael seinerseits fühlt sich in ihrer Gesellschaft viel wohler als bei dem gleichaltrigen Richie. Anhand der beiden Jungs lässt uns Hickey auch die traumatischen Erlebnisse durch den Zweiten Weltkrieg spüren, denen Michaels Eltern und Richies Vater zum Opfer gefallen sind.
Anfangs fand ich es verwirrend, dass sehr abrupt zwischen den Perspektiven gewechselt wird, doch dies macht die Konflikte, Fehlinterpretationen und Dramen, die sich zwischen den Figuren abspielen nur noch deutlicher. Neben den zahlreichen Protagonisten hat auch der Schauplatz Cape Cod eine wichtige Rolle zu. Als großer Fan von Edward Hopper hatte ich dank der stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen immer wieder die Bildmotive des Malers vor Augen, die die Kulisse für den ganz und gar nicht idyllischen Sommer bilden. 
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Ergreifende Lebensgeschichte vor der Kulisse Colorados

Der Roman „So weit der Fluss uns trägt“ von Shelley Read beginnt mit einer zarten Liebesgeschichte zwischen der Ich-Erzählerin Victoria Nash und Wilson Moon. Seit dem Tod ihrer Mutter wächst Victoria in einem Männerhaushalt auf, der ihr viel abverlangt. Dass Menschen sich auch um ihr Wohl sorgen und liebevoll sein können wie Wilson, ist für die 17-Jährige neu. Doch seine indianische Herkunft wird ihrer Beziehung zum Verhängnis.
Ich habe die Heldin auf ihrem Weg von einem ängstlichen, abhängigen Mädchen zu einer auf sich selbst gestellten, widerstandsfähigen Frau, die auch vor schweren Entscheidungen nicht zurückschreckt, mal empathisch, mal fassungslos begleitet. Ihre enge Verbundenheit zur Natur, aus der sie Kraft schöpft, und den Kreislauf von Geben und Nehmen beschreibt die Autorin in stimmungsvollen Bildern und erweckt die Pfirsichplantagen und Berge Colorados entlang dem Gunnison River zum Leben. Die unterschiedlichen Frauenfiguren, die Torie zur Seite stehen, fand ich allesamt interessant, während mir die Männer etwas stereotyp vorkamen, besonders die Figur des bösen Bruders, die sich wiederholt. 
Ich bin froh, dass ich mich für das Hörbuch entschieden habe. Die Sprecherin mit ihrer ruhigen, unaufdringlichen Stimme gab mir ein langsames Tempo vor und ließ mir genügend Raum, um die Dramatik und Tragik einzelner Ereignisse auf mich wirken zu lassen.
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Ein Sommerurlaub wird zum Alptraum

Am Anfang des Romans „Die spürst du nicht“ von Daniel Glattauer wähnte ich mich in einer Gesellschaftssatire über zwei wohlsituierte Familien aus Wien, die in der Toskana gemeinsam Urlaub machen. Ich amüsierte mich herrlich über die pointierten Dialoge, die die markanten Figuren bestens charakterisieren. Doch dann geschieht ein Unglück, das die Geschichte in eine völlig andere Richtung lenkt als erwartet.
Neben der Haupthandlung rund um die Folgen des Unglücks geht es um Ehekonflikte, Erziehungsfragen und Teenagersorgen, um Vorurteile, Egoismus und moralisches Handeln. Anhand von eingestreuten Pressemeldungen und Postings in Internetforen führt uns der Autor mit viel Ironie und Sprachwitz vor Augen, wie eine Tragödie medial ausgeschlachtet und im Netz breitgetreten wird – noch dazu wenn eine Politikerin im Spiel ist – und jeder meint, seinen Senf dazugeben zu müssen.
Ich finde es großartig, wie er das Sittenbild einer privilegierten Gesellschaft mit einem tragischen Flüchtlingsschicksal verknüpft hat. Die einen kämpfen um die Rettung ihres Rufs und ihrer Karriere, die anderen ums nackte Überleben. Auf mich trifft der Romantitel nicht zu, denn die Geschichte ging mir unter die Haut!
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Körperlich und emotional ausgebrannt

Der Roman „Wie wir brennen“ von Sarah Hall weckt schmerzhafte Erinnerungen an den Corona-Lockdown. Bei der Ich-Erzählerin Edith ist es ein gefährliches Norovirus, das sie und ihren Geliebten Halit in die Isolation zwingt, doch die verheerenden Folgen für den Alltag und das gesellschaftliche Leben sind vergleichbar.
Die Ich-Erzählerin beschreibt sehr intensiv, was sie durchmacht, als die Krankheit bei Halit immer weiter fortschreitet. Die beiden versuchen, der Hilflosigkeit mit ihrer Liebe füreinander zu trotzen. Sätze wie „Wir hatten nur die Liebe; als Währung war sie nutzlos, aber beim Verdrängen eine Macht“ prägen sich ein. Rückblicke auf ihre Laufbahn als Bildhauerin, an ein Austauschprogramm in Japan, wo sie die Technik der Holzverbrennung erlernte, ihr toxisches Verhältnis zu ihrem früheren Freund Alit und ihrer schwerbehinderten Mutter Naomi wechseln sich ab mit philosophischen Gedanken über Menschlichkeit und emotionale Grausamkeit. 
Die Metapher des Brennens, die sich durch den gesamten Roman zieht, und die ausdrucksstarke lyrische Sprache gefielen mir gut. Vieles jedoch hätte für meinen Geschmack etwas weniger extrem und drastisch erzählt werden können. So musste ich mich durch einige anstrengende Passagen durchkämpfen.
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Hommage an eine außergewöhnliche Modepionierin

In einem Fernsehbericht hatte ich das erste Mal von der italienischen Modeschöpferin Elsa Schiaparelli gehört und war beeindruckt von ihrem ausgefallenen Stil. Daher war ich sehr neugierig, in dem Roman „Die Modemacherin von Paris“ von Mina König mehr über sie zu erfahren.
In der Modebranche Fuß zu fassen, ist schwer genug. Elsa Schiaparelli jedoch hatte, als sie 1922 von New York nach Paris zog, darüber hinaus für ein krankes Kind zu sorgen. Die Autorin dringt tief in die Gefühle, Wünsche und Zweifel der Protagonistin ein. Der Zwiespalt zwischen Elsas beruflichem und künstlerischem Ehrgeiz einerseits und der Sorge um die Tochter, die dringend eine Therapie benötigt, um besser gehen zu können, ging mir sehr nahe.
Ich erinnere mich jetzt noch an viele Szenen, in denen Elsa mit ihrem Temperament, ihrer rebellischen Art und Schlagfertigkeit die konservative Gesellschaft aufmischte. Das Entsetzen über Elsas gewagte Kreationen konnte ich mir bildlich vorstellen. Mit ihren originellen Ideen, ihrem Tatendrang und Selbstbewusstsein ist sie mir immer mehr ans Herz gewachsen.
Mina König bereichert die Geschichte über Elsas hürdenreichen Weg von ihrer Anstellung im Kaufhaus Galeries Lafayette bis zu ihrem großen Durchbruch durch reale Zeitgenossen wie Francis Picabia, Man Ray und ihre Gegenspielerin Coco Chanel und versetzt uns in die damalige Kunst- und Modeszene, in der die Avantgardisten und die Verfechter des klassischen Stils aufeinanderprallten. Nach "Miss Hollywood" und "Mademoiselle Oppenheim" ist dies die dritte spannende Romanbiografie von Mina König, die ich innerhalb weniger Tage verschlungen habe.
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Stimmungsvoller Streifzug durch Skandinavien

Bücher von Astrid Lindgren, ABBA-Songs, dänische TV-Serien und Städtetrips nach Kopenhagen und Stockholm haben mein Faible für die skandinavischen Länder stetig verstärkt. Von dem Titel des Hörbuchs „Sehnsucht Skandinavien“ fühlte ich mich daher sofort angesprochen und hoffte, meine Wissenslücken besonders in Richtung Norwegen, Finnland und Island ein wenig zu schließen.
Die akustische Reise beginnt auf zwei Rädern in Dänemark auf Fünen, wo wir erfahren, wie weit die Bedeutung des schon oft gehörten Ausdrucks „Hygge“ reicht. Hellhörig wurde ich bei dem Namen Arne Jacobsen, der unter anderem den berühmten Egg Chair und das Kopenhagener Hotel Royal entworfen hat. Mir gefiel, dass in vielen Beiträgen nicht nur die Orte vorgestellt, sondern auch die Menschen mit einbezogen werden und zu Wort kommen – wie zum Beispiel die Hotelmitarbeiter, die sich mit dem Gebäude und dem Design von Jacobsen emotional verbunden fühlen.
Vom Museum of Failure in Helsingör oder dem größten Supermarkt der Welt in Ullared hörte ich zum ersten Mal. Das Ambiente wird so authentisch vermittelt, dass ich das Gefühl hatte, selbst durch die Regalreihen zu schlendern. Ein Kapitel widmet sich ausführlich der finnischen Saunakultur, die in einem viel größeren Maß zelebriert wird als ich dachte. Ich habe auf dieser sehr abwechslungsreichen Reise viele Kunst-, Architektur- und Naturhighlights kennengelernt, die ich unbedingt live erleben möchte, und konnte dabei in das typisch skandinavische Lebensgefühl eintauchen.
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Poetische Naturerkundung

Mit Ameisen, Eichhörnchen, Amseln oder Bienen habe ich im Alltag nur flüchtige Begegnungen. Nachdem ich das Buch “Notizen aus dem Sommerhaus” gelesen habe, werde ich künftig sicher genauer hinsehen, wenn ich auf unserer Terrasse eine Ameisenstraße oder beim Spaziergang ein Vogelnest entdecke. 
Schauplatz des Memoirs von Nina Burton ist ein schwedisches Sommerhaus, das die Autorin renovieren lässt. Während sie die Arbeiten überwacht, nimmt sie ihre kleinen tierischen Mitbewohner innerhalb und außerhalb des Hauses unter die Lupe und erzählt uns allerlei Staunenswertes. Mit großem Respekt habe ich beispielsweise den Arbeitstag einer Hummel verfolgt. Die Navigationskünstler schaffen bis zu sieben Flügen am Tag und vierhundert Blüten bei jeder Runde! Fasziniert hat mich auch die Sprache der Bienen, die sich durch verschiedene Tanzarten auf den Waben über Richtung, Flugzeit und Qualität der Blüten informieren und sich auf die Weise eine umfassende Naturbeschreibung liefern. 
Nina Burton stellt uns außerdem die Arbeiten bekannter Forscher wie Carl von Linné und Charles Darwin vor und erklärt naturwissenschaftliche Zusammenhänge sehr verständlich. Indem sie beschreibt, wie sich die Tiere bei ihr häuslich einrichten und Parallelen zwischen der menschlichen und tierischen Gemeinschaft zieht, gewinnt man einen leichten Zugang zu ihrem umfangreichen Wissen. Dabei rückt sie den Platz, den wir Menschen gegenüber den vielfältigen Lebewesen, die um uns existieren, einnehmen in die richtige Perspektive. Der lehrreiche und von Poesie durchzogene literarische Ausflug lässt sich am besten im Garten oder auf einer Picknickdecke genießen!
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Packendes Katz- und Maus-Spiel

Dass ich im Alltag beim Surfen, Einkaufen oder Streamen ständig digitale Spuren hinterlasse, ist mir bewusst und tue es trotzdem, in gutem Glauben, dass es keine schlimmen Auswirkungen haben wird. Kann man überhaupt heutzutage vom Radar verschwinden? Dieser Herausforderung stellen sich zehn Kandidaten in dem Roman “Going Zero” von Anthony McCarten, indem sie an einem Betatest eines Social-Media-Konzerns und US-Geheimdiensten teilnehmen. Drei Millionen Dollar winken dem Sieger, wenn es ihm gelingt, von einem digitalen Überwachungssystem 30 Tage lang unentdeckt zu bleiben.
Es ist amüsant zu lesen, was sich die verschiedenen Teilnehmer, darunter fünf Sicherheitsexperten und fünf Laien, alles einfallen lassen, um unterzutauchen und dabei kläglich scheitern. Ausgerechnet Kaitlyn Day, eine Bibliothekarin aus Boston, trickst ihren Gegner mit raffinierten Zügen und Zähigkeit immer wieder aus.
Nicht nur die originelle Idee, auch die präzise gezeichneten Figuren, überraschende Wendungen und das rasante Tempo zogen mich vollkommen in den Bann. Man spürt förmlich, wie der Projektleiter Cy das Machtgefühl, das ihm der Datenbesitz verleiht, auskostet. Mit jeder weiteren Information über eine Person wächst die Kontrolle über ihn. Ein spannender gesellschaftskritischer Thriller über Tech-Konzerne, Geheimdienste, Staats- und Cyberkontrolle, der ein mulmiges Gefühl hinterlässt.
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Spiel mit dem Feuer

Ein Roman, der unter anderem für den Prix Goncourt nominiert und in Frankreich ein Bestseller war, macht neugierig. Das Thema Ehebruch mag banal erscheinen, doch Maria Pourchet bringt in „Feuer“ eine ganz individuelle Note ein. Zum einen schreibt sie in der zweiten Person, so dass man sich direkt angesprochen fühlt und sofort in das unheilvolle Geschehen hineingezogen wird. Zum anderen schreibt sie schonungslos direkt, scharfzüngig, zuweilen sarkastisch. 
Ich habe mir immer vorgestellt, dass in einer Amour Fou beide Seiten mit gleicher Intensität hineinschlittern, doch hier ist es anders. Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive von Laure, einer verheirateten Uni-Dozentin, und dem alleinstehenden Investmentbanker Clément, so dass das Ungleichgewicht immer deutlicher wird. Während sich Laure mit Haut und Haaren ihrer Begierde hingibt, zu allem bereit ist und ihre Familie und Kollegen belügt und betrügt, ist Clément der Zögernde, der Skrupel hat, Grenzen setzt, immer wieder einen Rückzieher macht und andere in sein Geheimnis einweiht. 
So assoziiere ich den gut gewählten Titel vor allem mit der weiblichen Hauptfigur, die durch ihre Besessenheit und Fixierung auf Clément einen Flächenbrand auslöst. Zum Glück stürzt sich ja nicht jeder, der in einer Krise steckt, gleich in eine Liebesaffäre, doch die Leere, die sich in einem festgefahrenen Leben auftut, und der Wunsch, sich wieder lebendig zu fühlen, beschreibt Maria Pourchet so eindringlich und fesselnd, dass sie sich gut nachvollziehen lassen.
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Verloren im Pazifik

Der Titel “Gentleman über Bord” fasst so ziemlich die gesamte Handlung des Romans von Herbert Clyde Lewis zusammen. Bei dem Gentleman handelt es sich um Henry Preston Standish, einem New Yorker Börsenmakler, der auf einem Schiff von Hawaii nach Panama unterwegs ist, unglücklich ausrutscht und über Bord fällt. 
Was er in den folgenden Stunden durchmacht, ist buchstäblich ein Wechselbad der Gefühle. Sie schwanken zwischen Schock, Scham, Wut, Verzweiflung und Hoffnung. Anfangs ist er noch überzeugt, dass die Crew sein Fehlen bemerken wird und malt sich seine Rettungsaktion aus. Er führt Selbstgespräche, rechnet mit Gott ab und blickt auf sein Leben zurück. Das ist komisch und tragisch zugleich. Man kann gar nicht anders als mit ihm zu fühlen und sich ähnliche Fragen zu stellen wie er. Warum war er mit seinem bisherigen Leben so unglücklich? Was hat er sich von der Reise erhofft?
Die Situationskomik einerseits und Henrys existenzielle Ängste andererseits während er auf offener See treibt, bilden einen starken Kontrast. Alles, worauf Henry wenige Minuten vor dem Unglück Wert gelegt hatte wie der geregelte Tagesablauf an Bord, die nette Gesellschaft und sein Ansehen sind von einer Sekunde auf die andere über den Haufen geworfen und bedeutungslos geworden. Die starke Symbolkraft macht in dieses schmale Büchlein zu etwas Besonderem.
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Ein überforderter Familienvater

Simon Larsen, Hauptfigur des Romans „Dinner mit den Schnabels“, ist für mich ein typischer Antiheld, aber ein sehr sympathischer. Seitdem sein Architekturbüro pleite ging und die Familie in eine kleinere Wohnung umziehen musste, ist sein Selbstwertgefühl im Keller. Dass seine exzentrische Schwiegermutter ständig auf ihm herumhackt, ist da nicht gerade förderlich. Obendrein wird er ständig mit neuen Hiobsbotschaften konfrontiert, die sein Weltbild ins Wanken bringen.
Die Art und Weise, wie sich Simon mehr schlecht als recht durch das Leben schlägt, gibt uns auch ein immer klareres Bild der übrigen Familienmitglieder, samt Schwager und Schwägerin, die omnipräsent sind. Die eigentliche Handlung gerät dabei ins Stocken – oder genauer gesagt Simons Hauptaufgabe. Er soll innerhalb einer Woche den Garten eines reichen Freundes für eine Familienfeier neu gestalten. Ich mochte vor allem den lakonischen Stil, die treffsicheren Kommentare und den unterschwelligen Humor des Romans und konnte mich in den überforderten Familienvater gut hinein fühlen. Auf manche Nebenschauplätze konnte ich mir keinen Reim machen, doch der überraschende Schluss lüftet alle Geheimnisse.
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Ein Buch wird Zeitzeuge

Nicht nur Romanfiguren, auch ein Buch kann spannende Abenteuer erleben wie „Echos der Vergangenheit“ von Hugo Hamilton zeigt. Darin wird eine Erstausgabe von „Die Rebellion“ von Joseph Roth zum Erzähler. Sie entkam 1933 nur knapp der Bücherverbrennung und wanderte seitdem durch viele Hände, die ihre Spuren hinterlassen haben. Eine handgezeichnete Karte auf der letzten Seite, auf deren Spur sich die aktuelle Besitzerin macht und nach Berlin reist, bildet den Spannungsbogen der Geschichte. 
Die Idee ist sehr originell, anhand eines Buches den Verlauf historischer Ereignisse und menschlicher Schicksale auf verschiedenen Zeitebenen zu verknüpfen. Dabei kommt auch der Held des Romans Andreas Pum, ein Kriegsveteran und Drehorgelspieler, nicht zu kurz. Berührt hat mich die komplizierte Beziehung zwischen Joseph Roth und seiner Frau Friederike, die Hugo Hamilton ebenfalls einfließen lässt. Es ist schade, dass die Erzählstimme des Buches, das emotional und physisch einiges erleiden muss und sein bewegtes Schicksal mal packend, mal humorvoll mit uns teilt, über längere Strecken von der Bildfläche verschwindet. 
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Romantische Komponistin und rebellische Poetin

Bei der Suche nach interessanten Büchern landet man manchmal wahre Glückstreffer. So ein Fall war für mich „Die rebellische Pianistin. Das Leben von Johanna Kinkel“ von Verena Maatman. Kein Wunder, enthält der Roman doch viele Zutaten, die mich begeistern: eine historische Frauenfigur, noch dazu mutig und rebellisch, Klaviermusik, Dichtung, Salonnières und geschichtliche Ereignisse.
Von Johanna Kinkel hatte ich bisher noch nie etwas gehört. Mit 11 stand für sie fest, Pianistin und Komponistin zu werden, doch natürlich hatten Frauen Anfang des 19. Jahrhunderts statt zu musizieren das Kochen und Nähen zu erlernen, um eine gute Partie zu finden. Dass sie in einem Kochkurs eine Melodie für ein Sauerbratenrezept erfand, um es sich besser zu merken, machte sie mir gleich sympathisch.
Ohne ihren Musiklehrer und Förderer Franz Anton Ries, der auch Beethoven unterrichtet hatte, hätte Johanna wohl kaum ihren Traum verwirklichen können. Atemlos verfolgte ich, wie sie die Leitung eines Gesangsvereins in Bonn übernahm, zum Studium nach Berlin zog, engen Kontakt mit Fanny und Felix Mendelssohn hielt und zu einer der begehrtesten Pianistinnen in den Berliner Salons wurde. Sie komponierte nicht nur Lieder, sondern schrieb auch Gedichte, Erzählungen und Essays, war mit Annette von Droste-Hülshoff und Bettina von Arnim befreundet und gründete mit ihrem Ehemann einen Dichterkreis. 
Verena Maatman stellt in dieser spannend erzählten Romanbiografie neben Johannas außerordentlicher Begabung auch ihr Engagement für Frauenrechte heraus. Ich habe nicht nur eine in Vergessenheit geratene bewundernswerte Pianistin, Komponistin und Poetin kennengelernt, sondern auch Interessantes über die Demokratiebewegung vor 175 Jahren erfahren. 
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Eine Reise ins Ungewisse

Kaum etwas lädt mehr zu einer inneren Einkehr ein als eine lange Zugfahrt. In „Unschärfen der Liebe“ füllen die Reflexionen der Hauptfigur Baran, der von Chur nach Istanbul unterwegs ist, sogar einen ganzen Roman. Sie werden ausgelöst durch Beobachtungen in und außerhalb des Zuges, vorbeiziehende Landschaften, wechselnde Fahrgäste und seinen eigenen Erinnerungen.
Die besondere Erzählweise von Angelika Overath, in der Erlebtes, Beobachtetes und historische Exkurse miteinander verschwimmen, löste auch bei mir Gedankenspiele aus. Die Reisenden befinden sich während eines kurzen Lebensabschnitts in einer ähnlichen Situation; in ihren Köpfen laufen jedoch völlig verschiedene Filme ab. Bei Baran kreisen sie vor allem um Alva und ihrer Tochter Florinda, von denen er sich am Bahnsteig verabschiedet hat, und Cla, der ihn zu Hause in Istanbul erwartet. Es entfaltet sich eine komplexe Dreiecksbeziehung, in der Baran seinen Platz zu finden sucht. 
Diese Suche betrifft nicht nur seine Beziehungen, sondern auch die eigene Identität und kulturelle Zugehörigkeit. Der Satz „Seine Heimat war das Fremdsein” drückt sehr treffend die Gefühle des Protagonisten mit griechisch-türkischen Wurzeln aus. Dass er sich im Schwebezustand während der Zugfahrt gut aufgehoben fühlt, konnte ich nachvollziehen. Für mich blieb jedoch in diesem Roman zu vieles in der Schwebe, so dass es mir schwer fiel, eine persönliche Veränderung oder finale Entscheidung zu erkennen. 
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Wie der Eiffelturm entstand

Paris ohne den Eiffelturm kann man sich nur schwer vorstellen - genauso wenig, dass viele Künstler wie Guy de Maupassant oder Charles Garnier massiv gegen den Bau protestiert hatten. All das und viele weitere interessante Hintergründe erfährt man in dem Roman „Mademoiselle Eiffel“ von Sophie Villard. Im Mittelpunkt steht dabei nicht der berühmte Erbauer Gustave Eiffel, sondern seine titelgebende Tochter und Privatsekretärin Claire.
Die Autorin verschränkt familiäre Ereignisse bei den Eiffels mit der Entstehungsgeschichte des Turms, wobei mich Letzteres mehr interessierte. Es ist spannend, die einzelnen Bauphasen zu verfolgen, welche Ideen der Ingenieure dabei umgesetzt wurden, auf welche technischen Schwierigkeiten und personellen Widerstände die Familie stieß und welche finanziellen Risiken sie einging. 
Wie es zur engen Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Otis kam und wie ein amerikanischer Journalist das Geschehen hautnah begleitete, waren für mich auch bereichernde Elemente in der Geschichte. Die Vorbereitungen für die Weltausstellung 1889 machen den damaligen Fortschrittsgeist förmlich spürbar. Claires Eifersucht auf Elisabeth Otis und ihr Bemühen, wieder Schwung in ihre Ehe zu bringen, fand ich allerdings übertrieben. 
Ich muss zugeben, dass ich schon oft in Paris, aber noch nie auf dem Eiffelturm war, und möchte das nach der Lektüre unbedingt nachholen! 
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Eine philosophische Reise

Die Flut der Ratgeber zur Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung erwecken fast den Eindruck, darin bestehe der Sinn des Lebens. Für Christian Uhle ist dies jedoch nur einer von mehreren Bausteinen für ein sinnvolles Leben. Die übrigen erläutert der Philosoph in seinem Buch „Wozu das alles?“.
Er nähert sich dem vielschichtigen Thema, indem er vier zentrale Auslöser von Sinnkrisen unter die Lupe nimmt: Erfahrungen von Ziellosigkeit, Vergänglichkeit, Gleichgültigkeit und Fremdheit. Anhand vertrauter Alltagsszenen beschreibt er typische menschliche Empfindungen so treffend, dass ich oft das Gefühl hatte, er spricht mir aus der Seele. Anschließend zeigt er Wege auf, wie wir diese negativen Erfahrungen überwinden und sowohl der Welt als auch unserer Existenz einen Sinn abgewinnen können. 
Ich kam mir vor wie auf einer Zeitreise, denn der Autor schlägt eine Brücke von Erzählungen aus der Antike, die die Sinnsuche thematisieren über den französischen Existenzialismus bis hin zu aktuellen Trends wie Unternehmenspurpose und New Work. Einiges war mir schon bekannt, aber die Art und Weise wie er psychologische und soziologische Erkenntnisse einbezieht und die Wechselwirkungen zwischen dem Ich, den Mitmenschen und der Welt in den Mittelpunkt stellt, haben mir gut gefallen. Sogar Ansätze wie eine spielerische Haltung im Leben und die Offenheit für den Zauber der Welt finden in seiner Theorie ihren Platz. 
Dabei geht Christian Uhle tastend, differenzierend und sehr strukturiert vor, so dass man seinen Gedanken gut folgen kann. Nun verstehe ich, warum der Appell, seine Träume zu verwirklichen und authentisch zu leben, auch ins Negative kippen und eine Sinnkrise auslösen kann. Das Buch hat mir viele solcher Aha-Erlebnisse und Denkanstöße beschert und zählt zu meinen Lesehighlights!
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Traumberuf Promi-Reporterin

Da ich schon in einigen Münchner Zeitungsredaktionen gearbeitet habe, interessierte mich besonders das Setting des Romans „Die Reporterin – Zwischen den Zeilen“ von Teresa Simon. Die Geschichte spielt Anfang der 1960er Jahre in München und handelt von Marie Graf, die davon träumt, Gesellschaftsreporterin zu werden. Dabei haben ihre Eltern eine ganz andere Laufbahn für sie vorgesehen, nämlich Pharmazie zu studieren und die familieneigene Apotheke zu übernehmen.
Um ihr Ziel zu erreichen, muss Marie große Opfer bringen, doch sie bleibt hartnäckig, bis sie endlich ihre ersehnte Praktikantenstelle bei der Zeitung „Der Tag“ bekommt. Am Arbeitsplatz erfährt sie sowohl Unterstützung von kompetenten Mentoren als auch Neid und Missgunst durch alt eingesessene überhebliche Reporter. Die gut ausgearbeiteten Charaktere mit ihren teils altmodischen Auffassungen, ihr damaliger Lebensstil und die vielen bekannten Schauplätze wie das Grünwalder Stadion, das Deutsche Theater oder das Hotel Vier Jahreszeiten machen das Geschehen sehr authentisch.
Auch wenn ich selbst die Klatschspalten in Zeitungen meist überspringe, hat es mir großen Spaß gemacht, die Heldin auf glamouröse Events zu begleiten und sie dabei zu beobachten, wie sie mit viel Geschick Stars wie den Kessler Schwestern oder Pierre Brice überraschende Bekenntnisse entlockt. Nach dem Cliffhanger am Ende bin ich gespannt, wie ihre Karriere im zweiten Teil der Romandilogie weitergeht.
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Rückzug und Neuanfang im Zyklus der Natur

Mit dem Verlust eines geliebten Menschen geht jeder anders um. Amande, die Protagonistin des Romans „Apfeltage“, mietet ein abgelegenes Haus in der Auvergne und zieht sich völlig zurück. Es wird zunächst nur häppchenweise enthüllt, was ihr zugestoßen ist und warum sie ihr altes Leben hinter sich lassen will.
Ich habe schon einige Romane über Menschen gelesen, die nach einer schweren Krise wieder allmählich in ihr Leben zurückfinden, doch diese Geschichte hat mich besonders berührt. Ich bin gleich eingetaucht in Amandes neue Umgebung, ihre Gedanken und Erinnerungen. Die Autorin beschreibt mit viel Feingefühl und einem Blick fürs Detail ihre kleinen Fortschritte sowie Rückschläge bei der Trauerbewältigung. Anfangs bringt Amande selbst ein Schmetterling, der in ihr abgeschottetes Haus hinein flattert, völlig durcheinander. Es ist immer wieder ein vorsichtiges Hinauswagen, um zu sehen, wofür sie bereit ist und wofür noch nicht.
Es geht auch um die Kraft, die ihr Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und vor allem die Natur geben. Beides findet Amande dank der Notizen auf Wandkalendern, die von der ehemaligen Besitzerin des Grundstücks stammen. Die Arbeit im verwahrlosten Garten wird dadurch nicht nur zu einer Beschäftigung, die sie vom Schmerz ablenkt, sondern etwas, was ihre Lebensfreude wieder weckt. Dieser warmherzige Roman sensibilisiert für die Schönheit und Vergänglichkeit des Lebens, die Bedeutung von menschlichen Beziehungen und weckt die Vorfreude auf den Frühling.
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Berührende Erzählung mit vielen Zwischentönen

Die Handlung des Romans „Das dritte Licht“ von Claire Keegan lässt sich in wenigen Sätzen erzählen: Ein Vater bringt seine kleine Tochter zu entfernten Verwandten in Wexford, um die schwangere Mutter zu entlasten. Bei dem kinderlosen Ehepaar Kinsella hilft die Kleine im Haushalt und auf der Farm mit und verbringt einen unbeschwerten Sommer.
Was allerdings zwischen den Zeilen zu lesen ist, würde einen Roman mit weitaus mehr als 100 Seiten füllen. Mit Erstaunen nimmt das namenlose Mädchen die neue Umgebung auf. Immer wieder vergleicht es die Pflegemutter mit ihrer eigenen Mutter, ihren Alltag mit dem zu Hause und stellt fest, wie stark sie sich unterscheiden. So bekommt man eine immer genauere Vorstellung, welch entbehrungsreiches Leben das Mädchen gewohnt ist.
Anfangs ist es noch sehr unsicher und überrascht, dass die Kinsellas ihm so viel Aufmerksamkeit, Liebe und Geborgenheit schenken. Wie das Mädchen dann allmählich Vertrauen schöpft und sich an jeder Kleinigkeit erfreut, hat mich sehr berührt. Als Leser ahnt man, dass diese paradiesische Zeit nicht von Dauer sein wird, wünscht jedoch dem Mädchen, dass diese wertvolle Erfahrung auch langfristig eine Bereicherung sein wird und Hoffnung auf ein besseres Leben weckt.
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Skurrile Heldenreise

Zu Beginn des Romans „Die Erfindung der Sprache“ könnte man meinen, es geht um Zahlen und nicht um Sprache, wie der Titel verspricht. Der Protagonist Adam hat eine besondere Beziehung zu der Zahl Sieben, zudem werden alle Jahreszahlen ausgeschrieben, was die Lektüre etwas erschwert.
Jahreszahlen spielen eine wichtige Rolle, denn die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. In der Gegenwart arbeitet der 32-jährige Sprachwissenschaftler mit autistischen Zügen an einer Berliner Universität und meidet soziale Kontakte - bis er eines Tages in einem Buch einen Hinweis auf seinen verschwundenen Vater entdeckt. Gemeinsam mit der Autorin dieses Buchs bricht er zu einer Heldenreise auf, die ihn über Bad Kissingen und Prag bis in die Bretagne führt.
Parallel erfahren wir, wie sich Adams Mutter Oda und Vater Hubert auf der ostfriesischen Insel Platteoog kennenlernen. Wie Adam nicht nur von seinen Eltern und tschechischen Großeltern, sondern buchstäblich von der ganzen Inselgemeinschaft erzogen wird, ist liebenswert erzählt. Beide Handlungsstränge sind jedoch für meinen Geschmack zu langatmig geraten. Dass Anja Baumeister sehr fantasievoll mit der Sprache spielt, gleicht zwar manche Längen aus, doch auch hier wäre etwas weniger mehr gewesen. So war der Roman trotz des vielversprechenden Themas leider nicht ganz mein Fall.
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Komödiantische Gesellschaftskritik

Schon das erste Kapitel gibt einen Vorgeschmack darauf, was uns in dem Roman „Charlotte Löwensköld“ erwartet, der vor 200 Jahren in der schwedischen Provinz Värmland spielt. Eine der zentralen Figuren, die Oberstin Beate Ekenstedt, wird aufs Genaueste charakterisiert: Ihre Erscheinung, ihr Charakter, ihr Ansehen und wer ihr wichtig ist, nämlich ihr Sohn Karl-Artur, der zu ihrem großen Bedauern Theologie studiert und Hilfspfarrer wird. Aus seiner Verlobten, der titelgebenden Charlotte, wurde ich nicht ganz schlau. Dass sie – üblich zu dieser Zeit – von Männern sozial und wirtschaftlich abhängig ist und ihre Existenz sichern muss, ist einleuchtend, doch ihr Charakter schwankt zwischen Selbstbewusstsein und Selbstaufgabe.
Selma Lagerlöf versteht es, uns so nah an die Figuren heranzuführen, dass man sie in einem Moment noch verachtet, im nächsten schon wieder verständnisvoll trösten möchte. Auffällig ist, dass sie ständig damit beschäftigt sind, das Verhalten anderer zu analysieren und Schlüsse daraus zu ziehen – häufig leider die falschen, was zu Missverständnissen und Verwicklungen führt. Eine grandios beschriebene Szene, in der die Hochzeitsgäste von Karl-Arturs Schwester unter seinem Tanzverbot leiden und kaum stillsitzen können, zeigt, wie meisterhaft und humorvoll die Autorin erzählen kann.
Wir werden mit vielen Arten von Liebe konfrontiert: Mutterliebe, selbstaufopfernde Liebe, Nächstenliebe, die Karl-Artur zwar predigt, selbst aber nicht praktiziert. Selma Lagerlöf schreckt nicht davor zurück, seinen scheinheiligen religiösen Übereifer ins Lächerliche zu ziehen. Auch an Intrigen, Verleumdungen und Rivalitäten zwischen Frauen mangelt es nicht. Der Zickenkrieg damals war in keinster Weise weniger grausam als heutzutage! Die im Manesse Verlag erschienene Neuausgabe mit Fadenheftung ist ein wahres Schmuckstück und wird diesem Klassiker bestens gerecht.
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Wie Sonne und Schatten

Wer sich wie ich schon einmal gefragt hat, wie Mary Shelley dazu kam, sich eine Kreatur wie Frankenstein auszudenken, wird in dem Roman “Mary & Claire” einige Antworten finden. Markus Orths erzählt vom Leben der englischen Schriftstellerin, das vom Tod geliebter Menschen geprägt war, angefangen mit ihrer Mutter, die im Kindbett starb, bis hin zu vielen weiteren Schicksalsschlägen.
Wie der Titel verrät, geht es jedoch noch um eine zweite Person: Claire Clairmont ist wild und theatralisch, ganz anders als die melancholische Mary, die viel Zeit auf Friedhöfen verbringt und mit den Toten spricht –  sie sind wie Sonne und Schatten. Doch zwei Dinge haben die Stiefschwestern gemeinsam: die Liebe zum Schreiben und zu dem Dichter Percy Shelley. Dass die starke Bindung und zugleich Rivalität zwischen den beiden – auch aus Percys Perspektive – im Mittelpunkt der Geschichte steht, macht für mich den besonderen Reiz aus. So entflieht das Dreiergespann Mary & Claire & Percy dem konventionellen Leben in London und bricht zu einer Reise nach Paris und Luzern auf, um die freie Liebe zu zelebrieren. Später gesellt sich noch Lord Byron dazu – ein derart egozentrischer und überheblicher Zeitgenosse, dass mir Claires Hingabe schleierhaft blieb.
So wie die Literaturbegeisterten in diesem Roman Verse ihrer Vorbilder in sich aufsaugen, habe auch ich diese Geschichte verschlungen und mich mitreißen lassen von den leidenschaftlichen und rebellischen Protagonisten, ihren freud- und leidvollen Abenteuern und dem erzählerischen Feuerwerk. Die mutigen Schriftstellerinnen Mary & Claire, die ihrer Zeit voraus waren, werden mir noch lange in Erinnerung bleiben.
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Die vielen Gesichter des Rheins

Mit dem Rhein verbinde ich viele Erinnerungen: Spaziergänge auf der Uferpromenade in meiner Heimatstadt Düsseldorf, Schifffahrten nach Königswinter, eine Radtour zum Rheinfall in Schaffhausen … Daher war ich neugierig zu erfahren, wie Franz Hohler einen Abschnitt erlebt hat, den ich noch nicht kenne. Der Schweizer Autor ist in der Zeit von Mai 2020 bis September 2022, als die Coronapandemie noch unseren Alltag prägte, von Schaffhausen bis zur Quelle gewandert und erzählt uns in seinem Buch “Rheinaufwärts” von seinen Erlebnissen und Beobachtungen.
Er ist nicht nur zu Fuß, sondern auch mit Bus und Bahn unterwegs, kehrt in Cafés ein und studiert eingehend heimatkundliche Informationstafeln, die Wissenswertes über die Orte und historischen Ereignisse verraten. Den Rhein beschreibt er wie ein lebendiges Wesen, das gurgelt und plätschert, wie einen Wegbegleiter und guten Freund, der nach jeder längeren Trennung Wiedersehensfreude auslöst, und dem er auch mal sinnbildlich stolz auf die Schulter klopft. Das gefiel mir sehr gut. Die Höhen und Tiefen, die er während seiner Wanderungen erlebt, hätte er ruhig mit etwas mehr Leidenschaft schildern können. So war es für mich eine sehr ausgeglichene Lektüre, bei der ich immerhin die vielen Gesichter des Rheins und seiner Umgebung kennenlernen konnte.
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Singen macht glücklich

Unter den Einschränkungen während der Corona-Pandemie hat eine Gruppe besonders gelitten: Sänger und Sängerinnen. Das weiß ich allzu gut durch meine Mutter, die in zwei Chören singt. Auch die Schriftstellerin Katharina Hagena war vom Singverbot betroffen und musste auf ihre Chorproben verzichten. Statt zu singen, schrieb sie ein Buch über das Thema mit dem Titel "Herzkraft". Darin spannt sie einen weiten Bogen – von der Bedeutung des Singens für sie persönlich über wissenschaftliche und kulturgeschichtliche Aspekte bis hin zur Unterdrückung weiblicher Stimmen bereits in der Antike.
Singen ist für die Autorin wie ein beglückender Höhenflug, solange sie selbst singt – es kann ihr aber auch den Schlaf rauben, zum Beispiel wenn ihr Vater am Sonntagmorgen mit seiner Baritonstimme Kirchenlieder zum Besten gab. Auch ich hatte zufällig musikalische Untermalung während meiner Lektüre: Mein Mann hörte Musik mit Kopfhörern und sang aus voller Kehle „Seasons in the sun“.
Singen und Schreiben hängen für Katharina Hagena eng zusammen – bei beiden müsse man den richtigen Ton treffen, um andere zu berühren. Mal gibt sie augenzwinkernd praktische Tipps, zum Beispiel wie man durch Singen Reiseübelkeit verhindern kann, mal ermutigende Denkanstöße wie diesen: Man könne nicht gleichzeitig singen und Angst haben oder Hass empfinden. Meine Lieblingsstelle im Buch: „Die Stimmbänder sind wie der Mitschnitt deines Lebens“.
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Zwei Mütter und ein Verdacht

Zwei Mütter stehen im Mittelpunkt des Romans „Wir holen alles nach“. Die eine, Sina, ist noch mittendrin in der Erziehung ihres achtjährigen Sohnes Elvis und jongliert täglich zwischen Kind und einem fordernden Job; die andere, Ellen, hat das Thema hinter sich und hat gelegentlich Kontakt mit ihren erwachsenen Söhnen. Da die Rente nicht reicht, hält sich Ellen mit verschiedenen Jobs über Wasser, unter anderem als Nachhilfelehrerin. So kommt es, dass sie eines Tages Elvis für zwei Wochen unter ihre Fittiche nimmt.
Anhand der zwei Frauen beleuchtet Marina Borger die Themen Mutterschaft, Rollenbilder und Erwartungen in einer (Patchwork-)Familie. Ich konnte gut nachfühlen, wie Sina darüber grübelt, warum Elvis nicht ihrem Idealbild eines Sohnes entspricht und ihre Eifersucht auf Ellen wächst. Ellen, die eine immer stärkere Bindung zu Elvis aufbaut und sich dabei an die Kindheit ihrer eigenen Söhne erinnert, war für mich die interessantere Figur. Die Autorin erzählt unaufgeregt, aber eindringlich, wie Menschen sich bemühen, das Richtige zu tun und welches Unheil sie mit ihren gut gemeinten Aktionen anrichten können.
 
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Alleinstehend mit Hamster

Neben “Karôshi”, der Bezeichnung für einen Tod, der meist durch Stress ausgelöst wird, gibt es in Japan auch ein Wort für das Versterben von vereinsamten Personen, das lange Zeit unbemerkt bleibt: “Kodokushi”. Suzu, die Protagonisten des Romans “Oben Erde, unten Himmel” hat tagtäglich damit zu tun, denn sie arbeitet in einer Leichenfundort-Reinigungsfirma, die sich auf solche Fälle spezialisiert hat. 
Die Beschreibung ihrer Arbeit ist alles andere als appetitlich, doch erstaunlicherweise findet die 25-Jährige, die allein mit ihrem Hamster lebt, immer mehr Gefallen daran. Das liegt vor allem am Charakter und der Arbeitsmoral ihres Chefs sowie an den Kollegen, die die Außenseiterin langsam aus der Reserve locken.
Eingebettet in diese ungewöhnliche Story sind kluge Beobachtungen von gesellschaftlichen Phänomenen und Problemen Japans: zum Beispiel dass sich immer mehr Menschen in ihre Privatsphäre zurückziehen, weil sie die Pflege zwischenmenschlicher Kontakte als zu anstrengend empfinden und ja nicht auffallen wollen. Die österreichisch-japanische Autorin verwendet viele japanische Begriffe, so dass ihre Beschreibungen eines Kirschblütenpicknicks, eines Badehauses oder eines Manga Cafés noch authentischer wirken und mich sofort in meine letzten Japanreisen zurückversetzten. 
Ein Beruf, der sich um Einsamkeit und Tod dreht, sorgt dafür, dass Suzu mehr Lebendigkeit und Verbundenheit verspürt - mit dieser Ironie ist Milena Michiko Flašar ein echter Clou gelungen!
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Erkundung eines Breitengrads

Es gibt viele Arten, seine Reiseroute zu planen, doch der Ansatz von Malachy Tallack ist ungewöhnlich. Er erkundete den 60. nördlichen Breitengrad einmal um die Welt, von seiner Heimat Shetland über mehrere Stationen wie Grönland, Alaska, Schweden, Norwegen und wieder zurück und schrieb ein Buch darüber mit dem Titel "60° Nord". 
Da ich mich sehr für den Norden interessiere, bis jetzt aber leider nur Stockholm und Kopenhagen gesehen habe, war ich besonders gespannt auf das Abenteuer des schottischen Autors. Seine atmosphärischen Beschreibungen und poetische Sprache machten es mir leicht, in die verschiedenen Landschaften und Besonderheiten einzutauchen, sei es im quirligen St. Petersburg oder in der sibirischen Ödnis.
An jedem Ort füttert uns Malachy Tallack mit viel Hintergrundwissen, zum Beispiel über die Inuit-Kultur oder die Entstehungsgeschichte Helsinkis. So informativ diese Exkurse auch sind, war ich immer wieder dankbar, wenn er zu seinen unmittelbaren Erlebnissen und Gefühlen zurückkehrte. Erst dieser Wechsel zwischen historischen und geografischen Details und seinen persönlichen Ansichten und Erfahrungen machten das Buch für mich zu einer bereichernden Lektüre. Besonders gut gefielen mir seine Reflexionen und philosophischen Gedanken über Heimat und Wanderschaft, über Isolation und Gemeinschaft. So vermittelt das Buch weitaus mehr als einen Reisebericht entlang des 60. Breitengrads.
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Die Königin der Tretkurbel

Dass Radfahren für Frauen lange Zeit als unschicklich galt, hatte ich erst vor kurzem in „Revolutions“ von Hannah Ross gelesen. Einige ließen sich trotzdem nicht davon abbringen – zum Beispiel Alfonsina Strada, die einzige Frau, die jemals am Giro d’Italia teilgenommen hat. Von ihrer erstaunlichen Laufbahn als Rennradsportlerin erzählt Simona Baldelli in ihrem Roman „Die Rebellion von Alfonsina Strada“. 
Die „Rebellion“ und ihre Leidenschaft für das Radfahren beginnt, als die Zehnjährige, die in ärmlichen Verhältnissen im norditalienischen Dorf Fossamarcia aufwächst, das erste Mal mit einem Fahrrad in Kontakt kommt – und sich das Radfahren auf halsbrecherischen Erkundungstouren gleich selbst beibringt. Dabei hat ihr Vater strengstens verboten, sein Fahrrad auch nur anzufassen, doch seine Tochter findet immer Mittel und Wege, ihren Willen durchzusetzen. Das gilt auch für die Teilnahme an diversen Radrennen, die Männern vorbehalten sind.
Wie tapfer sie sich trotz Beleidigungen, Hohn und Ablehnung schlägt und ihrem Traum nachjagt, hat mir imponiert. Zu gern hätte ich mich an die Rennstrecke gestellt und die "Königin der Tretkurbel" angefeuert! Die Autorin schreibt packend, humorvoll und mit viel Mitgefühl für die Protagonistin. Auf dem Fahrrad fühlt sich Alfonsina so wie sie sein will, stark, draufgängerisch und schnell, doch hinter der Fassade verbirgt sich eine verletzte Seele, die seit ihrer Kindheit keine Liebe und Anerkennung erfahren hat. Dieser mutigen und einzigartigen Heldin hat Simona Baldelli ein wunderbares Denkmal gesetzt. 
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Mehr Welt hereinlassen

Schauplatz des Erfolgsromans „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky ist ein kleiner Ort im Westerwald, wo die Heldin Luise bei ihrer Großmutter Selma aufwächst. Ihre Träume sind für die Dorfbewohner von großem Belang, denn kommt ein Okapi vor, stirbt innerhalb des nächsten Tages jemand von ihnen.
In diesem Buch ist es weniger die Geschichte als vielmehr ganz bestimmte Szenen, die mir in Erinnerung geblieben sind – zum Beispiel wie Luise dem Mönch Frederik gleich bei ihrer ersten Begegnung ihre ganze Lebensgeschichte erzählt und sich in ihn verliebt. Leider beschließt Frederik, in einem Kloster in Japan zu leben, doch als er seinen Besuch ankündigt, bittet Luise Familie und Bekannte ihre Marotten zu verbergen, um ihn nicht zu verschrecken – auch dies eine unvergessliche Episode.
In der Tat haben wir es mit lauter skurrilen, aber warmherzigen Figuren zu tun, die ihre Freuden und Schmerzen teilen und einander helfen. Auch wenn es ein gewisses Risiko mit sich bringt, muss man im Leben "mehr Welt hereinlassen", so die Botschaft. Wie in ihrem Buch „Kummer aller Art“ haben mir auch hier der ganz eigene Sprachstil von Mariana Leky, ihre fantasievollen Wortschöpfungen und Metaphern besonders gefallen.
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Eine Liebesgeschichte in drei Akten

Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Lydia Lopokova und John Maynard Keynes, die Protagonisten des Romans „Feuervogel“, sind allerdings so verschieden, dass man sie sich als Paar nur schwer vorstellen kann. Auslöser der Romanze ist eine Aufführung der Ballets Russes im Londoner Alhambra Theatre, in der die russische Ballerina den Ökonom regelrecht betört. Im Gegensatz zu anderen Liebesgeschichten dreht sich aber diese weniger darum, was in dieser ungleichen Beziehung geschieht, als vielmehr wie sie vom Umfeld gesehen – oder besser gesagt – missbilligt wird. Besonders die Malerin Vanessa, die Schwester von Virginia Woolf, setzt alles daran, das verliebte Paar auseinanderzubringen.
Susan Sellers lässt ein großes Ensemble von historischen Persönlichkeiten, die teilweise der Bloomsbury Group angehörten, auftreten, doch sie schaffen nur den Handlungsrahmen. Sowohl auf der Bühne als auch im Geschehen, das in drei Akten erzählt wird, steht Lydia im Rampenlicht. Der zweite Akt, in der die Primadonna in der Ich-Form von ihrer Kindheit, ihrer Ausbildung in der Kaiserlichen Ballettschule in St. Petersburg und ihren Tourneen erzählt, hat mir ihren Lebensweg und ihr überschwängliches Wesen immerhin etwas näher gebracht. Im Ganzen konnte mich der Roman jedoch nicht so fesseln wie erhofft, obwohl ich mich sowohl für die Ballets Russes als auch die Bohème von Bloomsbury interessiere.
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Hürdenreicher Weg zum Dirigentenpult

Dirigentinnen sind noch heute eine Rarität. Wie schwer muss es erst vor hundert Jahren für Frauen gewesen sein, diese Laufbahn einzuschlagen. Eine Vorstellung davon bekommt man im biografischen Roman „Die Dirigentin“ von Maria Peters.
Antonia Brico arbeitet als Platzanweiserin in einer New Yorker Konzerthalle, lässt jedoch nichts unversucht, um ihren Traum zu verwirklichen: eines Tages ein Orchester zu dirigieren. Allerorts stößt die 24-Jährige auf Ablehnung, Spott und Verachtung, doch sie lässt sich nicht unterkriegen. Ihre Willensstärke und Widerstandskraft haben mich tief beeindruckt. 
Sehr interessant sind auch die Nebenfiguren Frank und Robin, die mit ihrer jeweiligen Backstory den Blick auf die Jazzszene und Klassenunterschiede erweitern. Durch den Wechsel zwischen den drei Innenperspektiven werden die Charaktere noch greifbarer und vor allem deutlich, welche Außenwirkung Antonia Brico hat. Neben dieser starken Persönlichkeit und ihrem harten Kampf in der Männerdomäne habe ich auch Wissenswertes über ihre Vorbilder Willem Mengelberg und Albert Schweitzer erfahren.
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Brodelnde Emotionen in arktischer Wildnis

Das erste Buch, das ich von Eowin Ivey gelesen habe, handelte von einer Expedition nach Alaska. Auch in ihrem Vorgängerroman „The Snow Child“ ("Das Schneemädchen") entführt uns die Autorin in ihre Heimat. Mabel und Jack, ein älteres Paar, zieht in den 1920er Jahren nach Alaska, um ein neues Leben als Farmer aufzubauen. Über den Kummer, dass ihre Ehe kinderlos geblieben ist, kommen sie jedoch auch dort nicht hinweg.
Umso größer ist die Freude, als aus den Wäldern plötzlich ein junges Mädchen regelmäßig bei ihnen erscheint. Es hört auf den Namen Faina, doch dessen Herkunft ist ihnen ein Rätsel. Fainas Wesen und ihr Verhalten haben mich so fasziniert, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte. Doch fast noch mehr bewegt hat mich, wie unterschiedlich Mabel und Jack mit ihrer Anwesenheit umgehen und welche Beziehung sie zu ihr aufbauen. Mal stellt das Mädchen ihre Ehe auf die Probe, mal schweißt es die beiden enger zusammen.
Eowyn Ivey führt uns das harte Farmerleben und die brutale Wildnis Alaskas vor Augen und verzaubert dennoch den Leser durch einen Schuss Magie. Der Kontrast zwischen den brodelnden Emotionen der Figuren und der eisigen Umgebung haben mir intensive winterliche Lesestunden bereitet.
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Erst legen, dann kleben

Neulich hatte ich Euch das Collagen-Buch „Es war einmal ein Stück Papier“ vorgestellt. Auf der Suche nach mehr Inspirationen stieß ich auf „Collagen – it‘s me!“ von Marielle Enders. Darin zeigt uns die selbstständige Grafikerin und Illustratorin, die in Düsseldorf lebt und arbeitet, welche vielfältigen Möglichkeiten uns das Collagenlegen bietet, um unseren eigenen Kreativspielraum zu entdecken. Alles, was wir tun müssen ist, mit Hilfe von kindlicher Neugierde, sinnlicher Wahrnehmung und Intuition unsere schöpferische Quelle anzuzapfen.
Sie erzählt uns etwas über den Ursprung und philosophischen Gedanken der Collage und empfiehlt, uns mit der Stilart, dem Bildaufbau und der Materialkombination von großen Meistern wie Georges Braque, Joan Miró oder Kurt Schwitters auseinanderzusetzen. Sie gibt auch Anregungen, wie wir unsere eigene Kreativität fördern, zum Beispiel indem wir Bekanntes mit Neuem verknüpfen, ungewöhnliche Zusammenhänge suchen und Mut zum Experiment zeigen. Den Entstehungsprozess einer Collage erläutert sie anhand des Vier-Phasen-Modells Preparation – Inkubation – Illumination – Verifikation.
Angesprochen haben mich in diesem Buch vor allem die zahlreichen farbigen Abbildungen ihrer eigenen Collagen, die aus einem Impulsgedanken heraus wie “Reisezeichen”, “Uptown - Downtown”, “Balance-Akt”, “oder “Der Leichtigkeit auf der Spur” entstanden sind. Sie sind so verspielt und zugleich ausdrucksstark, dass ich am liebsten sofort drauf los schnipseln würde. Dazu bräuchte ich allerdings einen viel größeren Bilderfundus. Ihre lange Aufzählung von möglichen Materialien hat mich dabei auf neue Ideen gebracht: Warum nicht mal Produktetiketten, Servietten, Notenhefte, Stoffreste oder getrocknete Blüten in einer Collage verwerten? Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt!
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Eine verlorene Zeit und eine verborgene Geschichte

Über die Goldenen Zwanziger in Berlin habe ich schon einiges gelesen, doch was sich zu der Zeit in San Francisco abspielte, erfuhr ich erst durch den Roman „Was wir sahen, was wir träumten“ von Jasmin Darznik. Ihre persönliche Verbindung zu der Stadt inspirierte sie zu einer Geschichte über das Leben der Bohemiens und ihren Rückzugsort, den sie „Monkey Block“ nannten.
Genau dort landet die 23-jährige Protagonistin Dorothea Lange aus Hoboken, die davon träumt, ein eigenes Fotoatelier zu eröffnen. Das Abenteuer, auf das sie sich einlässt, zog mich sofort in den Bann: ihre Euphorie bei ihrer Ankunft im Jahr 1918, als für sie alles möglich erscheint, ihre Begegnung mit Caroline Lee, die sie in die Künstlerkreise einführt, und ihre ersten Aufträge als Porträtfotografin. Eine Mischung aus Eigeninitiative und glücklicher Fügung helfen ihr, sich eine Existenz aufzubauen.
Doch es geht nicht nur um eine Künstlerin, die wie so viele andere auch ihr Glück in Amerika versuchen. Ins Zentrum rückt immer mehr ihre amerikanisch-chinesische Freundin und Assistentin Caroline, die das Schicksal vieler chinesischer Immigranten verkörpert. Während Dorothea als Gesellschaftsfotografin in der High Society Fuß fasst, leidet ihre Assistentin unter der antiasiatischen Haltung und Diskriminierung. Die Autorin beschreibt sehr authentisch sowohl die Glanz- als auch Schattenseiten dieser Zeit anhand vieler realer Persönlichkeiten und hat mich mit dieser facettenreichen Geschichte begeistert.
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Brutstätte revolutionärer Ideen und Skandale

Bei einer Schriftstellerin wie Andrea Wulf hätte ich gern Schulunterricht gehabt – zum Beispiel in Philosophie, Deutsche Literatur oder Geschichte. Ihr Hörbuch “Fabelhafte Rebellen” dreht sich genau um diese Themen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Die Rede ist von der Frühromantik und dem Jenaer Kreis, zu denen die titelgebenden Rebellen wie Goethe, Schiller, Fichte, Caroline Schelling-Schlegel und Alexander von Humboldt gehörten.
Die Autorin erweckt sowohl die Zeit, den Ort als auch die Protagonisten zum Leben, stellt heraus, warum Jena Ende der 1790er Jahre die ideale Voraussetzung für die Entstehung der Ich-Philosophie bot und ordnet die revolutionären Ideen der deutschen Denker und Dichter in das damalige wissenschaftliche und religiöse Weltbild ein. Ich glaubte, ihnen gegenüber zu sitzen, wenn Goethe und Schiller rege über die Befreiung des Individuums diskutierten oder Schiller und Schlegel sich gegenseitig beschimpften und sich zerstritten.
Ganz gleich, ob es um August Schlegels modische Kleidung, Novalis‘ Todessehnsucht, die Atmosphäre in der Universität Jena oder den von Fichte ausgelösten Atheismusstreit geht – die lebendigen und detailreichen Beschreibungen fließen nahtlos ineinander über und geben ein umfassendes Bild, so dass ich in den über 16 Hörstunden bestens informiert und unterhalten wurde. Dies ist auch dem Sprecher Mark Bremer zu verdanken. Er liest ruhig und kraftvoll in einem angenehmen Tempo, setzt mit stimmlichen Nuancen dramatische Akzente und sorgt für ein perfektes Hörerlebnis.
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Einsam im wilden Marschland

Ich bin froh, dass ich endlich dazu gekommen bin, das Buch „Der Gesang der Flusskrebse” zu lesen, bevor ich mir die Verfilmung ansehe. So hatte ich meine eigenen Bilder vor Augen: von der sechsjährigen Kya Clark, die in einer verkommenen Hütte im Marschland von North Carolina aufwächst, von ihrer Familie verlassen wird und völlig auf sich gestellt ist; von ihrem Alltag in den Sümpfen und den Bootsausflügen mit dem Biologen Tate Walker, der ihr das Lesen beibringt. Verschränkt ist Kyas Lebensgeschichte mit einem zweiten Handlungsstrang, der mit dem Fund einer Leiche beginnt und von den Ermittlungen erzählt. Die Bewohner der nahe gelegenen Küstenstadt Barkley Cove beschuldigen sofort das “Marschmädchen” Kya, was die Spannung bis zum Schluss aufrecht erhält.
Ein Motiv, das sich durch den gesamten Roman zieht, ist Kyas Zerrissenheit zwischen der Sehnsucht nach menschlicher Nähe und ihrer bewussten Isolation aus Angst, erneut verlassen zu werden. Eine umso stärkere Beziehung baut sie zum Marschland auf und alles, was dazu gehört, sei es Pflanzen, Muscheln, Fische oder Seevögel. Wie detailreich und intensiv Delia Owens ihren Alltag in der Wildnis und ihre Entwicklung vom verstörten Mädchen zur unabhängigen Frau, die ihre Berufung findet, beschreibt, zählt für mich zu den besonderen Stärken des Romans.
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Aschenputtel der Sternkunde

Mit Astronomie habe ich mich bisher nur sehr wenig beschäftigt. Gerade deshalb wollte ich mich über das Porträt einer Astronomin dieser mir unbekannten Welt nähern. Dazu bot sich der Roman „Die Symphonie der Sterne“ an. Darin schildert Ruth Kornberger den Lebensweg der Sängerin Caroline Herschel, die ihrem Bruder nach England folgte und sich der Astronomie verschrieb. In einer zweiten Zeitebene, etwa 40 Jahre später, erfahren wir, wie Caroline in ihre Geburtsstadt Hannover zurückkehrt, ihrem Dienstmädchen Agnes Mathematik beibringt und ihre Memoiren schreibt. 
Die wissenschaftliche Arbeit war für Caroline ihr Ein und Alles. Mit welcher Beharrlichkeit sie Nacht für Nacht an der Seite ihres Bruders am Teleskop verbrachte, den Himmel nach Sternen und Nebeln absuchte und Kataloge erstellte, ist bewundernswert. Entdeckte sie einen Kometen, war es jedoch Wilhelm, der den Forschern der renommierten Royal Astronomical Society davon berichtete. Der Weg von einer wissenschaftlichen Assistentin zur vielfach ausgezeichneten Astronomin war lang und mühsam.
Das alles erzählt die Autorin sprachgewandt und einfühlsam, doch manchmal verliert sie sich in Details. Auch im zweiten Handlungsstrang, in dem Agnes einem Geheimnis ihrer Dienstherrin auf der Spur ist, fehlte mir die Stringenz, so dass keine Spannung aufkam. Auch wenn die Romanbiografie meine Erwartungen nicht ganz erfüllt hat, konnte ich interessante Fakten über eine leidenschaftliche Forscherin erfahren, die sich als „Aschenputtel der Sternkunde" sah und sehr lange um Anerkennung kämpfte.
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Buchliebhaber auf Rettungsmission

Der deutsche Titel des Romans „Die Katze, die von Büchern träumte“ von Sosuke Natsukawa ist etwas irreführend. Verträumt ist wenn überhaupt dann der junge Stubenhocker Rintarô Natsuki, der sich am liebsten in das Antiquariat seines Großvaters verkriecht. Als dieser plötzlich stirbt und ihm die Buchhandlung vererbt, versinkt Rintarô in Apathie. Genau zum richtigen Zeitpunkt taucht aus dem Nichts eine freche, sprechende Katze auf und bittet ihn um Hilfe: Rintarô soll gefährdete Bücher retten, daher auch der japanische Originaltitel, wörtlich übersetzt: „Die Geschichte einer Katze, die versucht, Bücher zu beschützen“.
So begleiten wir den jungen Helden samt Katze und einer Klassenkameradin auf mehrere abenteuerliche Rettungsmissionen. Sie führen über verschlungene Wege in dystopische Welten, die nicht nur Rintarô, sondern auch jeden Buchliebhaber schmerzen! So überzogen die Szenarien auch wirken mögen, findet sich überall ein wahrer Kern, der zum Nachdenken anregt. Wer möchte nicht seine Lesegeschwindigkeit steigern, um ein größeres Bücherpensum zu schaffen? Schön an dieser fantasievollen Geschichte fand ich die philosophischen Gedanken über die Bedeutung und die 'Seele' von Büchern und Rintarôs Charakterentwicklung, dem nicht nur die Lebensweisheiten seines Großvaters, sondern auch seine eigenen Erkenntnisse bei der Rettungsaktion helfen.
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Philosophieren leicht gemacht

Bereits im Prolog von „Geschichten, die das Denken herausfordern“ setzt Elke Wiss ihr Thema praktisch um und verpackt ihr Anliegen in eine szenische Darstellung mit einer Schar von Protagonisten. Die Theatermacherin und praktische Philosophin, die in der holländischen Kleinstadt Epe lebt, möchte uns dazu anregen, mit Hilfe von Geschichten unser Denken zu hinterfragen, große Themen aus philosophischer Sicht zu betrachten und bedeutungsvolle Gespräche zu führen. Zunächst erklärt sie, warum, wann und mit welchen Grundwerkzeugen es sich lohnt zu philosophieren. Neu war für mich, dass solch ein Gespräch diszipliniert und strukturiert ablaufen muss und nichts damit zu tun hat, über Gott und die Welt zu reden.
Dann geht’s in die Praxis: In 17 kurzen Erzählungen werden wir mit verschiedenen Themen wie Zeit, Besitz, Wettbewerb, Fehler oder Beziehung konfrontiert. Hier dürfte für jeden je nach Interesse und persönlicher Lebenssituation etwas Passendes dabei sein. Sehr nützlich finde ich die Themenliste am Ende des Buches. Mich haben besonders die Erzählungen über Sprache, das Reisen und den Verlust eines geliebten Menschen angesprochen. Zu jeder Geschichte hat sich Elke Wiss interessante vertiefende Fragen und kreative Aufgaben überlegt, die Denkanstöße und Stoff für philosophische Gespräche liefern.
Ich ertappte mich dabei, dass ich in manchen Erzählungen sofort eine bestimmte Bekannte oder ein Erlebnis vor Augen hatte. Die Schwierigkeit sehe ich besonders in der Versuchung, persönliche Meinungen, Erlebnisse und Anekdoten auszutauschen statt Distanz zu wahren, worauf auch die Autorin hinweist. Im Familien- und Freundeskreis lässt sich dieses Buch sicher gut anwenden, zum Beispiel wenn man herausfinden möchte, was in den Köpfen von Kindern vorgeht oder seinen Blickwinkel mal ändern möchte; in Unternehmen wäre ich eher skeptisch, ob die märchenhaften und teilweise kindlichen Erzählungen funktionieren.
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Geschichten aus Papier

Es war einmal ein Stück Papier“. Das ist nicht der Anfang eines Märchens, sondern der Titel eines Praxisbuchs für alle, die in die Collagenkunst hineinschnuppern wollen. Die New Yorker Künstlerin und Illustratorin Andrea d‘Aquino zeigt darin, was für kuriose, witzige und unvorhergesehene Dinge aus einem Stück Papier entstehen können, indem man es zerschneidet, zerreißt, bemalt und klebt. 
Das Buch ist unterteilt in die Themen Sammeln, Denken und Machen. Zunächst erklärt sie die Grundausstattung sowie einige nützliche Dinge, die man für eine Collage braucht. Wer wie ich viele Andenken wie Eintrittskarten, Papiertüten aufhebt oder schönes Papier sammelt, ist hier eindeutig im Vorteil! Alle anderen können mit den 50 doppelseitig bedruckten Collage-Papieren, die das Buch enthält, loslegen. Anschließend gibt sie Tipps, wie wir Zweifel vor dem leeren Blatt ablegen und Selbstvertrauen gewinnen, auch wenn die ersten Entwürfe völlig chaotisch und sinnlos aussehen. 
Im dritten Teil kann man sich von verschiedenen Kompositionen mit unterschiedlichem Fokus wie weiche und spitze Formen, abstrakte und surreale Motive, Typographie oder Dramatik inspirieren lassen. Papiercollagen erinnern mich vor allem an vergangene Seminarübungen, in denen wir unsere Stärken oder Zukunftswünsche visualisiert haben, und an Mood- und Visionboards, die ich jetzt noch gern entwerfe, allerdings vorwiegend digital. Daher ist dieses Buch für mich eine tolle Entdeckung, um noch mehr Collagetechniken kennenzulernen und mich kreativ auszutoben.
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Balsam für die Seele

Wie ist es möglich, dass mich ein Buch mit dem Titel „Kummer aller Art“ laufend zum Schmunzeln bringt? Es enthält 39 Kurztexte, die Mariana Leky für die Zeitschrift „Psychologie Heute“ geschrieben und für die Buchausgabe überarbeitet hat. Dabei widmet sie sich durchaus ernsten Themen wie Schlaflosigkeit, Konfliktängste, Liebeskummer und Neurosen. Sie geht ihnen aber auf so humorvolle und berührende Art auf den Grund, dass ich das Gefühl hatte, eine gute Freundin weiht mich in ihre Alltagsnöte und Suche nach Lebensweisheiten ein. 
Nicht nur die Erzählerin selbst, auch eine Reihe von Nebenfiguren wie Nachbarn, Verwandte oder flüchtige Zugbekanntschaften werden durch ihr Verhalten bestens charakterisiert. Die durch und durch cremeweiße Praxis ihrer Kusine hatte ich ebenso plastisch vor Augen wie die Ratlosigkeit angesichts eines plötzlich verschwundenen Briefkastens oder die Mahnungen, die von der Decke herunterflattern und der Autorin den Schlaf rauben. Sie blickt mal melancholisch, mal liebevoll auf typisch menschliche Macken und aktuelle Trends wie Entspannungstechniken. Ihre ausgefeilte Sprache und überraschenden Bilder gefielen mir so gut, dass ich mir gleich ihr viel gepriesenes Buch "Was man von hier aus sieht" besorgt habe.
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Der Traum von einer gerechten Gesellschaft

In unserer heutigen Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung und Selbstfürsorge gepriesen werden, wirkt ein Mann wie Ragnar Johansson, Protagonist des Romans „Der gewöhnliche Mensch“, wie aus der Zeit gefallen. Er ist ein Verfechter des schwedischen Wohlfahrtsstaats, über den ich erst in diesem Buch Näheres erfahren habe.
Tragisch ist die Figur deshalb, weil sich der Möbeltischler zu Höherem berufen fühlt, an diesem Anspruch jedoch scheitert und deshalb die Gewöhnlichkeit des Menschen zugunsten dem Gemeinwohl zum Ideal erhebt. Das Bedürfnis, etwas Großes zu schaffen, lebt er mittels seiner Kinder aus, die er zu sportlichen Hochleistungen antreibt.
Wie schon in ihren vorhergehenden Romanen "Unvollkommene Verbindlichkeiten" und "Widerrechtliche Inbesitznahme", die ich verschlungen habe, zeichnet Lena Andersson mit scharfer Beobachtungsgabe und sprachlicher Präzision einen Menschen, der von einer Idee besessen ist und sein ganzes Leben danach ausrichtet. Ragnar stellt sich und seine Familie mit eiserner Disziplin in den Dienst der Gesellschaft und erlaubt sich keinerlei Ablenkungen oder Vergnügungen. Ich fragte mich, wie es seine Frau nur mit ihm aushält und hatte großes Mitleid mit seinen Kindern. Manche Szenen wie die genaue Zeitmessung bei einem Wettkampf zogen sich etwas in die Länge.
Anhand dieser exemplarischen Familie skizziert die Autorin die Ideale des schwedischen Volksheims, das an die Macht des Staates und den technischen Fortschritt glaubte. So bekam ich einen lehrreichen Einblick in den sozialen und politischen Wandel im 20. Jahrhundert in einem Land, das bis heute wegweisende Trends in vielen Bereichen wie ökologischen Wohnungsbau, Design, Musik, Kinder- und Kriminalliteratur gesetzt hat.
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Die Saga von Otto Lagerfeld geht weiter

Obwohl es schon ein halbes Jahr her ist, dass ich den ersten Band der Roman-Dilogie von Heike Koschyk gelesen habe, fand ich mich schnell in Teil 2 „Das Glück unserer Zeit. Das Vermächtnis der Familie Lagerfeld“ hinein. Noch immer schreckt Otto Lagerfeld, Direktor der Glücksklee Milchwerke, vor tollkühnen Ideen nicht zurück und sucht angesichts der steigenden Zollbelastung Investoren für eine eigene Fabrik. Als wenn er nicht schon genug Sorgen hätte, erschweren ihm die Forderungen der amerikanischen Zentrale und die Machtergreifung der Nationalsozialisten zunehmend das Geschäft. Beruflich völlig ausgelastet, lässt er nichts unversucht, seine Familie und Geschwister, die sich in alle Himmelsrichtungen verstreut haben, zusammenzuhalten. 
Manchmal erschien mir Otto schon fast zu ehrbar und makellos – was man von seiner zweiten Ehefrau Elisabeth, die in dieser Geschichte viel Raum einnimmt, keineswegs behaupten kann. Sie verhält sich so egoistisch und undankbar, dass ich sie am liebsten geschüttelt hätte. Andererseits konnte ich ihre Sehnsucht nach einer Karriere in der Modebranche, schöngeistiger Kultur und einem mondänen Leben verstehen. 
Für mich war dieser Roman wieder eine perfekte Mischung aus Biografie, Familien- und Zeitgeschichte. Die Expansion der Glücksklee Milchwerke in Deutschland unter Ottos Führung habe ich ebenso gern verfolgt wie den Alltag seiner so unterschiedlichen Familienmitglieder und die Anfänge seines Sohnes Karl als Modezeichner.
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Vom Prete Rosso zum gefeierten Barockkomponisten

Antonio Vivaldi habe ich bisher nur mit seinem bekanntesten Violinkonzert „Die Vier Jahreszeiten“ in Verbindung gebracht. Dabei war der rothaarige Priester, Komponist und Violinist unglaublich produktiv, wie man in „Vivaldi und seine Töchter“ von Peter Schneider nachlesen kann. Der Antrieb war allerdings nicht nur seine Kreativität, sondern auch der permanente Druck, seine Eltern und Geschwister zu ernähren. 
Die Lektüre macht viel Freude, denn der Autor präsentiert Vivaldis Lebensstationen in lebhaften, stimmungsvollen Szenen, verwoben mit persönlichen Kommentaren und Spekulationen. Mal wohnen wir einer Konzertprobe im Ospedale della Pietà, einem Mädchenwaisenhaus in Venedig, bei, wo Vivaldi als musikalischer Leiter das erste Frauenorchester Europas gründete; mal begleiten wir ihn nach Mantua, wo er als Hofkapellmeister tätig war, später auf seine zahlreichen Konzertreisen mit seiner jungen Schülerin und bevorzugten Sängerin Anna Girò, was die Gerüchteküche brodeln ließ.
Ich habe in dieser Romanbiografie nicht nur viel über Vivaldis Charakter, seine Geschäftstüchtigkeit und seinen Konflikt zwischen dem Priesteramt und dem musikalischen Schaffen erfahren, sondern auch über die Opernszene in Venedig und die Abhängigkeit der Künstler vom Wohlwollen des gnadenlosen Publikums.
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Geliebte, Rebellin und emanzipierte Künstlerin

Für Max Ernst, der in seinem Leben viele Liebschaften pflegte, muss Leonora Carrington eine besondere Frau gewesen sein. Von der kurzen, aber intensiven Beziehung zwischen den beiden handelt der biografische Roman „Die Surrealistin“.
In einem Erzählstrang schildert Michaela Carter, wie sich Leonora im Juni 1937 in Max verliebt und sich durch seine Werke und Künstlerkollegen der surrealistischen Kunst nähert. Sie verkehren regelmäßig in Pariser Künstlerkreisen, bevor sie sich im südfranzösischen Saint-Martin d‘Ardèche voll und ganz der Malerei widmen. In einer zweiten Zeitebene ist Max, der im Zweiten Weltkrieg interniert wurde, auf der Suche nach seiner einstigen Geliebten. Das Wiedersehen in Lissabon gestaltet sich jedoch nicht ganz, wie er es sich vorgestellt hatte. 
Das Schicksal der beiden, in dem auch Peggy Guggenheim eine zentrale Rolle spielt, hat mich sehr bewegt, auch wenn Leonoras Träume und Halluzinationen sowie die Liebesgeschichte sehr viel Raum einnehmen. Gern hätte ich noch mehr darüber erfahren, wie Max Ernst Leonoras Malerei und Schreiben beeinflusst hat. Das Buch macht auf jeden Fall Leonoras Entwicklung von einer abhängigen Frau und Muse zu einer emanzipierten Künstlerin deutlich.
 
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Tödliches Frauennetzwerk im 18. Jahrhundert

Anfangs kann man nur schwer erraten, was die zwei Erzählstränge in „Die versteckte Apotheke“ miteinander zu tun haben. Erst lernen wir Nella kennen, die Ende des 18. Jahrhunderts in einer versteckten Apotheke in London nicht nur Heilmittel, sondern auch tödliche Giftmischungen braut – für verzweifelte Frauen, die ihre gewalttätigen Ehemänner loswerden wollen. In der Gegenwartsebene fühlen wir mit Caroline mit, die von ihrem Mann betrogen wurde und eine gemeinsam geplante Londonreise zum zehnten Hochzeitstag alleine antritt.
Da ahnt sie noch nicht, dass eine Mudlarking-Tour – eine Schatzsuche im Uferschlamm der Themse – ihr Leben entscheidend verändern wird. Die Entdeckung eines kleinen Glasfläschchens lenkt die studierte Historikerin nicht nur ein wenig von ihrem Schmerz ab, sondern weckt auch zunehmend ihre Neugier und den Drang, weiter zu forschen. Erzählerisch perfekt getimed ist ihr Abenteuer mit den Ereignissen, die über die Apothekerin Nella hereinbrechen, als das junge Dienstmädchen Eliza in ihr Leben tritt.
Themen wie Selbstbestimmung, Mutterschaft, Freundschaft und Solidarität verbindet die Frauen trotz ihrer unterschiedlichen Lebensumstände über die Jahrhunderte hinweg, was die Autorin gut zum Ausdruck bringt. Auch wenn mir manches in der Geschichte etwas unrealistisch vorkam, hat sie mich doch bestens unterhalten.
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In jedem Lachen steckt eine kleine Erkenntnis

Lachen ist etwas so Spontanes, dass ich mir bisher wenig Gedanken darüber gemacht habe. Umso erhellender fand ich das Buch „Trotzdem lachen“ von Yves Bossart. Er führt uns auf unterhaltsame Weise zu den Ursprüngen des Humors, erläutert, warum Komik eine spielerische Form der Grenzüberschreitung ist und was uns zum Lachen bringt.
Bisher wusste ich gar nicht, dass es eine Wissenschaft gibt, die sich mit den Auswirkungen des Lachens beschäftigt, genannt „Gelotologie“. Dabei scheinen sich die Humorforscher nicht ganz einig zu sein: Lachen wir über einen Witz, weil wir eine eigene Überlegenheit fühlen oder ist es eine Reaktion auf Widersprüche und Ungereimtheiten? Den Ausdruck „Geistiges Stolpern“ fand ich sehr zutreffend. Der Autor erläutert vier Erklärungsansätze anhand vieler Beispiele, so dass man begreift, was das Lachen auslöst. Sein Verdienst liegt vor allem darin, komplizierte Zitate von Philosophen wie Helmuth Plessner oder Joachim Ritter verständlich zu machen und sich mit viel Feingefühl an das Thema heranzutasten. 
Angesichts der aktuellen politischen Lage könnte uns das Lachen wahrlich vergehen. Die Fallstricke der Sozialen Medien und Diskussionen um Political Correctness fordern außerdem mehr denn je einen sensiblen Umgang mit ethischen Grenzen der Komik. Umso wichtiger finde ich die Botschaft, die Yves Bossard in seinem kleinen, aber feinen Buch vermittelt: dass Humor nicht nur die Kunst ist, mit Ambivalenzen des Lebens umzugehen, sondern auch das Potenzial hat, Aufklärung, Toleranz und Kreativität zu fördern.
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Mit Elke Heidenreich einmal um die Welt

Ihr glücklichen Augen“ – diesem Titel von Elke Heidenreichs Hörbuch kann ich nur zustimmen. Was diese Augen auf zahlreichen Reisen alles gesehen haben! Und wie schön, dass sie ihre Erlebnisse – mal humorvoll, mal melancholisch – mit uns teilt.
Sie lässt sich von keinem Reiseführer oder bestimmten Erwartungen leiten, sehr wohl aber von ihren persönlichen Vorlieben. So erfuhr ich eine ganze Menge über Opernhäuser und Aufführungen zum Beispiel in Oslo, Siena oder Riga und dem Geheimtipp Bologna. Kaum verwunderlich ist, dass sie sich den Orten auch über literarische Werke nähert, sei es von Herodot, Shakespeare oder Flaubert. Besonders auf den Dichter Dylan Thomas und seine Heimatstadt Swansea in Wales hat sie mich neugierig gemacht. 
So unterschiedlich wie die Reiseziele sind auch ihre Emotionen. Auf der Südinsel Neuseelands ist sie überwältigt von der Tierwelt und der Schönheit der Natur, in Sankt Petersburg abgestoßen von der kalten Pracht der Palastfronten, in Shanghai verständnislos gegenüber der Schnelligkeit, Atemlosigkeit und Umweltverschmutzung.
In Städten wie Pesaro und auf Inseln wie Clare Island ist sie aber einfach nur glücklich und dankbar, das Leben genießen und die Verbundenheit mit Menschen und Orten spüren zu können, die die Grenzen von Raum und Zeit überwindet. Für mich war es eine große Freude, ihre Eindrücke, Begegnungen und Abenteuer – von ihr persönlich gelesen – miterleben zu dürfen.
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Auf sechs Arten simpel

Die hochsommerlichen Tage sind leider vorbei und damit auch die Zeit der kalten Küche. Eine gute Gelegenheit, neue Rezepte auszuprobieren und mein Repertoire zu erweitern. Da trifft es sich gut, dass mir meine Schwester ein neues Kochbuch geschenkt hat, zudem noch von meinem geschätzten Autor Yotam Ottolenghi mit dem verlockenden Titel „SIMPLE“. 
Schnell und unkompliziert – so wünsche ich mir die Essenszubereitung. Hinter „Simple“ verbergen sich in diesem Kochbuch jedoch gleich sechs verschiedene Kategorien mit farbigen Symbolen: 1) Schnell fertig, 2) Nicht mehr als 10 Zutaten, 3) Lässt sich vorbereiten, 4) Aus dem Vorrat, 5) Macht sich fast von allein, 6) Einfacher als gedacht.
So ist jedes Rezept mindestens auf eine Art einfach und mit einem oder mehreren zutreffenden Symbolen versehen. Mein Tendenz geht ganz klar zu Nummer 5! Zwei typische „Ottolenghi“-Zutaten aus Palästina habe ich mir bereits zugelegt: Sumach, ein dunkelrotes Pulver, das aus den getrockneten Beeren des Färberbaums gewonnen wird und Za‘atar, eine grüne Gewürzmischung aus getrockneten Blättern des Syrischen Ysops, Sesam, Sumach und Salz. Gewagt habe ich mich als erstes an eine Zucchini-Ciabatta-Frittata, die bei Harry nicht die erhoffte Begeisterung auslöste, mir jedoch sehr gemundet hat. Gerösteter Butternusskürbis mit Linsen und Gorgonzola steht als nächstes auf dem Plan.
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Auf den Spuren wandernder Denkerinnen

Kerri Andrews, selbst passionierte Wanderin, hat sich in "Frauen, die wandern, sind nie allein" auf die Spuren von zehn bedeutenden Denkerinnen aus den letzten drei Jahrhunderten begeben. Für sie war es längst überfällig, sich mit der Geschichte der weiblichen Wanderlust zu beschäftigen, die im Gegensatz zu männlichen Streifzügen bisher kaum Beachtung fand. 
Das kann ich nur bestätigen, denn von den vorgestellten Protagonistinnen kannte ich nur drei. In den Kurzporträts gibt uns die Autorin anhand von Textpassagen aus Tagebüchern und Briefen die Möglichkeit, Wanderinnen wie Elizabeth Carter, Dorothy Wordsworth oder Virginia Woolf auf ihren langen Strecken zu begleiten und in verschiedenste Landschaften, zum Beispiel vom Lake District, von Kent oder Paris, einzutauchen. Sie lässt uns an ihren euphorischen Gefühlen teilhaben und nachempfinden, welche Wechselwirkung das Zufußgehen mit ihrer Befreiung aus gesellschaftlichen Konventionen, mit ihrem Denken, Schreiben und Selbstverständnis hatte. 
Indem Kerri Andrews einige Wege selbst erkundet und ihre Erfahrungen mit uns teilt, bringt sie eine persönliche Note hinein. Ob Flaneuse, Bergwanderin oder Solo-Wildnis-Trekkerin – ich fand es sehr spannend und lehrreich, mit ihnen unterwegs zu sein. So unterschiedlich ihre individuellen Lebensumstände auch waren – die essentielle Bedeutung des Wanderns für sie und Erfahrungen wie ein wachsendes Selbstvertrauen verbinden die Frauen und haben sich über die Jahrhunderte hinweg bis heute gehalten. 
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Der Preis der Perlen

“Nie zuvor hat Eliza ein Land gesehen, das so sehr Blut ähnelte.” So beginnt der Roman “Moonlight und die Tochter des Perlenfischers” und ist bezeichnend für die Geschichte, die in Bannin Bay an der Nordwestküste Australiens spielt. Dort boomt die Perlenfischerei, die Familien wie die Brightwells anlockt und ihnen Reichtümer verspricht, jedoch auch ihren Tribut fordert.
Eines Tages kehrt das Boot von Vater Charles, der sich zum erfolgreichsten Perlenfischer der Küste hochgearbeitet hat, ohne ihn zurück. Tochter Eliza ist überzeugt, dass er noch lebt und macht sich in Begleitung eines deutschen Abenteurers auf die Suche nach ihm. Dass sich diese Handlung mit Charles' Tagebucheinträgen abwechselt, die Eliza bei der Suche einige Anhaltspunkte liefern, fand ich dramaturgisch gelungen.
Spannender als dieser Plot war für mich jedoch der historische Rahmen, den die Journalistin Lizzie Pook detailliert recherchiert hat. Ich erfuhr, welche fatalen Auswirkungen die florierende Perlenmuschelindustrie im 19. Jahrhundert während der britischen Kolonialherrschaft in Australien auf die indigenen Völker hatte. Ihre Ausbeutung und Enteignung, der Sklavenhandel, die Polizeibrutalität sowie die Gefahren, denen sich die Perlentaucher aussetzten, gingen mir sehr nahe. In schöner Prosa bringt uns die Autorin sowohl die Schönheit als auch Unbarmherzigkeit des Landes näher.
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Teufelspakt mit unerwarteten Folgen

Mit einer originellen Neuinterpretation von Goethes Faust haben wir es in dem Roman „Ein Mann mit vielen Talenten“ zu tun. Hauptfigur Langdon Taft, der in einer Sinnkrise steckt und sie gern in Whiskey ertränkt, bekommt unerwartet Besuch von einem elegant gekleideten Fremden namens Dangerfield. Dieser schlägt ihm einen verlockenden Pakt vor, auf den sich Langdon schnell einlässt: Sechs Monate lang bekommt er alles, was sein Herz begehrt, bevor er in der Hölle landet.
Statt sich einen Wunsch nach dem anderen zu erfüllen, nutzt Langdon seine neu gewonnene Gabe jedoch, um anderen Menschen aus der Not zu helfen und in der von boshaften Menschen und Verbrechern bevölkerten Kleinstadt in Vermont ordentlich aufzuräumen. Diese Taten im Wechsel mit pointierten Dialogen über Gut und Böse schildert Castle Freeman sehr unterhaltsam und mit trockenem Humor. Mit der Frage, ob es Langdon gelingt, den Vertrag zu unterlaufen, hält er die Spannung bis zum Schluss aufrecht.
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Fesselnder Klimathriller

Ein unglaublicher Fund bringt die Geschichte „Ein Lied vom Ende der Welt“ von Erica Ferencik ins Rollen. Ein in der Arktis eingefrorenes Mädchen wurde aus dem Eis befreit und hat überlebt. Das Problem: Sie spricht eine unbekannte Sprache, was die Linguistin Valerie Chesterfield auf den Plan ruft. Die Expertin für altnordische Sprachen reist zunächst widerwillig auf die Insel Tarrarmiut vor der Nordwestküste Grönlands – nicht ganz ohne Hintergedanken. Sie erhofft sich, die Wahrheit über ihren Bruder herauszufinden, der in dieser Forschungsstation ums Leben kam. 
Meine Neugier, woher das Mädchen, das auf den Namen Naaja hört, stammt und wie es überleben konnte, trieb mich rasant durch die Geschichte. Valeries Versuche, Naajas Vertrauen zu gewinnen und sich mit ihr zu verständigen, die allmähliche Annäherung und ihr Mitgefühl, obwohl sie selbst genügend Probleme mit sich schleppt, beschreibt die Autorin packend und mit großem Einfühlungsvermögen. Auch die eigenwilligen Forschungskollegen vor Ort und was sie im Leben antreibt, werden glaubhaft dargestellt. 
In bildgewaltiger Sprache entführt uns Erica Ferencik in diesem actionreichen Thriller sowohl in die faszinierende Landschaft der Arktis als auch in die klaustrophobische Atmosphäre und unwirtlichen Lebensbedingungen in einer Forschungsstation.
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Zerrissen zwischen Tradition und Zukunftsträumen

Haie in Zeiten von Erlösern” ist ein Roman, in dem der Schauplatz Hawaii eine genauso tragende Rolle spielt wie die Figuren. In Kalihi, einem Stadtteil von Honolulu, lebt die fünfköpfige Familie Flores und kommt finanziell kaum über die Runden. Rettung erhoffen sie sich von Sohn Nainoa, der offensichtlich über heilende Kräfte verfügt. Die besondere Gabe entpuppt sich jedoch im Laufe der Handlung als Segen und Fluch zugleich.
Der Autor wechselt mehrmals die Erzählperspektive und gibt den Familienmitgliedern eine eigene Stimme und charakteristische Sprache, so dass man die schwierigen Beziehungen untereinander immer besser begreift. Ich konnte mich vor allem in die Geschwister Dean und Kaui hinein fühlen, die darunter leiden, im Schatten des Wunderknaben zu stehen, selbst als sie schon längst die Heimat verlassen haben, um ihre eigenen Wege zu gehen.
Was die tiefe Verwurzelung und die Sehnsucht nach ihrer Heimat mit den drei Kindern macht, erzählt Kawai Strong Washburn in einprägsamen Bildern voller Magie und Demut vor der Umwelt. Es gelingt ihm sehr gut, die Zerrissenheit der Insel zwischen Tradition und Moderne anhand einer exemplarischen Familie zu vermitteln. Die beschriebenen hawaiianischen Mythen und Legenden in Kontrast zum fortschreitenden Raubbau und der Armut haben mir das beliebte Touristenziel aus einem neuen Blickwinkel gezeigt.
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Kulinarisches aus dem Chemielabor

Für Chemie konnte ich mich in der Schule nur wenig begeistern, doch das liegt sicher daran, dass es keine Kochshow wie „Essen um sechs“ gab. Darum dreht sich der Roman „Eine Frage der Chemie“ – oder besser gesagt um den Star der Serie Elizabeth Zott. 
Die begabte Chemikerin und alleinerziehende Mutter will – sehr zum Verdruss des TV-Produzenten – die Essenszubereitung wissenschaftlich erklären, den Wissensdurst bei ihren Zuschauerinnen wecken und sie für eine Welt jenseits von Heim und Herd öffnen. Nachdem ihr die Karriere als Forscherin von ihren männlichen Kollegen verbaut wurde, ist dies die einzige Möglichkeit, ihre Liebe zur Chemie auszuleben und ihre Familie zu ernähren.
Ich musste viel schmunzeln über diese originelle Heldin, die praktische Aufgaben wissenschaftlich anpackt und alles durch die Brille einer Chemikerin erlebt, sogar die Liebe ihres Lebens. Doch gerade diese Identität wird ihr in einer Zeit, in der Wissenschaftlerinnen ausgegrenzt werden, abgesprochen. Darin liegt die Tragik ihrer Geschichte, die die Autorin mit viel Biss und Ironie und aus vielfältigen Perspektiven erzählt. Inmitten vieler emanzipierter Frauenfiguren wird mir die eigensinnige und furchtlose Fernsehköchin noch lange in Erinnerung bleiben.
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Auftakt einer mystischen Familiensaga

Der Roman „Die Glocke im See“ von Lars Mytting hat mich in eine mir völlig fremde Welt katapultiert. Schauplatz ist der abgeschiedene norwegische Ort Butangen im Jahr 1880, in dem die Zeit stehen geblieben ist. Dort steht eine 700 Jahre alte Stabkirche, die das Schicksal dreier Figuren verbindet: Ein neuer Pfarrer möchte die Kirche abreißen und durch ein moderneres, größeres Gotteshaus ersetzen lassen; ein Architekt wird von der Kunstakademie Dresden beauftragt, die Kirche zu vermessen, um den Abriss und Wiederaufbau in Dresden zu überwachen; und eine junge Bauerstochter und Außenseiterin setzt alles daran, die Schwesternglocken der Kirche, die einer ihrer Vorfahren gestiftet hat, zu retten.
So fern mir diese karge und archaische Welt auch erschien, konnte ich die Nöte und Hoffnungen der Figuren gut nachspüren. Ebenso wie der Architekt wurde auch ich immer mehr von der Kirchenbaukunst und der altnordischen Kultur in den Bann gezogen. Mit viel Liebe zum Detail und Poesie beschreibt Lars Mytting, welche Sehnsüchte und Überzeugungen die Protagonisten antreiben und wie fortschrittliche Ideen auf alte Bräuche, Legenden und tief verwurzelten Aberglauben prallen. Der atmosphärisch dichte, historische Liebesroman mit kriminalistischen und mystischen Elementen macht neugierig auf die folgenden Bände der Trilogie.
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Freiheitsliebend und experimentierfreudig

Mit dem Surrealismus habe ich bisher männliche Vertreter wie Salvador Dalí oder Max Ernst assoziiert. Dabei gab es weniger bekannte, aber nicht minder bedeutende Surrealistinnen wie zum Beispiel Meret Oppenheim. Einen Ausschnitt aus ihrem Leben behandelt der biografische Roman „Mademoiselle Oppenheim“.
Mina König legt dabei ihr Augenmerk darauf, wie sich die Deutsch-Schweizerin immer mehr von Konventionen und Abhängigkeiten löste, um sich künstlerisch voll entfalten zu können: Statt an der Kunsthochschule zu studieren, experimentierte sie selbst, inspiriert von ihren Künstlerkollegen wie Alberto Giacometti oder Marcel Duchamp. Sie überwarf sich mit ihren konservativen Eltern und ließ sich auch in ihren Liebesbeziehungen künstlerisch nicht einengen. Ihr Lebensmotto: Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen. Der Autorin gelingt es sehr gut, den Zwiespalt herauszustellen: Einerseits Merets kreative Energie und Schaffensdrang in der Zurückgezogenheit; andererseits der Wunsch nach menschlicher Nähe und ihr Stolz, gemeinsam mit den Surrealisten auszustellen.
Nicht nur Merets Innenwelt, auch die verschiedenen Schauplätze wie ihr kleines Atelier, das Café de Flore – Treffpunkt der Surrealisten – und die Pariser Straßen beschreibt Mina König lebendig und atmosphärisch. Ihr Porträt über die freiheitsliebende Künstlerin ist nicht nur für Kunstliebhaber sehr lesenswert.
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Was uns die Natur lehrt

Jeder von uns hat Dinge, die uns in schwierigen Zeiten Kraft und Trost spenden. Bei Aimee Nezhukumatathil sind es exotische Pflanzen und Tiere, die sie uns in ihrem Buch „Welt der Wunder“ einzeln vorstellt.
Von Catalpas, Tanzfröschen oder Vampirtintenfischen hatte ich bisher noch nie gehört, doch dank der plastischen Beschreibungen und farbigen Illustrationen konnte ich sie mir bildhaft vorstellen. Zärtlich und melancholisch vermittelt sie uns ihre Bewunderung für die außergewöhnlichen Kreaturen, was sie an ihnen schätzt und was sie von ihnen lernen konnte, um sich in einer Welt voller Anfeindungen zu behaupten.
Die vielen Umzüge und Diskriminierung machten der Autorin mit philippinischen und indischen Wurzeln das Leben nicht leicht. Sehr bewegt haben mich ihre Erinnerungen an eine Malaufgabe, in der sie gezwungen wurde, ihre Identität zu verleugnen. Schmerzhafte Erinnerungen dieser Art, aber auch schöne Kindheitserlebnisse verknüpft sie mit biologischem Wissen über Kaktuszaunkönige, Pfauen oder Walhaie. Diese interessante Mischung verpackt in lyrischer Sprache machen ihre Essays zu etwas Besonderem.
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Rückblick auf ein turbulentes Jahrhundertleben

Zwei Pandemien markieren den Anfang und das Ende des Romans „Violeta“ von Isabell Allende: Die Spanische Grippe, die 1920 in Südamerika wütete,  und der Ausbruch der Corona-Pandemie. Dazwischen entfaltet die hundertjährige Ich-Erzählerin Violeta del Valle ihr turbulentes Leben in Briefform, adressiert an ihren Enkel Comito.
Der erste Wendepunkt in ihrem Leben tritt mit dem Tod ihres Vaters ein, der in der Weltwirtschaftskrise seine Familie wegen riskanter Geschäfte in den finanziellen Ruin treibt. Danach folgen viele weitere Schicksalsschläge, toxische Beziehungen und Verluste, die die Autorin mal mit mehr, mal mit weniger Emotionen schildert.
Da die Lebensgeschichte chronologisch und ohne Fokussierung auf bestimmte Ereignisse erzählt wird, wirkte sie auf mich stellenweise wie ein Abriss. Es gibt allerdings ein Thema, das sich wie ein roter Faden durchzieht: Violetas Befreiung aus ihrer Abhängigkeit von den Männern, die ihr Leben dominieren, sei es emotionaler oder finanzieller Art. Anhand vieler Nebenfiguren werden historische Umbrüche eingeflochten. Themen wie Familie, Liebe, die Geschichte Chiles und der Kampf um Frauenrechte haben schon die vergangenen Romane von Isabell Allende bestimmt, doch an sie kommt „Violeta“ nicht ganz heran.
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Nichtstun als politischer Widerstand

Der erste Teil des Buchtitels mag etwas irreführend sein, doch der Zusatz macht es deutlich: In "Nichts tun: die Kunst, sich der Aufmersamkeitsökonomie zu entziehen" ruft Jenny Odell keineswegs zum Nichthandeln auf. Vielmehr stellt sie das permanente Streben nach mehr Produktivität und Selbstoptimierung in Frage und ermuntert uns dazu, innezuhalten und auch „unnützen“ Beschäftigungen nachzugehen.
Überrascht hat mich die Bandbreite der Themenfelder und Beispiele, die von der Vogelbeobachtung bis zur Performance-Kunst, von der antiken Philosophie bis zum Bioregionalismus reichen. Der Autorin geht es dabei darum, uns wieder auf unsere reale Umwelt zurückzubesinnen und sie anders wahrzunehmen und zu erleben als wir es uns im heutigen digitalen Zeitalter angewöhnt haben.
Ihren Appell, unsere Aufmerksamkeit wieder mehr auf den physischen Raum und auf bewusst gewählte, authentische Begegnungen statt auf oberflächliche virtuelle Beziehungen und Likes zu lenken, konnte ich gut nachvollziehen und entspricht auch meinem Wunsch, auch wenn dies durch Corona erschwert wurde. Sprachlich fand ich das Buch nicht so leicht zugänglich. Statt der vielen theoretischen Diskurse hätte ich mir eine noch etwas persönliche Ansprache und praktische Anleitungen gewünscht.
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Anleitungen zum Schreiben und Leben

Bird by Bird“ von Anne Lamott stand schon sehr lange auf meiner Leseliste. Als ich kürzlich ihren TED-Talk „12 truths I learned from life and writing“ sah, war es soweit: Ich bestellte das Buch und las es in einem Rutsch durch. Danach fühlte ich mich so, als hätte ich einen sehr inspirierenden Schreib-Workshop besucht und verstand, warum so oft aus ihrem Buch zitiert wird. 
Es beginnt mit einer sehr persönlichen Geschichte: Anne Lamott erzählt von ihrem Vater, der als Schriftsteller ihr Vorbild und Mentor war. Als er an Krebs erkrankte, schrieb sie einen Roman darüber, wie ihre Familie mit der Situation umging.
Neben ihren persönlichen Schreiberfahrungen vermittelt sie konkrete Tipps, wie man mentale Blockaden überwinden kann, zum Beispiel indem man mit kleinen Häppchen wie Szenenbeschreibungen anfängt. Den Vergleich mit Polaroids fand ich sehr treffend: Erst beim Schreiben kommen nach und nach Details zum Vorschein, die man vorher nicht auf dem Radar hatte und die die Geschichte in eine interessante Richtung lenken können. Statt nach Perfektion zu streben, ermuntert sie uns, „Shitty drafts“ zu schreiben, die man später überarbeiten kann. 
Im Mittelteil gibt sie handwerkliche Tipps zu Figuren, Dialogen, Handlung. Am besten hat mir jedoch gefallen, wie offen sie von ihren eigenen schriftstellerischen Erfahrungen berichtet und Manuskripte immer wieder umschrieb. Wer glaubt, dass die langersehnte Veröffentlichung seines Romans zur Glückseligkeit führt, wird hier eines Besseren belehrt. Weitaus glücklicher können sich jene schätzen, die aus reiner Freude am Schreiben schreiben.
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Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg

Was bewegt eine Rennfahrerin und Industriellentochter dazu, mit dem Auto die Welt zu umrunden? Im Fall von Clärenore Stinnes war es die gefühlskalte Mutter, der sie zeigen wollte, wozu Frauen imstande sind.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, und das ist bei Clärenore wörtlich zu nehmen. Welche Hindernisse sie und ihre Begleiter auf der Strecke von Frankfurt über zahlreiche Stationen wie Wien, Konstantinopel, Damaskus, die Wüste Gobi, Moskau, Peking, San Francisco und Lima bis nach Berlin überwinden mussten, erleben wir in „Fräulein Stinnes und die Reise um die Welt“ hautnah mit.
Mit überzeugenden Charakteren und vielen interessanten Details entfaltet Lina Jansen die waghalsige, teils lebensgefährliche Reise vor unseren Augen. Mit an Bord sind ein Hund, ein Fotograf sowie zwei Mechaniker, die ständig die Expedition in Frage stellen und Clärenores Autorität untergraben. Diese lässt sich jedoch weder von Räuberbanden und Wölfen noch von Eis, Hitze und Schlamm abschrecken. Lediglich ihr Verantwortungsgefühl für die Crew und ihre Gefühle für den verheirateten Fotografen bringen sie in Gewissenskonflikte.
Diese spannende Romanbiografie, die uns in atemberaubende Landschaften und fremde Kulturen und Bräuche entführt, war für mich ein großartiges Leseabenteuer.
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Die Reise ist das Ziel

„Die Reise ist das Ziel“ ist ein bekannter Spruch, der besonders auf den Roman „Bergers unverhoffte Reise“ von Hans Walker zutrifft. Schauplatz ist ein Schiff, das neben der Fracht acht Passagiere von Hamburg über Singapur nach Medan befördert. Einer von ihnen ist der 22-jährige Student Max Berger, der für ein Jahr die Kinder Alex und Lotte als Hauslehrer in Indonesien unterrichten wird. Seine Arbeit beginnt bereits an Bord, wo er zwar gewissenhaft seiner Arbeit nachgeht, von seinen weiblichen Mitreisenden jedoch in verschiedener Hinsicht abgelenkt wird.
Da wäre zunächst die hübsche Mutter der Kinder Anna Stoll, zu der er sich hingezogen fühlt. Als ob dies nicht kompliziert genug wäre, lernt er auf dem Schiff eine attraktive Gräfin kennen, die seine Gefühle ebenfalls ins Wanken bringt. Nach und nach erfahren wir auch mehr über die anderen Passagiere, die sich während der vierwöchigen Reise täglich am Kapitänstisch zum gemeinsamen Essen treffen, und ihre Ehe-, Familien- oder Schaffenskrisen. 
Für mich begann die Geschichte sehr vielversprechend, doch die aufkommenden Konflikte zwischen den Figuren wurden während der vierwöchigen Seereise nicht so vertieft, wie ich es erhofft hatte. Ich hatte den Eindruck, sie drehen sich im Kreis und ließen Dynamik und Dramatik vermissen, die der interessante Stoff sicher hergegeben hätte.
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Von einer kleinen Nähwerkstatt zur Weltfirma

An mein erstes Steiff-Tier, einen großen Collie, kann ich mich noch gut erinnern. Welch bewundernswerte Frau hinter dieser berühmten Marke steckt, konnte ich dank der Biografie „Fräulein Steiff“ von Maren Gottschalk erfahren. Die Handlung setzt zu dem bedeutenden Zeitpunkt ein, als aus einem Nadelkissen in Elefantenform die Idee zu einem Kinderspielzeug reift. In einer zweiten Ebene schildert die Autorin, wie Margarete Steiff in Giengen aufwächst, Schneiderin wird und ein Filzgeschäft eröffnet.
Das Porträt liest sich wie ein Kaleidoskop, das nicht nur die Meilensteine ihrer beruflichen Karriere, sondern auch ihren Charakter in all seinen Facetten auffächert. Obwohl sie auf Grund einer Kinderlähmung nicht laufen kann, ist Zurückhaltung ein Fremdwort für sie. Als Kind ist sie vorlaut, will überall mitmischen und nutzt jede Gelegenheit, dem einengenden Elternhaus zu entfliehen. Als Unternehmerin stellt sie höchste Ansprüche an die Qualität, wägt klug Risiken ab und ist streng zu ihrem Personal, aber auch mitfühlend und nahbar.
Maren Gottschalk beschreibt mit viel Feingefühl, in welchen Situationen Margarete Steiff besonders unter ihrer Behinderung litt, sich jedoch davon nicht abhalten ließ, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihrer Berufung zu folgen. Sehr spannend ist auch zu lesen, welche wichtige Rolle ihr Bruder, ihre Neffen und Nichten bei der Firmengründung und Expansion spielten. Nach dieser wunderbaren Lektüre hätte ich große Lust, das Steiff-Museum in Giengen zu besuchen und mir ihr umfangreiches Schaffenswerk anzusehen.
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Auf den Spuren ihrer Nachtfrauen

Ich beneide Mia Kankimäki. Statt nachts im Bett Probleme zu wälzen, denkt sie an außergewöhnliche Frauen und ihre Pioniertaten. Welche genau, verrät sie in ihrem Buch „Frauen, an die ich nachts denke“.
Eine von ihnen ist Karen Blixen, deren Spuren sie bis nach Nairobi gefolgt ist. Während ihrer Reise und Recherchen kommt die Autorin mehrmals in die Lage, ihr bisheriges Bild ihrer „Heldin“ zu hinterfragen. Dieser selbstkritische Blick macht sie sympathisch. Auch bei Forschungsreisenden wie Ida Pfeiffer oder Mary Kingsley schwingen sowohl große Bewunderung für deren  Mut und Willensstärke als auch Unverständnis dafür, dass sie nach der Rückkehr wieder in ihre alten Rollenmuster zurückfielen, mit.
Während ich über diese Pionierinnen schon Manches gelesen habe, brachte mir Mia Kankimäki auf ihrer Reise nach Florenz drei mir noch völlig unbekannte, sehr erfolgreiche Malerinnen der Renaissance nahe.
Wie die Autorin mit all den Frauen in Dialog tritt, Parallelen und Unterschiede zu ihrem eigenen Leben oder der heutigen Zeit herausstellt und Inspirationen und praktische Ratschläge für sich und die Leser auflistet, hat mir wie schon in ihrem Vorgängerroman "Dinge, die das Herz höher schlagen lassen" besonders gut gefallen. Ich bin sowohl den Spuren ihrer Nachtfrauen als auch ihren eigenen Entdeckungsreisen und Gedanken sehr gern gefolgt.
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Etappen der weiblichen Fahrradbewegung

Radfahren liegt mehr denn je im Trend, und entsprechend steigt die Zahl der Bücher über die Geschichte des Radsports. Warum aber spielen Frauen oft eine untergeordnete Rolle, fragte sich Hannah Ross und setzte mit ihrem Buch „Revolutions – Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten“ einen neuen Fokus. Immerhin wird das Fahrrad in Frankreich umgangssprachlich „La Petite Reine“ – die kleine Königin – genannt. Doch was war? Radeln galt für Frauen lange Zeit (in manchen Ländern heute noch) als unschicklich. Wer es dennoch wagte, wurde beschimpft oder gar mit Steinen beworfen. Unfassbar! 
Viele ließen sich das neue Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit trotzdem nicht nehmen und nutzten das Zweirad als Mittel politischen Widerstands. In einer Zeitspanne von etwa 150 Jahren begleiten wir in diesem Buch Radfahrerinnen unterschiedlichster Art: aristokratische Damen, die im Park ihre Runden drehten, niederländische Widerstandskämpferinnen, berühmte Persönlichkeiten wie Simone de Beauvoir oder Marie Curie auf ihren Radreisen und mutige Langstreckenradlerinnen, die die Welt umrundeten.
Die Freuden, Qualen und den Kampfgeist der strampelnden Frauen beschreibt Hannah Ross voller Anteilnahme und so lebendig, als säße sie auf dem Gepäckträger. Ein sehr informatives und beeindruckendes Buch über die Etappen der weiblichen Fahrradbewegung.
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Tragikomisches Kammerspiel auf dem Lande

Der Roman „Landpartie“ von Gary Shteyngart spielt in einer Zeit, an die man sich nicht so gern erinnert. Es ist März 2020, und der Protagonist Sasha Senderovsky, ein russischstämmiger Schriftsteller, hat ein multikulturelles Ensemble aus Freunden und Bekannten in seine Bungalowkolonie außerhalb von New York eingeladen, um dem Coronavirus zu entfliehen.
Einige von ihnen sind nur aus einem Grund der Einladung gefolgt: Sie wollen einen angekündigten Hollywoodstar treffen. Man verbringt die Zeit mit hochtrabenden Gesprächen, Spaziergängen und kulinarischen Genüssen. Abgesehen von neuen Freund- und Liebschaften, nicht überwundenen Kränkungen und hysterischen Ausfällen passiert wenig, weshalb ich die Lektüre in weiten Teilen als zäh empfand. Umso mehr aktuelle Themen wie Diversität, die Macht der Algorithmen und sozialen Medien hat der Autor hineingepackt. 
Wie schon in seinem Vorgängerroman "Willkommen in Lake Success" haben mich sein satirischer Humor und Sprachwitz sehr unterhalten. Fantasiereiche Bilder wie "Sie rieb sich schon seit zwei Tagen das Auge. Es war, als hätte sich unter ihrem unteren Augenlid ein kleines Insekt häuslich eingerichtet und ließe sich nicht zwangsräumen", sind ganz typisch für ihn. Die abstrusen Verwicklungen werden in dieser Geschichte aber so sehr auf die Spitze getrieben, dass ich mich zum Schluss mit einer gewissen Erleichterung von der verrückten Truppe verabschiedet habe. 
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Bühne frei für drei Frauenschicksale

In dem Roman „Die Feuer“ von Claire Thomas ist die Form fast interessanter als der Inhalt. Die Leser sehen sich in einem Melbourner Theater das Stück „Happy Days“ von Samuel Beckett durch die Augen dreier Frauen an und bekommen gleichzeitig Einblick in ihre Lebensläufe.
Dass ihre Gedanken so weit ausschweifen, spricht nicht unbedingt für das Stück, andererseits ist es handlungsarm und dreht sich um existenzielle Fragen, so dass es förmlich dazu einlädt. Bei der Literaturprofessorin Margot sind es destruktive Gedanken über ihre gescheiterte Ehe mit ihrem dementen, gewalttätigen Ehemann. Die junge Mutter Ivy zieht Parallelen zwischen der Kindererziehung und Becketts Existenzthema. Bei der Schauspielschülerin und Platzanweiserin Summer drehen sich die Sorgen um den Klimawandel im Allgemeinen und um ihre Geliebte im Speziellen, die sich in den Bergen aufhält, wo die Buschfeuer wüten.
Bei dieser Fülle persönlicher und brisanter Themen können manche nur gestreift werden. Der geschickte Übergang vom Bühnengeschehen zu bestimmten Ausschnitten aus ihrer Vergangenheit und die Inszenierung der Pause zählen zu den stärksten Momenten des Romans. Die Innenschau der drei Frauen könnte ihrerseits so manchen Leser während der Lektüre zu Reflexionen über das eigene Leben anregen.
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Ein Schlüsseljahr der modernen Literatur

1922. Wunderjahr der Worte“ hat mich an ein Buch von Florian Illies erinnert. Diesmal wird jedoch nicht das Jahr 1913, sondern 1922 porträtiert. Der Untertitel macht neugierig. Warum ist es für Norbert Hummelt ein „Wunderjahr der Worte“?
Die Frage beantwortet er uns in zahlreichen Geschichten und Anekdoten, die vor allem um die Entstehung der zwei Werke „Ulysses“ von James Joyce und „The Waste Land" von T.S. Eliot kreisen, aber auch um den Schaffensrausch und Schaffenskrisen weiterer Literaten wie Rainer Maria Rilke, Virginia Woolf, Ezra Pound oder Katherine Mansfield. 
Die Lektüre ist sehr kontrastreich: Alltagsrituale, körperliche Leiden, zufällige Begegnungen und Rivalitäten zwischen den Schriftstellern wechseln sich ab mit einschneidenden politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Schlaglichtern. Eine ungewöhnliche Teemischung, die sich Rilke aufgießt, findet ebenso Erwähnung wie eine Vortragsreihe von Albert Einstein im Fernen Osten.
Bei den vielen Sprüngen und Ortswechseln kann einem schon ein wenig schwindlig werden. Zum Glück lockert Norbert Hummelt mit seinem Humor und Plauderton die Informationsfülle auf und machte mir begreiflich, warum 1922 ein Schlüsseljahr der modernen Literatur war.
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Eine lebenslange Lese- und Liebesgeschichte

Wenn ich einen Blick in meinen Bücherregal werfe, sehe ich größtenteils Bücher von Frauen, darunter viele Biografien, in denen das Lesen und Schreiben eine zentrale Rolle spielt. Nun gesellt sich ein weiteres dazu: In „Hier geht‘s lang!“ erzählt Elke Heidenreich, welche Bücher von Frauen sie geprägt, gerettet und ihren „Welt- und Gedankenhunger gestillt“ haben. 
Sie nimmt uns mit auf eine reich bebilderte Lesereise durch höchst gegensätzliche Welten. Während ihr in ihrer schweren und unglücklichen Kindheit Mädchen- und Backfischromane trotz des unmöglichen Frauenbildes Trost spendeten, tat sich in ihrer Studienzeit mit Schriftstellerinnen wie Simone de Beauvoir, Susan Sontag und Virginia Woolf eine völlig andere Welt auf.
Interessant fand ich, welchen starken Eindruck Figuren wie Nils Holgersson, Märchen und deutsche Heldensagen bei ihr hinterließen. Als Vielleserin fühle ich gern nicht nur eine Verbundenheit mit Romanfiguren und Autoren, sondern auch mit anderen Lesern, vergleiche ihre Reaktionen und Empfindungen mit meinen eigenen. 
„Wir suchen in jedem Buch uns selbst, eine Deutung unseres eigenen Lebens.“ schreibt sie an einer Stelle. Wie wahr! Wäre ich nicht schon längst eine Büchernärrin, hätte Elke Heidenreich mich spätestens jetzt mit ihrer Begeisterung für das Lesen angesteckt.
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Reise zur Geburtsstunde des Radios

Geschichten, die in den 1920er Jahren spielen, haben mit ihrer Aufbruchs- und Pionierstimmung auf mich eine besondere Anziehungskraft. In „Die Radioschwestern“ gilt die Begeisterung dem Radio, das 1927 in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckte. 
Die drei Protagonistinnen wollen sich das Medium auf unterschiedliche Weise zunutze machen, um ihre hochfliegenden Träume zu verwirklichen: Gesa als Hörspielsprecherin, Margot als Cellistin im Rundfunkorchester und Inge als Solosängerin. Ihr beruflicher Alltag beim Südwestdeutschen Rundfunkdienst und die vielen Stolpersteine, die ihnen einige Männer in den Weg legen, zeigten mir zur Abwechslung einmal nicht die Partyszene und den Glamour der Goldenen Zwanziger, sondern drei junge Frauen, die sich mit knappem Einkommen ein unabhängiges Leben in einer Großstadt aufbauen wollen. 
Als interessanten Ausgleich empfand ich, dass die Geschichte auch aus einer männlichen Perspektive erzählt wird: Der Intendant Albert Bronnen sprüht nur so vor innovativen Ideen für den Sender und lässt sich von Befindlichkeiten schwieriger Mitarbeiter nicht beirren. Kein Wunder, dass die Figuren so authentisch wirken: Im sehr informativen Glossar erläutert die Autorin, welche realen Personen hinter ihnen stecken.
Eva Wagendorfer lässt in ihrem rundum geglückten Roman fortschrittliche Visionen auf traditionelle Rollenbilder prallen, gibt Einblick in Hörspielaufnahmen und Außenreportagen und vermittelt viel Zeit- und Lokalkolorit aus dem damaligen Frankfurt.
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Nature Writing vom Feinsten

Immer mehr Jugendliche sorgen sich um die Zukunft unseres Planeten, beschäftigen sich intensiv mit dem Klimawandel und setzen sich für den Arten- und Umweltschutz ein. Einer von ihnen ist Dara McAnulty aus Nordirland.
In „Tagebuch eines jungen Naturforschers“ hält er seine Naturbeobachtungen, seine Gefühle und Erlebnisse fest. Die Wildnis ist für ihn ein Zufluchtsort, denn als Autist tut er sich schwer im Umgang mit Menschen und wird in der Schule gemobbt. Umso stärker ist die emotionale Verbindung zu seinen beiden Geschwistern und Eltern, mit denen er auf gemeinsamen Ausflügen und Erkundungstouren in der Natur die schönsten Momente erlebt.
Es spricht so viel Klugheit, Sensibilität und Verantwortungsbewusstsein aus den Texten, dass ich kaum glauben konnte, dass sie aus der Feder eines 14-Jährigen stammen. Sehr offen beschreibt er, wie ihn ganz plötzlich ein Gefühl der Unsicherheit und Ohnmacht übermannt und wie ihm seine Familie und die Natur helfen, sich wieder zu erden. Besonders jetzt, wo wir wieder viel Zeit im Freien verbringen können, habe ich seine poetischen Beschreibungen von zahlreichen Vogel- und Pflanzenarten genossen. Das ist Nature Writing vom Feinsten. 
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Erhellende Einblicke in eine Krimiwerkstatt

„Gott schütze dieses Haus“ war das erste Buch, das ich von Elizabeth George gelesen habe. Mittlerweile ist bereits ihr 21. Inspektor-Lynley-Roman erschienen. Dass die Krimiautorin lange Jahre Kreatives Schreiben unterrichtete, war mir neu. In ihrem jüngsten Buch „Meisterklasse“ verrät sie, wie sie ihren eigenen Schreibprozess entwickelte.
Die Zutaten eines guten Romans wie genaue Ortsbeschreibungen, mehrdimensionale Figuren oder Wendepunkte kennt man auch aus anderen Schreibratgebern. Statt verschiedene Beispiele zu zitieren, beschränkt sich Elizabeth George jedoch auf einen einzigen Roman, um uns das Handwerkszeug zu vermitteln. Jedes Thema erläutert sie anhand von Textpassagen aus ihrem eigenen Krimi „Doch die Sünde ist scharlachrot“, die für meinen Geschmack zu lang geraten sind.
Am besten gefiel mir der Abschnitt über die Recherche vor Ort. Ich hatte das Gefühl, selbst dabei zu sein, als sie die Klippen von Cornwall erkundete, auf der Suche nach dem idealen Tatort, und die Stimmung und Witterung auf sich wirken ließ. Sie beschreibt anschaulich, wie sie sich von interessanten Entdeckungen und Gesprächen mit einheimischen Surfern und Klippenkletterern zu Romanfiguren und Handlungselementen inspirieren ließ.
Auch die Kapitel über Dialoge und Szenenaufbau zeigen, wie strukturiert Elizabeth George vorgeht, um eine schlüssige Geschichte zu liefern und sich dabei noch genügend Spielraum für plötzliche Eingebungen und Wendungen während des Schreibens gibt. Viele Fotos, Charakteranalysen und Übungsaufgaben liefern angehenden Schriftstellern eine nützliche Hilfestellung und Krimifans einen tiefen Einblick in die Werkstatt einer Crime Lady.
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Hinter den Kulissen des Oxford English Dictionary

Ich kann mich noch genau erinnern, wie er aussah: der Oxford Advanced Learner’s Dictionary – das Standardwerk für jeden Englischschüler im analogen Zeitalter. Die australische Schriftstellerin Pip Williams interessierte sich nicht nur für seine Entstehungsgeschichte zwischen 1886 und 1928, sondern vor allem welche Rolle die Frauen dabei spielten und verarbeitete den Stoff in ihrem Roman „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Esme Nicoll, der Tochter eines wissenschaftlichen Mitarbeiters, die die mühsame Erstellung des Lexikons im von Männern dominierten Skriptorium hautnah mitbekommt. Sie arbeitet sich im wahrsten Sinne des Wortes hoch: als Kind sammelt sie unter dem Arbeitstisch aussortierte Wörter; mit der Zeit darf sie immer mehr Verantwortung übernehmen, sortiert Belegzettel und überprüft die Bedeutung von Wörtern in der Bodleian Library.
Die Vorgehensweise der Lexikographen allein ist schon für einen Sprachliebhaber wie mich unheimlich interessant, doch der besondere Reiz des Buches liegt in den vielfältigen Frauenfiguren, die Esmes Weg kreuzen. Die Alltagssprache einer Marktfrau, einer Schauspielerin und Suffragette oder des Dienstpersonals schaffen es nicht ins Wörterbuch, weil sie nicht vornehm genug oder nirgendwo niedergeschrieben sind - zu Unrecht findet Esme und unternimmt etwas dagegen.
Pip Williams hat in einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fiktion eine warmherzige Hommage an die Frauen dieser Zeit verfasst: sowohl an die weiblichen Mitarbeiterinnen des Wörterbuchs, die einen wichtigen Beitrag leisteten, als auch an die Frauenrechtlerinnen, die für das Frauenwahlrecht kämpften.
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Apokalypse oder Neuanfang?

Die Länge des Romans „Der Morgenstern“ (knapp 900 Seiten) hat mich kaum überrascht, ist Karl Ove Knausgård doch vor allem durch sein umfangreiches autobiografisches Projekt bekannt geworden. Diesmal steht jedoch nicht er selbst oder seine Familie im Mittelpunkt, sondern neun fiktive Ich-Erzähler, die in der norwegischen Küstenstadt Bergen leben. 
Diese könnten unterschiedlicher nicht sein: eine Pastorin, ein Journalist, eine Krankenschwester … Mühelos wechselt der Autor zwischen den Figuren, gibt jedem einzelnen so klare Konturen und eine eigene Stimme, dass ihre Geschichten einen eigenen Roman füllen würden. Doch Knausgård hat sie alle in ein Buch gepackt, und man fragt sich warum. Eine Gemeinsamkeit haben sie immerhin: Sie beobachten unheimliche Naturphänomene und erleben unerklärliche Dinge, die mir so manches Mal einen Schauer über den Rücken jagten. Einiges erinnerte mich an seine Essaysammlung "Im Winter", in der es auch um das Unbegreifliche des Daseins ging.
Zum Ende hin verdichten sich die Gedanken über die großen existenziellen Themen wie Freiheit, Religion und ein Leben nach dem Tod, die mir viel Konzentration abverlangten. Die Mühe hat sich jedoch gelohnt, auch wenn die einzelnen Geschichten viele Fragen offen ließen. Der Autor beschreibt in dieser Dystopie sehr eindringlich, auf was für eine Welt wir zusteuern, wenn wir aktuelle Krisen ignorieren und immer weitermachen wie bisher.
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Nominierter Autor gesucht

Für Violaine Lepage, Heldin des Romans „Eine verdächtig wahre Geschichte“, läuft so einiges aus dem Ruder. Nur knapp hat sie einen Flugzeugabsturz überlebt. Als sie aus dem Koma erwacht, stellt sie fest, dass der Autor eines Romans, der unter ihrer Federführung veröffentlicht und für den Prix Goncourt nominiert wurde, unauffindbar ist. Wie soll ohne Autor die Preisvergabe stattfinden? Und das sind nicht die einzigen mysteriösen Fälle. Es geschehen Morde genau wie in diesem Roman beschrieben, was die Kommissarin von Rouen auf den Plan ruft.
Augenzwinkernd nimmt Antoine Laurain die Literaturszene aufs Korn und beschreibt mit sprühendem Witz beide Seiten: sowohl die der hoffnungslosen Schreiberlinge, die auf eine positive Rückmeldung hoffen, als auch die der Lektoren, die in der Flut von Einsendungen den potenziellen Bestseller suchen. Ich habe schon viele Bücher über die Verlagswelt gelesen, doch keines gleicht dieser originellen Geschichte, in der ein Roman scheinbar ein Eigenleben entwickelt und die überraschende Auflösung weit in die Vergangenheit der Figuren zurückführt.
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Bekenntnisse einer überzeugten Wiederholungsleserin

Im Prolog ihres Buches „Offene Fragen“ spricht mir Vivian Gornick aus der Seele. Sie fühlt sich so, als sei sie „lesend auf die Welt gekommen“ und sieht in Büchern unverzichtbare Lebensbegleiter. Die Romane, die sie nachhaltig geprägt haben, decken sich allerdings nicht mit meinen; zugegebenermaßen habe ich viele von den genannten Titeln noch nicht gelesen wie „La Vagabonde“ von Colette oder „In der Hitze des Tages“von Elizabeth Bowen und werde dies sicher nachholen.
Die feministische Schriftstellerin, die sich durch Essays für die New York Times, Village Voice etc. und zahlreiche Sachbücher einen Namen gemacht hat, legt uns vor allem ans Herz, Bücher mehrmals zu lesen und verrät auch warum. So hat sie sich bei der Lektüre von „Söhne und Liebhaber“ von D.H. Lawrence je nach ihrer Lebensphase jedes Mal mit einer anderen Figur identifiziert. Durch ihre Betrachtungen von bestimmten Charakteren und ihrem Verhalten im gesellschaftlichen Kontext bringt sie uns ihre eigenen Gefühle, Selbsterkenntnisse und wie sich diese mit der Zeit gewandelt haben näher.
Manche Charakterstudien waren mir etwas zu detailliert, die Zitate aus Romanen zu zahlreich. Ihre komplexe Sprache brachte auch meinen Lesefluss öfters ins Stocken. Trotzdem war es eine interessante Erfahrung, eine bedeutende Essayistin, die ich noch nicht kannte, und den Zeitgeist anhand ihrer literarischen Abenteuer und Vorbilder kennenzulernen.
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Zwei Lebensgeschichten in Bildern

In manchen Büchern haben schon die ersten Sätze eine Sogwirkung. So ging es mir mit „Die hundert Jahre von Lenni und Margot“, in dem die 17-jährige Ich-Erzählerin feststellt, dass „terminal“ für sie nichts mehr mit Flughäfen zu tun hat, sondern Endstation bedeutet. Was könnte das Leben der todkranken 17-Jährigen in der verbleibenden Zeit in einem Glasgower Krankenhaus noch bereichern? Es sind Geschichten aus dem Leben der 83-jährigen Margot, die sie in einem Malkurs kennenlernt und mit der sie gemeinsam jedes Lebensjahr in einem Bild festhält. 
Marianne Cronin hat zwei unverwechselbare Charaktere geschaffen: auf der einen Seite die tapfere, schlagfertige Lenni, die keinen Hehl aus ihrer Angst vor dem Tod macht und den Krankenhauspastor mit philosophischen Fragen löchert; auf der anderen Seite Margot, die trotz schwerer Verluste auf ein reiches Leben zurückblicken kann. Auch die Nebenfiguren sind gut gezeichnet, so dass der Alltag im Krankenhaus greifbar wird. Während Margots Lebensstationen detailliert beschrieben werden, kam Lennis Vergangenheit für mich etwas zu kurz. Auch die tiefe Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelt, wurde von den langen Gesprächen zwischen Lenni und dem Pastor ein wenig verdrängt. Obwohl es um ein tragisches und ernstes Thema geht, ließ mich die Geschichte mit vielen heiteren Momenten und klugen Gedanken mit einem lebensbejahenden Gefühl zurück.
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Leben für die Kunst

Wäre August Macke womöglich kein berühmter expressionistischer Maler, sondern Bühnendekorateur geworden, wenn ihn Elisabeth Gerhardt nicht davon abgehalten hätte? Welchen bedeutenden Einfluss die Tochter einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie auf ihren künftigen Ehemann hatte, schildert Margret Greiner in der Romanbiografie „Mutig und stark alles erwarten“.
Ganz gleich, ob in ihrem leidenschaftlichen Briefwechsel zwischen Bonn und Düsseldorf, ihren gemeinsamen Reisen nach Paris und Murnau oder ihrem Familienleben am Tegernsee und in Bonn, bereichert durch viele Künstlerfreunde und gesellige Treffen – die bilderreiche Sprache der Autorin macht die sprühende Lebensfreude und die Liebe zur Natur, Kunst und Musik des Paares in jeder Zeile spürbar. 
Für mich als Fan impressionistischer und expressionistischer Malerei war es ein großer Genuss, Mackes Durchbruch, seine Bemühungen als Kurator und seinen Schaffensrausch nach einer Tunis-Reise aus der Sicht seiner Ehefrau zu verfolgen. Elisabeth schrieb sich nicht nur als Modell und mit ihrem fachmännischen Urteil in Mackes Werke ein, sondern war selbst künstlerisch begabt und kreativ, schrieb, spielte Klavier, stickte und malte, wie man im farbigen Mittelteil des Buches sehen kann. Wie schon in ihren vergangenen Frauenporträts konnte mir Margret Greiner in dieser detailliert recherchierten Biografie eine sehr interessante, mutige und starke Persönlichkeit näher bringen.
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Denkmal für den Vater von Greater New York

Dass in einer Geschichte Vergangenheits- und Gegenwartsebene aufeinander zulaufen, ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist, wenn die Hauptfigur gleich zu Beginn auf mysteriöse Weise erschossen wird wie in dem Roman "Der große Fehler". Dabei handelt es sich um keinen Geringeren als Andrew Haswell Green, einem visionären Stadtplaner, dem so berühmte Bauten wie die Brooklyn Bridge, der Central Park und die New York Public Library zu verdanken sind.
Welche Qualen, Rückschläge und Verluste der Farmerssohn erleiden musste, um seinen amerikanischen Traum zu verwirklichen, erzählt Jonathan Lee in seinem ganz eigenen Stil. Besonders in der Anfangszeit, als sich der junge Andrew unter miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen allein in New York durchschlägt, litt ich mit ihm und bewunderte sein Durchhaltevermögen. Nebenbei erfuhr ich interessante Details wie die Entstehung von „Greater New York“ und was es mit dem Romantitel auf sich hat. Die Gewichtung verschiedener Erzählstränge war für mich nicht immer nachvollziehbar. So hätte ich statt der Ermittlungen eines unsympathischen und überforderten Inspektors lieber mehr über Andrews Engagement für die Stadtentwicklung und sozialpolitischen Verbesserungen gelesen. Bei meiner nächsten New-York-Reise werde ich mich sicher an seine bemerkenswerte Lebensgeschichte erinnern und die Stadt mit anderen Augen sehen.
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Eine Mutter verschwindet

Der Roman „Eine perfekte Familie“ trägt die typische Handschrift der Schriftstellerin Liane Moriarty. Wie schon in ihrem Roman „Big Little Lies“ geht es auch hier um Geheimnisse, häusliche Gewalt und eine Ermittlung, die diesmal nicht vier Freundinnen, sondern eine sechsköpfige Familie betrifft.
Auslöser und zugleich den Spannungsbogen bildet das Verschwinden der Mutter Joy Delaney, was die erwachsenen Töchter und Söhne auf den Plan ruft. Diese am Anfang wie Voyeure aus der Sicht eines Uber-Fahrers oder einer Kosmetikerin einzuführen, fand ich originell. Die Handlung springt immer wieder ein halbes Jahr zurück, als eine fremde junge Frau in das Leben von Joy und ihrem Ehemann trat und die Leere in ihrem Rentnerdasein füllte. Hat sie etwas mit Joys Verschwinden zu tun?
Familien bieten bekanntlich guten Stoff für spannende Geschichten, doch wie Liane Moriarty die Delaneys seziert und jedes Detail auslotet, ist kaum zu toppen! Das Verhältnis und die Dynamik zwischen den Geschwistern sowohl untereinander als auch zu den Eltern, die vom Tennis besessen sind, die unerfüllten Erwartungen, Anschuldigungen und gescheiterten Lebensträume werden genauestens unter die Lupe genommen – stellenweise sehr ausschweifend, aber aufschlussreich. Es ist ein packender Pageturner mit feinsinnigem Humor und überraschenden Wendungen, in dem scheinbar nebensächliche Details zum Schluss einen Sinn ergeben.
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Von Schleswig nach Kalifornien

In „Das Lied des Himmels und der Meere“ treten wir im Jahr 1872 mit Emma eine Schiffsreise von Hamburg nach Kalifornien an. Statt wie vorgesehen den Landrat von Schleswig zu heiraten, hat die Zwanzigjährige beschlossen, ihre Familie hinter sich zu lassen und nach Amerika auszuwandern.
Emmas neues Leben in San Francisco als Gesellschafterin bei einer älteren Dame dreht sich um Mühlespiele, Tanztees und Verabredungen mit dem dänischen Holzhändler Lars, in den sie sich verliebt. Manche Szenen und der Ton in den Briefen an ihre Schwester waren mit etwas zu rührselig, und ich befürchtete, dass das Ganze nur auf eine romantische Liebesgeschichte hinausläuft.
Doch ab der zweiten Hälfte gewann die Geschichte an Spannung und Tiefgang, zumal die Autorin auf das Thema einging, das mich am meisten interessierte: ob und wie es Auswanderern gelingt, in der Fremde Fuß zu fassen und wie sie ihr neues Leben gestalten – zum Beispiel als Holzhändler, Schiffsbauer oder Gesellschafterin. Gewisse Momente, in denen sie plötzlich von Heimwehgefühlen ergriffen werden, beschreibt Anne Müller sehr einfühlsam. Mir gefiel auch die Veränderung, die Emma durchmacht, von einer naiven zu einer reifen Frau, die immer weniger die Benachteiligung der Frauen hinnimmt. Dennoch hätte ich mir noch mehr historische Hintergrundinformationen und eine stärkere Ausarbeitung der Nebenfiguren gewünscht. Der Roman konnte mich nicht so begeistern wie ihr erstes Buch "Sommer in Super 8".
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Ein verhängnisvoller Sommertag

In „Heimweh“ erlebt Connor den reinsten Alptraum: Er verursacht einen Autounfall, bei dem drei junge Menschen sterben, drei überleben. Unmöglich für ihn, nach dem Prozess in der irischen Kleinstadt Mullinmore zu bleiben, wo er von allen geächtet wird. Er geht nach England und bricht jeglichen Kontakt mit seiner Familie ab.
In der Zeitspanne von 1987 bis 2019 begleiten wir Connor zunächst nach Liverpool, dann nach London und New York, im Gepäck stets seine Schuldgefühle, seine Scham und quälenden Erinnerungen an jenen tragischen Tag. Dass noch mehr dahinter steckt, erfahren wir erst später. Parallel erzählt Graham Norton wie Connors Schwester Ellen in eine unglückliche Ehe gerät, ausgerechnet mit einem Arzt, der zu den Überlebenden des Unfalls zählt.
Ein homosexueller Mann auf der Flucht vor seiner Vergangenheit sollte für mich wenig Identifikationspotenzial bieten und doch trieb es mich immer weiter durch die Geschichte, ähnlich wie auch Connor sich durch sein Leben treiben lässt, ziel- und hoffnungslos Ablenkung in diversen Beziehungen sucht – bis der große Wendepunkt eintritt: In einer New Yorker Bar lernt Connor den jungen Finnbar kennen, mit dem ihm etwas Besonderes verbindet. Die tragischen Lebenswege von Connor und Ellen und die raffinierte Dramaturgie mit vielen Twists haben mich stark in den Bann gezogen und wirkten noch lange nach.
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Gesunder Nachrichtenkonsum ist möglich

Die Coronakrise und nun der Ukraine-Krieg haben mich zum Newsticker-Junkie gemacht. Ich fühle einen Zwang, mich auf dem Laufenden zu halten – dabei ziehen mich die negativen Berichte nur runter und lösen Ohnmachtsgefühle aus.
Dass es neben reiner Abstinenz einen anderen Weg des Nachrichtenkonsums gibt, zeigt Ronja von Wurmb-Seibel in ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen“ und bescherte mir viele Aha-Erlebnisse. Zum Beispiel wurde mir klar, inwieweit uns die Medien ein verzerrtes Weltbild vermitteln und wie stark dieses Bild unsere Glaubenssätze formen können; auch dass negative Nachrichten in geballter Form nur Ängste schüren oder uns abstumpfen statt zu mobilisieren und dass das typische Motiv der Heldenreise in Medien und Literatur durch gemeinsame Erfolgsgeschichten ergänzt werden müsste. Ich bewunderte ihren Mut, als Reporterin und Filmemacherin in Kabul ein anderes Gesicht des Landes und der Menschen zu zeigen und lernte einen konstruktiven Journalismus kennen, der nicht nur über Miseren berichtet, sondern auch Lösungsansätze und langfristige positive Entwicklungen sichtbar macht.
Die Autorin beschränkt sich nicht nur auf die Medien, sondern empfiehlt auch, uns im Privatleben „nahrhafte" Geschichten zu erzählen, die uns aufbauen und zum Handeln ermuntern. Sie macht in ihrem sehr inspirierenden Buch genau das vor, woran sie appelliert, nämlich unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf Missstände, sondern auf mögliche Verbesserungen und mutmachende Beispiele und Vorbilder zu lenken.
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Mit Milch zum Glück

Wenn ich jetzt den Namen Lagerfeld höre, habe ich nicht mehr den Modedesigner Karl vor Augen, sondern seinen Vater Otto, Held des Romans "Das Glück unserer Zeit". Für uns Leser ist es ein großes Glück, dass Heike Koschyk von der Familie Günter Lagerfeld gefragt wurde, ob sie eine Biografie über den Kondensmilch-Fabrikanten schreiben wolle und Zugang zum Familienarchiv erhielt.
Otto Lagerfeld war ein waschechter hanseatischer Kaufmann, der seinen Traum verwirklichte, für eine Hamburger Firma nach Venezuela zu gehen. Sehr präzise arbeitet die Autorin seine Charaktereigenschaften heraus: sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Familie schon seit seiner Kindheit, seinen Mut, seine Zielstrebigkeit und sein kaufmännisches Gespür, das ihm viele Geschäftserfolge bescherte. Ganz anders sein freiheitsliebender Bruder Paul, das schwarze Schaf der Familie, der sich nur schwer mit ihm messen konnte.
Natürlich kenne ich das markante Logo der Dosenmilch „Glücksklee“, doch wie abenteuerlich, hürdenreich und – als der Erste Weltkrieg ausbrach – leidvoll der Weg bis zur Firmengründung war, weiß ich erst dank der gründlichen Recherche von Heike Koschyk, die Ottos Lebenserinnerungen in eine fesselnde Form gebracht hat. Ich sehe immer noch die verschiedenen Stationen wie Hamburg, Maracaibo, San Francisco und Wladiwostok vor mir und kann es kaum erwarten, in der angekündigten Fortsetzung Ottos Leben weiterzuverfolgen.
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Die Last der Familie

In Monika Helfers Familiengeschichte habe ich mich von Generation zu Generation zurückbewegt. Den Erscheinungsterminen entgegengesetzt lernte ich nach ihrem Bruder ("Löwenherz") und ihrem Vater ("Vati") nun in "Die Bagage" auch ihre Großeltern Maria und Josef Moosbrugger kennen. 
Die Bagage wurden sie genannt, weil Josefs Vater und Großvater Träger waren, die im Sommer Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen – ein Beruf, der den schlechtesten Ruf hatte. Arm und ausgegrenzt lebten sie am Rande eines österreichischen Bergdorfes. Kaum zu überlesen ist, wie wunderschön Maria war und von allen Männern begehrt wurde, besonders von Georg aus Hannover und vom Dorfbürgermeister, der eigentlich auf sie aufpassen sollte, während ihr Ehemann im ersten Weltkrieg kämpfte. Sehr plastisch beschreibt die Autorin, wie sich die Dorfgemeinschaft das Maul zerriss, als Maria schwanger wurde. 
Interessant ist vor allem ihre Erzählweise: Anhand bruchstückhafter Erinnerungen und Spekulationen ihrer Tanten und Onkel geht sie ihrer eigenen Herkunft nach und rekonstruiert das Leben ihrer Großeltern sowie die seelische Last, die bis zu ihrer Generation weitergegeben wurde. Auch für mich hat sich nach der Lektüre das Bild ihrer Familie noch ein wenig mehr vervollständigt, allerdings haben mir "Vati" und "Löwenherz" noch besser gefallen. 
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21 spannende Begegnungen mit Literaturgrößen

Namhafte Autoren und Autorinnen zieren das Cover des Buches "Schriftstellerporträts": Peter Handke, Franz Kafka, Christa Wolf, Philip Roth ... Viele von ihnen traf Volker Hage als Literaturredakteur verschiedener Zeitungen und Magazinen persönlich und hat nun 21 Porträts zusammengestellt.
Besonders gern habe ich die Passagen gelesen, in denen er die Begegnungen ausführlich beschreibt, zum Beispiel sein Interview als Student mit Walter Kempowski, der in Bautzen als politischer Häftling einsaß. John Updike, den er in dessen prächtigen Villa in Beverly Farms nahe Boston besuchte, lernte er als unsicheren und bescheidenen Autor kennen, der mit 50 seinen schriftstellerischen Erfolg immer noch nicht ganz fassen konnte. 
Von vielen bekannten Werken hört man, sie seien autobiografisch gefärbt, doch was heißt das genau? Volker Hage gibt Antworten darauf, verrät biografische Hintergründe und die Entstehungsgeschichte verschiedener Romane, zum Beispiel dass "Tadellöser & Wolff" von Kempowski als rein private Familienchronik geplant war. Amüsiert hat mich die kuriose "On-Off-Beziehung" zwischen Peter Handke und seinem Verleger und das Porträt von Wolfgang Koeppen, der stolz eine Vielzahl von Manuskripten "kurz vor der Vollendung" vorweisen konnte – ein Schicksal, das er sicher mit nicht wenigen Schriftstellern teilt. Als Fan französischer Exitenzialisten las ich mit großem Interesse Details über die Rivalität zwischen Camus und Sartre und erfuhr, warum die "Blechtrommel" von Günter Grass zum Inbegriff einer neuen deutschen Literatur wurde.
Keine leichte Aufgabe, in derart kompakter Form Literaturgrößen zu porträtieren, doch Hage gelingt es, uns ihren Charakter, ihre Schreibgewohnheiten, wichtige Stationen in ihrem Leben und die Rezeption ihrer Werke eingebettet in den jeweiligen politischen Hintergrund sehr unterhaltsam, abwechslungsreich und lebendig näherzubringen.
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Wie gut kennen wir unsere Nachbarn?

Nebenan“ lautet der Titel des neuen Romans von Kristine Bilkau und deutet bereits den engen Radius an, in dem sich die Geschichte abspielt. Umso tiefer tauchen wir in einen kleinen Ort am Nord-Ostsee-Kanal, in den Kosmos der Protagonistinnen und ihre Gefühlswelten ein.
Da ist Julia, eine Keramikerin, die aus Hamburg dorthin gezogen ist und sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind. Die Ärztin Astrid ist in dem Ort aufgewachsen und sorgt sich um ihre alternde Tante, die gegenüber von Julia wohnt. Die beiden Figuren verbindet nicht nur die räumliche Nähe, sondern auch die Sorge um eine Familie nebenan, die seit mehreren Monaten verschwunden ist. Julia steigert sich immer mehr in Fantasien hinein, um sich von ihrer eigenen Krise abzulenken, während Astrid versucht, die einstige Vertrautheit mit ihrer Nachbarin wiederherzustellen.
Viel passiert in diesem Roman nicht, doch die scharfen Beobachtungen der Autorin und ihre einnehmende Sprache zogen mich immer mehr in den Bann. Aktuelle Themen wie der Selbstinszenierungswahn auf Instagram oder die Plastikflut fügen sich mühelos in die Handlung. Der Fokus liegt aber vor allem auf dem Wunsch der Frauen nach Nähe und Verbundenheit einerseits und privaten Rückzug andererseits und der schwierigen Gratwanderung, am Leben anderer teilzuhaben ohne sich zu sehr einzumischen. Nach „Die Glücklichen“ und „Eine Liebe, in Gedanken“ hat mich auch der dritte Roman von Kristine Bilkau begeistert und hallt lange nach.
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Vom Aufbrechen und Ankommen

Schon länger habe ich die „Wunderschön“-Moderatorin Tamina Kallert im Fernsehen vermisst und führte das auf die Pandemie zurück. Tatsächlich wurde sie wie so viele ihrer Kollegen durch die Corona-Beschränkungen ausgebremst, doch sie nutzte die Zeit, um ein neues Buch zu schreiben. In „Und dann kommt das Meer in Sicht“ erzählt sie von besonderen Reiseerlebnissen, Dreharbeiten und Begegnungen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.
So mancher Beitrag kam mir bekannt vor, zum Beispiel der über Fritz Sendlhofer und seine berühmten selbstgemachten Kasnocken. Was sich jedoch hinter der Kamera abspielte, wie strapaziös die Vorbereitungen sein können und unter welchem Druck das Fernsehteam oft steht, um alles perfekt in Szene zu setzen, erfährt man erst durch ihre anschaulichen Schilderungen. Tamina Kallert gibt dabei nicht nur Einblicke hinter die Kulissen, sondern auch in ihre Gedanken und Gefühle und welchen prägenden Einfluss eine bestimmte Begegnung oder eine Erfahrung auf ihr eigenes Leben hatte.
Ich begleitete die Autorin nicht nur zu verschiedenen Drehorten wie Liverpool, Rom, die Krimmler Wasserfälle oder Ibiza, sondern auch auf ihren verschiedenen Lebensabschnitten, beruflich und privat. Sehr offen, ehrlich und selbstkritisch erzählt sie von ihrer größten Lebenskrise mit Mitte Zwanzig, von schwierigen Entscheidungen, gesundheitlichen Einschnitten, Panik- und Glücksmomenten. Tamina Kallert, die ich im Fernsehen so fröhlich und herzlich erlebe, zeigt sich hier auch von einer nachdenklichen und verletzlichen Seite. Sie hat ein sehr persönliches, mutmachendes Buch geschrieben, das uns lehrt, wie man von wertvollen Erfahrungen und Begegnungen, von Familie, Freunden und kleinen Freuden im Alltag zehren und schwierige Zeiten wie diese durchstehen kann.
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Tell-Sage im frischen, modernen Gewand

Der Klappentext verspricht nicht zu viel: "Tell" von Joachim B. Schmidt ist wirklich ein Pageturner, in dem eine Szene die nächste jagt. Einerseits hatte ich leichte Schwierigkeiten, die zahlreichen Figuren einzuordnen; andererseits ist dies ein interessanter Kniff, um Wilhelm Tell und sein Schicksal aus verschiedensten Blickwinkeln zu verfolgen. Mit der Zeit bekam ich ein immer klareres Bild des eigenbrötlerischen Wilderers, der die Schikanen des Landvogts Gessler und seiner Handlanger nicht auf sich sitzen lässt.
Der Autor präsentiert uns eine kurzweilige, originelle Version der Tell-Sage, in der auch die Apfelschuss-Szene nicht zu kurz kommt. Trotz des rasanten Tempos versäumt er es dabei nicht, uns eindringlich die harten Lebensbedingungen der Bauern, die Ungerechtigkeit der Vögte, die Grausamkeit der Habsburger Soldaten und die schroffe, mystische Landschaft im Isental spüren zu lassen. Für mich ist der Roman sowohl stilistisch als auch dramaturgisch rundum gelungen. 
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Ode an den Vater

Ein Familienmitglied von Monika Helfer durfte ich bereits in „Löwenherz“ kennenlernen und zwar ihren verstorbenen Bruder Richard. Nun war ich neugierig auf ihren Vater Josef, den sie in ihrem Roman „Vati“ porträtiert. 
Bevor Josef seine Matura abschließen kann, muss er an die Front, verliert ein Bein und lernt im Lazarett seine künftige Ehefrau kennen. Traumatisiert kehrt er zurück und wird Verwalter des Kriegsopfererholungsheims auf einem Hochplateau im Vorarlberg, wo er sich eine Bibliothek einrichtet. Monika, die sich besonders gern an die geselligen Abende mit den Gästen und an die Vorlesestunden erinnert, verlebt mit ihren Schwestern dort eine „paradiesische Kindheit“.
Auch diesmal legt die Autorin keinen Wert auf Chronologie oder Vollständigkeit, zumal sie wenig weiß über ihren Vater, und doch wird dieser mit seinen Eigenheiten und seiner innigen Liebe zu Büchern greifbar, weil sie ganz charakteristische Szenen beschreibt. Er unternahm zum Beispiel eine unglaubliche Rettungsaktion, als er von Umbauplänen des Erholungsheims samt Bibliothek erfuhr, oder „schob ein Buch dazwischen“, um etwas Wichtiges zu sagen. 
Viele weitere interessante Figuren wie Monikas Mutter, Stiefmutter, Tanten und Onkeln wirken in dieser lesenswerten autofiktionalen Familiengeschichte mit und bringen uns sowohl die Traumata als auch die wenigen heiteren Momente in der Kriegs- und Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs näher.
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Von Selbstgesprächen profitieren

Das Cover von „Chatter – Die Stimme in deinem Kopf“ ist sehr gelungen. Genauso fühlt es sich für mich an, wenn ich in Grübeleien verfalle und das Geplapper nicht mehr zum Schweigen bringe. Ethan Kross, Experimentalpsychologe und Neurowissenschaftler an der University of Michigan, hat sich genauer mit diesem Phänomen beschäftigt und stellt uns die Forschungsergebnisse vor.
Interessant sind nicht nur die wissenschaftlichen Erklärungen, sondern auch seine anschaulichen Beispiele für Auswirkungen destruktiver Selbstgespräche – sich selbst eingeschlossen. Gleich am Anfang erzählt er, wie ihn ein Drohbrief völlig aus der Bahn warf und wie es ihm durch einen kleinen sprachlichen Kunstgriff gelang, innere Distanz zu gewinnen. Auch bei einer angehenden Geheimagentin aus West Philly verengte sich der Blick auf einen kleinen Aspekt ihrer Lage und trieb sie in einen gedanklichen Teufelskreis, bis sie schließlich wieder das große Ganze einschließlich ihres kulturellen Hintergrunds erkennen konnte.
So manches rückte Ethan Kross für mich in ein neues Licht, zum Beispiel das Gespräche mit Nahestehenden nicht zwangsläufig helfen, wenn sie auf gemeinsames Grübeln hinauslaufen. Auch von passivem Teilhaben an sozialen Netzwerken rät er ab. Nützliche Werkzeuge dagegen seien selbstdistanzierende Selbstgespräche, mentale Zeitreisen, Ehrfurcht auslösende Erlebnisse und viele mehr, die er zum Schluss übersichtlich zusammenfasst.
Ich habe das Buch in wenigen Tagen verschlungen. Wissenschaft kann so spannend sein, wenn es verständlich, persönlich und packend vermittelt wird wie von Ethan Kross!
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Verliebt in einen Ehesaboteur

In dem Roman „Dein falsches Herz“ nimmt die Hauptfigur Sumiko bereits am Anfang einiges vorweg. Ihre Mutter Rina Satô – so erfahren wir – kam nicht bei einem Autounfall um, wie man sie glauben ließ, sondern wurde ermordet. Es vergeht jedoch eine geraume Zeit, bis Sumiko die Wahrheit herausfindet, und so lässt sie auch den Leser zappeln und holt weit aus.
Die Tragödie nahm ihren Anfang, als Sumikos Vater eine Agentur beauftragte, seine Ehe zu sabotieren, um eine leichte Scheidung herbeizuführen. Für den Mitarbeiter Kaitarô ist das nichts Ungewöhnliches, denn als „Wakaresaseya“ ist es sein Job, Ehefrauen zu verführen und belastende Beweise zu beschaffen. Was jedoch nicht seiner Gewohnheit entspricht, ist, dass er sich in das Opfer verliebt. 
Stephanie Scott erzählt die Liebesgeschichte zwischen Kai und Rina sehr sinnlich und deutet anhand ihrer gemeinsamen Leidenschaft für die Fotografie an, welche Träume von einst sie vergraben haben und wie ihr Leben hätte anders verlaufen können. Manches hätte man ein wenig straffen können, dafür habe ich Interessantes über das japanische Rechtssystem gelernt. Wortgewandt beschwört die Autorin britisch-singapurischer Abstammung die Atmosphäre verschiedener Schauplätze wie die Tokioter Nobelmeile Ginza oder die touristische Hafenstadt Shimoda und lässt uns an einer bestürzenden Geschichte teilhaben, die auf einem wahren Fall beruht.
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Heiteres und Chaotisches aus dem Familienalltag

Die Familie ist doch ein höchst mysteriöses Konstrukt: An einem Tag ist sie Quell großer Freude, an einem anderen treibt sie einen in den Wahnsinn. Ähnliche Erfahrungen scheint auch Heinrich, das Alter Ego von Ewald Arenz, in „Meine kleine Welt“ zu machen.
Völlig harmlose Aktivitäten wie ein Familieneinkauf, ein Zoo- oder ein Kinobesuch können durch einen kleinen Zwischenfall oder eine zweideutige Bemerkung schnell in eine Katastrophe münden. Wenn dabei ein Siebzehnjähriger, der Bismarck nacheifert, eine ständig nörgelnde Teenagerin und ein Dreijähriger, der ohne zu zögern Playmobilfiguren ins Klo wirft, mit von der Partie und, macht es die Sache nicht leichter. Ganz zu schweigen von der Familienkatze, die sich gern heimlich ins Auto schleicht. Was habe ich gelacht, als der Erzähler die betrunkene Katze zum Tierarzt fahren muss und in einen Autokorso von Fußballfans gerät.
Einige Szenen kamen mir sehr bekannt vor, zum Beispiel wie Ehefrau Juliane vor einem Termin noch schnell ein paar Hausarbeiten erledigt und den fix und fertig angezogenen Mann warten lässt. Einige Geschichten sprühen vor Situationskomik – herrlich, wie der Erzähler eine Kunstinstallation nicht als solche erkennt –, ließen zum Ende hin jedoch etwas nach, zumal sie mit einem versöhnlichen Ende einem ähnlichen Muster entsprechen.  
Es sind auch interessante Beobachtungen dabei, zum Beispiel dass heutzutage alles mögliche mit dem Zusatz „& mehr“ angeboten wird. „Meine kleine Welt“ dagegen sind pure unterhaltsame Familiengeschichten, nicht mehr und nicht weniger.
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Sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson

Bekannt wurde die Schriftstellerin "Selma Lagerlöf" vor allem durch ihr Schulbuch „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“. Auch ihre Romanbiografie von Charlotte von Feyerabend liest sich wie eine Reise quer durch ihr Heimatland. Sie beginnt damit, dass Selma den Gutshof in Mårbacka verkaufen muss und mit ihrer Mutter und Tante nach Landskrona zieht. Noch kann sie nicht vom Schreiben leben und arbeitet als Lehrerin. Mit viel Humor wird die Atmosphäre in der Schule und die Arbeit mit ihren verknöcherten Kolleginnen beschrieben.
Hin und weg ist Selma dagegen von der anmutigen Schriftstellerin Sophie Elkan, mit der sie zahlreiche Reisen durch Schweden, nach Italien und Jerusalem unternimmt. Ihre Gespräche über das Schreiben, die Stellung der Frau in der Gesellschaft, ihre Entdeckerlust und den Freiheitsdrang fand ich sehr inspirierend. Mit viel Feingefühl beschreibt Feyerabend die Seelenverwandtschaft zwischen den beiden Frauen und wie sehr Selma darunter leidet, dass ihre Liebe nicht in gleicher Weise erwidert wird. Noch komplizierter wird es, als sich Valborg, die Selma als Lektorin unterstützt, in ihr Leben mischt. 
Feyerabend schildert nicht nur Selmas Werdegang zur Nobelpreisträgerin und Gutsbesitzerin, sondern lässt uns auch in blumiger Sprache spüren, was Schwedens Natur, Kultur und Gesellschaft um 1900 ausmacht. Sie hat mir in diesem Porträt eine unkonventionelle, willensstarke und leidenschaftliche Schriftstellerin näher gebracht, von der ich unbedingt einige der genannten Werke lesen möchte.
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Vom Tagträumer zum Ersatzpapa

Monika Helfer, von der ich schon viele wunderbare Kurzgeschichten gelesen habe, erinnert sich in „Löwenherz“ an ihren jüngeren Bruder Richard, einen Schriftsetzer, Maler und Geschichtenerzähler. Welche Wende sein Leben nimmt, als eine schwangere Frau ihn vor dem Ertrinken rettet und im Gegenzug ihre Tochter mit dem Spitznamen Putzi in seine Obhut gibt, ist schon spannend genug, doch aus Monikas Sicht geschildert, gewinnt die Geschichte eine ganz besondere Note.
Ein Charakterzug sticht besonders heraus: Richard ist ein Mensch, der Dinge mit sich geschehen lässt statt selbst die Initiative zu ergreifen, was sowohl zu unbeschwerten, glücklichen Momenten als auch zu heiklen Situationen führt. Nur Putzi wächst ihm so sehr ans Herz, dass er bereit ist, für sie zu kämpfen. Schreibend und im Dialog mit ihrem Ehemann tastet sich die Autorin an ihren Bruder heran, mal staunend und bewundernd, dann liebe- und verständnisvoll, mal fassungslos und voller Sorge. Sehr gut gefiel mir auch, wie sie ihre Kindheit beschreibt, in der sie und ihre Schwestern nach dem Tod der Mutter stark zusammenhielten während Richard getrennt von ihnen bei der Tante aufwuchs.
An ihre rauhe Stimme und fast monoton wirkende Vortragsweise musste ich mich erst einmal gewöhnen, doch dann merkte ich, dass durch den gleichmäßigen Rhythmus die Kette von Ereignissen eine umso dramatischere Wirkung entfalten. Ich kann es kaum erwarten, die übrigen Bücher ihrer Familientrilogie zu lesen.
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Vier Generationen und eine Nähmaschine

Nicht nur Menschen, auch Gegenstände können auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. In „Die Nähmaschine“ ist es eine rund hundert Jahre alte Singer 99K, die Natalie Fergie zu ihrem Roman inspirierte. 
Einblick in die Herstellung und schlechten Arbeitsbedingungen in den Singer-Werken im schottischen Clydebank bekommen wir anhand der Geschichte rund um Jean, die 1911 aufgrund eines Massenstreiks ihre Arbeitsstelle verliert. 43 Jahre später spielt auch für Kathleen, die in Edinburgh mit Näharbeiten ihre Familie ernährt, und ihre Tochter Connie die Nähmaschine eine zentrale Rolle. 
Connie setzt die Tradition ihrer Mutter fort, jede Näharbeit mit einem Stück verarbeiteten Stoff in einem Nähjournal festzuhalten – ein Ritual, das mich sehr faszinierte, spiegelt doch jeder Eintrag eine freud- oder schmerzvolle Situation eines Menschen wider. Als wiederum ein halbes Jahrhundert später der arbeitslose Fred die Wohnung seines Großvaters samt einer alten Nähmaschine erbt, fängt er selbst an zu nähen, taucht immer tiefer in seine Familiengeschichte ein und deckt ein lang gehütetes Geheimnis auf. 
Die Autorin und ehemalige schottische Krankenschwester, die für ihre Nähmaschinensammlung vor Jahren eine gebrauchte Singer 99K kaufte, wollte deren Herkunft nachgehen und ihr ein Denkmal setzen. Das ist ihr mit dieser nostalgischen Familiengeschichte gelungen.
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Die Kunst, in Würde zu altern

In dem Roman „Mrs. Palfrey at the Claremont“ fragt man sich, ob man im Alter lieber allein oder in einer illustren Hotelgesellschaft leben möchte, die sich mit Klatsch und Tratsch die Zeit vertreibt. Im titelgebenden Hotel trifft Laura Palfrey unter anderem auf Mrs. Arbuthnot, die unter Arthritis leidet, Mr. Osmond, der ständig Briefe an die Daily Telegraph schreibt und Mrs. Burton, die Langeweile in Alkohol ertränkt.
Seit ihrem Einzug fühlt sich Mrs. Palfrey ständig beobachtet und zunehmenden Druck, als alternde Witwe ihren einstigen gesellschaftlichen Status zu wahren. Dies führt soweit, dass sie den jungen Schriftsteller Ludo, der ihr bei einem Sturz behilflich ist, als ihren Enkel ausgibt, weil sich ihr echter Enkel nicht blicken lässt – eigentlich eine Win-Win-Situation, denn für Ludo und seinen aktuellen Roman ist die Witwe das ideale Studienobjekt. 
Der Ton der Geschichte ist mal heiter – zum Beispiel wenn Mrs. Palfrey sich wie eine verliebte Teenagerin benimmt, was mich zum Schmunzeln brachte – mal traurig-melancholisch. Elizabeth Taylor spürt sehr präzise die Befindlichkeiten von Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt auf und zeigt durch einen Perspektivenwechsel, dass auch junge Menschen wie Ludo unter schwierigen familiären Verhältnissen und der Einsamkeit leiden.
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Eine Reise durch die Welt der Innenräume

Nach der Lektüre von „Drinnen – Wie uns Räume verändern“ wird einem erst bewusst, wieviel Zeit wir in Innenräumen verbringen und in welchem Maß sie unser Wohlbefinden und unser Verhalten beeinflussen.
Würde ich in einer Wohnung leben wollen, die mich mental und physisch ständig vor neuen Herausforderungen stellt und dadurch mein Immunsystem stärkt, allein mit dem Ziel, meine Lebenszeit zu verlängern?  Sicher nicht. Dies ist nur eines der Experimente und zahlreichen wissenschaftlichen Studien, die Emily Anthes in ihrem Buch vorstellt. Sie nimmt unterschiedlichste Gebäude wie Krankenhäuser, Schulen, Gefängnisse, sogar Lebensräume von Mikroben unter die Lupe.
Dabei geht es sowohl um funktionale Aspekte, zum Beispiel wie durch optimiertes Design Fehler in einem OP-Saal minimiert oder eine bessere Resozialisierung in Gefängnissen stattfinden kann. In Schulen können kleine räumliche Veränderungen zu mehr Aktivität und einem gesünderen Lebensstil beitragen. Trotz der anschaulichen Beschreibungen wünschte ich mir manchmal eine visuelle Unterstützung.
Emily Anthes stellt schwimmende Gebäude vor, die angesichts der zunehmenden Überschwemmungen an Bedeutung gewinnen, und Konzepte für ressourcenschonendes Wohnen auf dem Mars oder Mond. Das Buch umfasst ein breites Spektrum und gibt viele Anregungen, wie man mit gut durchdachtem Raumdesign aktuellen und zukünftigen Problemen entgegenwirken kann.
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Authentischer Künstler- und Emanzipationsroman

Nach "Hundstagekönig" von Einar Már Gudmundsson verschlägt es mich in „Miss Island“ erneut auf die titelgebende Insel. Ich-Erzählerin Hekla zieht vom elterlichen Hof nach Reykjavik, um Schriftstellerin zu werden. In den sechziger Jahren haben jedoch selbst so begabte Frauen wie sie kaum eine Chance. Das Schreiben ist Männern vorbehalten. So arbeitet sie als Serviererin in einem Hotel, wo sie von aufdringlichen Männern belästigt wird, die ihr raten, sich für die Miss Wahl zu bewerben. Trotz der Ablehnung von allen Seiten bleibt Hekla zielstrebig und schaufelt sich Zeit frei, um zu schreiben.
Das Leid, von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, teilt sie mit ihrem schwulen Jugendfreund Jón John, der von einer Karriere als Kostümschneider träumt. Audur Ava Ólafsddóttir beschreibt ihren Lebensweg voller Hindernisse und die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse nüchtern, aber eindringlich. Wie ein Dichter, mit dem sie eine Liaison eingeht, und ein Verleger auf ihr Manuskript reagieren, brachte mich ziemlich aus der Fassung. Sehr poetisch spiegeln sich Heklas Schaffenskraft und Befreiungsdrang in den brodelnden Vulkanen wider, die sich wie Nebenfiguren in die Geschichte einfügen.
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Charismatische Reformpädagogin, die ihrer Zeit voraus war

In ihrem Buch "Kinder als Lehrer" erzählt Cristina de Stefano in fünf Teilen die bewegende Lebensgeschichte der Pädagogin Maria Montessori – von ihrer Kindheit über die Gründung des ersten Kinderhauses in Rom bis hin zur weltweiten Verbreitung ihrer Lehrmethoden. Dabei überraschte sie mich mit vielen mir unbekannten Facetten: zum Beispiel, dass Montessori Medizin studierte, sich in Freiwilligendiensten mit Feministinnen zusammenschloss und für Frauenrechte kämpfte, ihre pädagogische Lehre in einer Nervenheilanstalt begann und durch eine Lebenskrise zur streng gläubigen Katholikin wurde. Ihre Berufung sah sie jedoch darin, durch zurückhaltende Beobachtung den kindlichen Geist zu erforschen und das Schulwesen zu reformieren.
Die Biografie hat mich in vielerlei Hinsicht tief beeindruckt. Zum einen beschreibt De Stefano sehr anschaulich, anhand welcher Beobachtungen Montessori zu ihren Erkenntnissen kam und ihre didaktischen Materialien und Methoden Stück für Stück verfeinerte und weiterentwickelte. In ihrem Umgang mit Wissenschaftlern, der Kirche und finanziellen Unterstützern wird sowohl ihre Hingabe und Zielstrebigkeit als auch ihr herrischer und unbeugsamer Charakter deutlich.
Mit Spannung begleitete ich Montessori auf ihren Ausbildungslehrgängen quer durch die Welt und bewunderte, wie sie nach jedem Rückschlag wieder bei Null anfing. Sehr gekonnt zitiert die Autorin aus akribisch recherchierten Quellen wie Tagebüchern, Briefen und Berichten ihrer Wegbegleiter und schafft so ein höchst lesenswertes Porträt einer charimatischen Frau, die ihrer Zeit voraus war.
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Vom dänischer Abenteurer zum Herrscher von Island

Das Buch „Hundstagekönig“ war in jeder Hinsicht Neuland für mich: Ich kannte weder den Autor Einar Már Gudmundsson noch den König von Island, den er porträtiert, noch war ich jemals auf der Insel. Gleich zu Beginn spannt uns der Autor auf die Folter, indem er Jörgen Jörgensen aus Kopenhagen als einzigartig und schillernder als die meisten Romanfiguren bezeichnet. Jörgensens Lebensgeschichte liest sich tatsächlich wie ein Abenteuerroman, denn er segelte nicht nur 1809 nach Island und riss für zwei Sommermonate die Macht an sich – daher der titelgebende Spitzname –, sondern war auch Entdecker, Gefangener, Spion, Autor und Polizist. 
So unterschiedlich wie die Lebensphasen sind auch die Quellen, auf die sich der Autor bezieht. Er zitiert sowohl aus Jörgensens Autobiografien als auch aus Berichten von Zeitgenossen, die teilweise ein widersprüchliches Bild ergeben. Was den Lesefluss leider stört, sind die vielen Namensnennungen, Nebenfiguren, -schauplätze und Zeitsprünge. 
Sehr unterhaltsam dagegen ist Gudmundssons polemischer Stil und sein entlarvender Blick auf Legenden, Mythen und die Geschichtsschreibung. Auch wenn ich leichte Schwierigkeiten hatte, den historischen Ereignissen zu folgen, bekam ich einen interessanten Einblick in die damaligen Handelsbeziehungen zwischen Dänemark, Island und England.
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Schottische Millionärin auf Rettungsmission

Für eine bedeutungsvolle Tat ist es im Leben nie zu spät. Das denkt sich auch Veronica McCreedy, Heldin des Romans "Miss Veronica und das Wunder der Pinguine", die mit ihren 86 Jahren noch rüstig ist, aber zurückgezogen an der schottischen Küste lebt und überlegt, wem sie ihr Vermögen hinterlassen könnte. Nachforschungen haben ergeben, dass sie einen Enkel hat, doch die erste Begegnung ist eine herbe Enttäuschung. Als sie eine Fernsehsendung über bedrohte Adeliepinguine sieht, ist sie Feuer und Flamme und beschließt, dem Forschungsteam einen Besuch abzustatten und sich ein Bild vor Ort zu machen.
Es war zu erwarten, dass der anfangs konfliktreiche Alltag mit drei Wissenschaftlern auf engem Raum und die Beobachtung der Pinguinkolonien Veronicas Leben und ihre Einstellung verändern werden, doch das Wie erzählt Hazel Prior sehr warmherzig und unterhaltsam. Die blumigen Beschreibungen versetzten mich augenblicklich in die märchenhafte Landschaft. 
Ich hätte mir noch mehr Details zur Forschungsarbeit gewünscht, doch im Mittelpunkt steht nun einmal Veronica und wie sie sich durch die Liebe zu einem speziellen Pinguin allmählich ihren Mitmenschen öffnet. Aus ihren Tagebüchern erfährt man zudem, welche tragischen Ereignisse sie zu dem verschlossenen Menschen gemacht haben. Manches in der Geschichte erschien mir etwas unrealistisch, manches zu vorhersehbar, doch im Ganzen habe ich Veronica sehr gern auf ihrem Abenteuer begleitet.
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Drei Leichen und ein Baby

Der Roman „Was damals geschah“ von Lisa Jewell beginnt mit einer erfreulichen Nachricht: Die Küchenverkäuferin Libby Jones erbt mit 25 eine noble Stadtvilla in Chelsea. Das Haus hat jedoch eine düstere Vergangenheit: Drei Leichen und ein unversehrtes Baby wurden darin gefunden. Man geht von einem Selbstmordpakt aus.
Parallel betreten weitere Personen die Bühne: Lucy lebt mit ihren zwei Kindern in Nizza in bitterer Armut und ist gezwungen, ihren gewalttätigen Ex-Mann um Hilfe zu bitten. Noch kann man die Figur nicht so recht in das Geschehen einordnen. Licht in das Ganze bringt ihr Bruder Henry, der uns in die 1980er Jahre und nach Chelsea versetzt. Er ist in der besagten Villa aufgewachsen und rekonstruiert, was sich dort über mehrere Jahre hinweg zugetragen hat. Die Leichen ließen bereits Unheil erahnen, doch was Henry schildert, stellt jede tragische Familiengeschichte in den Schatten. 
Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, einige Figuren auseinanderzuhalten, doch schon bald war ich völlig gefangen in der Geschichte, zumal die einzelnen Geschehnisse und auch kleine Details immer mehr einen Sinn ergeben. Die Spannung entsteht besonders dadurch, dass sich nicht nur zwielichtige Personen, sondern mit ihnen auch das Unglück in Henrys wohlhabende Familie einnisten. Diesen Part erzählt die Autorin in der Ich-Form und ist dabei so nah an Henrys Figur, dass ich jede Minute mit ihm litt – angefangen von den harmlosen Teenagerproblemen bis hin zu seiner Wut und Hilflosigkeit angesichts der Katastrophe, auf die die Wohngemeinschaft zusteuert. Ebenso spürte ich das Machtgefüge zwischen den Bewohnern und die beklemmende Atmosphäre im Haus.
Raffiniert führt Lisa Jewell die einzelnen Erzählstränge zusammen, überrascht mit Wendungen und lässt uns schaudern angesichts der Machtgier und Scheinheiligkeit von Menschen und zu welcher Tyrannei und Manipulation sie fähig sind.
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Seinem Doppelgänger auf der Spur

Die schönen Grachtenhäuser von Amsterdam sind immer wieder eine Reise wert. Erst recht, wenn einem ein Handyfoto suggeriert, dass man vor solch einem Haus steht, obwohl man noch nie dort war. Das beteuert zumindest Roy Paulsen in der „Amsterdamer Novelle“, als sein Sohn ihm einen Schnappschuss zeigt. Der Mann auf dem Fahrrad sieht Roy tatsächlich zum Verwechseln ähnlich. Obwohl es sich nur um einen Irrtum handeln kann, lässt ihn das Foto nicht mehr los. So begibt sich der Kölner spontan nach Amsterdam, in der Hoffnung, dem Rätsel auf die Spur zu kommen.
Seine Reise weckt beim Leser große Neugier: Wird Roy das besagte Haus finden? Wohnt dort ein Doppelgänger von ihm? Gemeinsam mit ihm lassen wir uns durch die Stadt und die Handlung treiben, in der uns so einige sonderbare Ereignisse und Überraschungen erwarten. 
Schon in „Die Büglerin“ gefiel mir, wie Heinrich Steinfest aberwitzige Ideen und surreale Momente in seine Geschichte einbaut. Auch diesmal befeuert er unsere Fantasie, jongliert mit Zufällen und Täuschungen und treibt ein intelligentes Spiel mit uns. Dass Roys Sohn ein Computerspiel über Rembrandt als Zeitreisender entwickelt, ist sicher kein Zufall. Und auch mit einer Büchernische, die lauter Bücher zum Thema Zeit enthält, scheint es eine besondere Bewandtnis zu haben. Die pointiert erzählte und philosophisch angehauchte Novelle regt zum Nachdenken an, inwieweit unser Schicksal vorbestimmt ist.
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Roadtrip eines Ex-Paares in die Vergangenheit

Wie gut kennt man einen Mann, an dessen Seite man knapp zwanzig Jahre gelebt und zwei Töchter großgezogen hat? Lucy Barton, Ich-Erzählerin in „Oh William!“, ist sich bei ihrem titelgebenden Ex-Mann gar nicht sicher. Eines steht immerhin fest: Es ist William, an den sie sich wendet, als ihr Ehemann David verstirbt. Und er sucht seinerseits Halt bei ihr, als ihn seine Frau Estelle verlässt.
So kommen sich die beiden besonders auf einer gemeinsamen Reise durch Maine wieder näher, doch das geschieht weder auf kitschige noch plumpe Weise. Vielmehr ruft die Annäherung bei Lucy Erinnerungen an prägnante Erlebnisse hervor. Sie bemüht sich, einzelne Szenen und ihre Gefühle möglichst genau zu rekonstruieren und dabei richtig verstanden zu werden, weshalb sie häufig bekräftigt: „Das will ich damit sagen.“ Man hat jedoch mehr den Eindruck, dass ihr erst im Nachhinein so manches klar wird, nicht nur über William und ihre Schwiegermutter, die eine zentrale Rolle spielt, sondern auch über sich selbst und ihre Herkunft. Ehrlich und selbstkritisch geht sie ihren widersprüchlichen Gefühlen während ihrer Ehe wie Geborgenheit und Vertrautheit einerseits und Abscheu und Einsamkeit andererseits auf den Grund.
Die Erzählweise wirkt zusammenhanglos, steigert aber auch die Spannung, weil man nach jedem Abschnitt eine neue Erkenntnis oder Offenbarung wittert. Elizabeth Strout vereint auf faszinierende Weise einen lockeren Plauderton mit tiefgründigen Themen wie Lucys schwere Kindheit und Unsicherheit und Williams Schuldkomplexe und Ängste.
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Über Widerstandskraft und Verletzlichkeit

Schwierige Frauen“ lautet der Titel der Kurzgeschichtensammlung von Roxane Gay, doch treffender für die Protagonistinnen fände ich die Beschreibung „Frauen, die es im Leben schwer haben oder es sich schwer machen“.
Einige wie Carolina und ihre Schwester leiden unter einem schweren Kindheitstrauma und können einander auch als Erwachsene nicht allein lassen, obwohl eine von ihnen verheiratet ist. Natasha, die einen schweren Verlust erlitten hat, bekommt immerhin unvermittelt eine neue Chance. Auch Hanna kann ihre aktuelle Lebenssituation mit ihrem Ehemann, den sie hasst, nicht länger ertragen und reflektiert über ihre verpassten Chancen. Doch sie belässt es nicht dabei, sondern plant einen Ausweg.
Genau diese Stärke zeichnet die Frauen aus, die Roxanne Gay skizziert: Sie kämpfen darum, etwas zu verändern, ihr Leben zu verbessern und scheuen dabei keine Konfrontation. In solchen Momenten schlägt die Autorin einen härteren Ton an in ihrer sonst unaufgeregten Erzählweise.
Die meisten Geschichten sind entweder traurig, brutal oder verstörend und allesamt schwer zu verdauen, bis auf "Requiem für ein Herz aus Glas", die von einem überfürsorglichen Steinewerfer und seiner Glasfrau handelt und fast etwas Märchenhaftes hat. Roxane Gay thematisiert die Bandbreite zwischen emotionaler sowie körperlicher Widerstandskraft und Verletzlichkeit innerhalb verschiedener Formen von Liebe, Hass und Abhängigkeiten in ihrem ganz eigenen Stil, der mir gut gefiel.
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Frei, aber unsichtbar

Der Roman „Das unsichtbare Leben der Adeline LaRue“ beginnt in dem kleinen französischen Dorf Villon-sur-Sarthe im Jahr 1714. Es ist eine Zeit, in der Frauen einen hohen Preis für ein selbstbestimmtes Leben zahlen mussten. Die junge Adeline LaRue geht gar einen Pakt mit dem Teufel ein, um vor ihrer Hochzeit zu fliehen. Und das hat Folgen! Von nun an kann sie zwar in völliger Freiheit leben, wird jedoch niemals altern und von allen Menschen vergessen.
Verwoben ist dieser Erzählstrang mit einer zweiten Zeitebene, die uns in das Jahr 2014 nach New York katapultiert. Spannend wird es, als Addie dort den Buchhändler Henry kennenlernt, der sich als einziger an sie erinnern kann.
Auch wenn die Geschichte an manchen Stellen Längen hat, fühlte ich mich der Hauptfigur sehr nahe – wie sie unter ihrem Fluch und der Einsamkeit leidet und jeden Moment und jede Begegnung euphorisch auskostet. Wir begleiten Addie durch drei Jahrhunderte europäischer Geschichte, in denen sie als Muse zahlreiche Künstler inspiriert und sich in ihren Werken verewigt. Eine außergewöhnliche Idee, die V.E. Schwab in poetischer Sprache und atmosphärischen Bildern in einen Fantasy-Roman verpackt.
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Lektionen fürs Leben

Mit der Devise „Übung macht den Meister“ kommt man bei Madame Pylinska nicht weit. Das bekommt auch Eric in „Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin“ zu spüren, der nach Paris gezogen ist und auf Empfehlung die titelgebende polnische Klavierlehrerin aufsucht. 
Seitdem ihm in seiner Kindheit seine Tante Aimée ein Stück von Chopin vorgespielt und ihn mit den Klängen regelrecht verzaubert hat, will er diese nun selbst dem Klavier entlocken können, was ihm allerdings missglückt. Doch was tut Madame Pylinska? Sie hält ihn vom Klavier fern und gibt ihm stattdessen ganz merkwürdige Aufgaben: Er soll im Jardin Du Luxembourg Blumen pflücken, ohne den Tau fallen zu lassen oder an einem windigen Tag die Bewegung der Bäume und Blätter beobachten.
Von Chopin, einem meiner Lieblingskomponisten, habe ich vor langer Zeit den Minutenwalzer rauf und runtergespielt. Zu gern hätte ich eine Lehrerin wie Madame Pylinska gehabt, die mir nicht nur das fehlerfreie Spiel und Fingerfertigkeit, sondern körperliche und geistige Feinfühligkeit beibringt und den Weg zu einer sinnlichen Erfahrung in allen Lebenslagen aufzeigt. 
Wie die exzentrische und resolute Lehrerin ihren anfangs voreingenommenen Schüler und seine Sicht auf die Dinge verändert, erzählt Eric-Emmanuel Schmitt humorvoll, poetisch und mit typisch französischem Charme. Zum Schluss schlägt er einen schönen Bogen zu Chopins und auch Tante Aimées Geheimnis.
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Eine Schatzkiste für Buchliebhaber

Dass Bücher unsere Fantasie anregen, ist wohl unumstritten, doch Grant Sniders setzt in „Dein Bücherregal verrät dich“ noch eins drauf. Selbst entrückte Büchernarren werden staunen und schmunzeln über die vielen originellen Ideen, die in den liebevoll gezeichneten Cartoons stecken. 
Ein Buchmarkt im Freien mit einem Dichterstreichelzoo, einem Kettenromankarussell und einem Antagonisten-Autoscooter – Da wäre ich sofort dabei. Manches Schreibwerkzeug wie Textglättbrett oder Metaphernmixer würde ich mir ebenfalls wünschen. Natürlich erkannte ich mich in vielen Situationen wieder, zum Beispiel wie ich das Bücherregal anderer inspiziere, meine Bücher sortiere oder was ich mit halbgelesenen Büchern anstelle.
Man sollte sich unbedingt Zeit nehmen, um sich die vielen Details nicht entgehen zu lassen, besonders im „Schreibblock“ oder „Im Ministerium für Poesie“, die Wimmelbildern gleichen. Grant Sniders Liebe zu Büchern spricht aus jeder Zeichnung, aus jedem feinen Strich. Auch die ausgefallenen Konzepte anderer Künstler wie Rudine Sims Bishop oder Remy Charlip, die ich nicht kannte, setzt er gelungen um. 
Der New-York-Times-Zeichner widmet sich nicht nur Büchern, sondern auch der Schrift und ambitionierten Schriftstellern, stellt Wundermittel gegen Schreibblockaden und einen Kurort für Schreibende vor. Die humorvollen Bildgeschichten illustrieren auf zauberhafte Art, wie kostbar die Momente sind, „die du nur kennst, wenn du Bücher liebst“.
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Sie liebte unendlich Gesellschaft

In dem schmalen, schmucken Bändchen „Ich liebe unendlich Gesellschaft. Rahel Varnhagen – Das Leben einer Salonière“ zeichnet Dorothee Nolte das Leben einer Jüdin, die im Laufe ihres Lebens verschiedenste Rollen einnahm: Tochter eines cholerischen Juwelenhändlers, Verfasserin von über 6.000 Briefen, unglückliche Geliebte, Flüchtling, Wohltäterin und Ehefrau. Doch am meisten gefiel sie sich als Gesellschaftsdame, die Gäste wie die Humboldt-Brüder, die Familie Mendelssohn Bartholdy, Fürst Pückler und Heinrich Heine empfang. Zu gern hätte ich die Salonière persönlich kennengelernt und den geistreichen Gesprächen gelauscht. 
Die Autorin wirft nicht nur Schlaglichter auf die Berliner und Pariser Salons, sondern auch auf das gesellschaftliche und politische Umfeld. Ob Rahels erste größere Reise nach Breslau, ihre Begegnung mit Goethe oder ihre unerfüllten Gefühle für Karl Graf Finck von Finckenstein – Dorothee Nolte verdichtet Wissenswertes und Kurioses zu humorvollen Geschichten, garniert mit zahlreichen Zitaten.
Es ist eine kurzweilige, gelungene Hommage an eine Frau, die zeitlebens verrückt war nach Nahrung für Geist und Gemüt und sich nichts sehnlicher wünschte als Frieden und die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
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Ein wilder Flug durch die Ehe

Bei vielen Künstlern frage ich mich, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie nicht eine starke Frau an ihrer Seite gehabt hätten. Nachdem ich „Madame Exupéry und die Sterne des Himmels“ gelesen habe, gehört nun auch Antoine de Saint-Exupéry dazu.
Sophie Villard erzählt die Liebesgeschichte zwischen ihm und der jungen Witwe Consuelo Suncin Sandoval de Gómez aus El Salvador, die sich auf einer Party in Paris kennenlernen. Diese erste Begegnung, die in einen abenteuerlichen Flug mündet, ist bezeichnend für ihre gesamte Beziehung und ihre turbulente Ehe.
Durch die lebendigen Dialoge und Szenenbeschreibungen, sei es in Nizza, Casablanca, Buenos Aires oder New York, hatte ich die beiden klar vor Augen: Er ein übermütiger Streckenpilot bei der Luftpost, der die Nachtflüge liebt und immer wieder egoistische Entscheidungen trifft, sie eine Frau, die von seiner Fantasie und schriftstellerischen Begabung fasziniert ist und alles tut, um ihn darin zu fördern. Dabei ist sie selbst eine talentierte Malerin, die mit Künstlern wie Derain, Picasso und Bréton verkehrt. 
Wie schwer muss es für sie gewesen sein, an der Seite eines Mannes zu leben, der es mit der Treue nicht so genau nimmt, sich ständig in waghalsige Abenteuer stürzt und nur knapp dem Tod entrinnt. Was sie dabei durchmacht, wie sie mit sich hadert und wie die Liebe zwischen ihnen vielen Schicksalsschlägen standhält, erzählt die Autorin so einnehmend, empathisch und elegant, dass ich den Roman verschlungen habe. Es gelingt ihr wunderbar, das Porträt einer bemerkenswerten Frau mit der Entstehungsgeschichte von „Der kleine Prinz“ zu verweben – ein Buch, das zum Lieblingsstoff meines Französischlehrers zählte, und das ich nun mit ganz anderen Augen lesen werde.
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Einzeln sein und was man daraus macht

Ob Social-Media-Hype oder Corona-Krise – das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft begegnet uns im Alltag immer wieder. Daher weckte das Hörbuch „Einzeln sein“ von Rüdiger Safranski gleich mein Interesse. Er unternimmt mit uns eine Zeitreise beginnend in der Renaissance und zeigt, wie Philosophen und Künstler sich selbst und die eigenen Möglichkeiten, die sich dabei auftun, entdeckten.
Den Drang, seine eigene Originalität nach außen zu tragen und unverwechselbare Spuren zu hinterlassen, erkennt der Autor bei Renaissancekünstlern wie Raffael oder da Vinci, die glaubten, sich mit ihren einzigartigen Begabungen zum Göttlichen erheben zu können. Ganz anders Luther, der erst über die Vereinzelung und Selbstüberwindung in einem Kloster die Ängste vor seinen Schuldgefühlen ablegen und zu der 'Freiheit eines Christenmenschen' finden konnte. 
Ich fand es sehr spannend, dem Werdegang und den Gedanken eines Rousseau, Montaigne, Stendhal oder einer Hannah Arendt zu folgen und zu beobachten, wie sich aus dem zunehmenden Hang zur Selbstdarstellung und Selbstinszenierung essentielle Konzepte zur Selbstverwirklichung, die die gesellschaftliche Vielfalt bereichern, entwickelten. Rüdiger Safranski geht dabei auf ganz unterschiedliche Erfahrungen und feine Nuancen ein, zum Beispiel wie manche versuchten, sich zu ihrem eigenen Vorteil von anderen zu unterscheiden während andere den völligen Rückzug zu sich selbst in der Natur erlebten oder das Einzelnsein zu ihrer Lebensaufgabe machten.
Ich war verblüfft, wie viele Denkansätze sich in heutigen Selbsthilfebüchern wiederfinden. Das Thema Massenpsychologie und die Gegenüberstellung von Originalität und Nachahmung ließen mich an Influencer und Follower denken. Der Stoff, den uns Rüdiger Safranski präsentiert, ist sehr umfangreich, doch nie ermüdend oder langweilig, was auch dem Sprecher Frank Arnold zu verdanken ist, der genau im richtigen Tempo und mit angenehmem Timbre liest. Zwischen- und Schlussbetrachtungen, in denen der Autor das Wesentliche zusammenfasst, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Thesen herausstellt und zum Nachdenken anregt, runden das sehr aktuelle und hörenswerte Werk ab.
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Qualen einer erfolglosen Schriftstellerin

Wie vielen jungen Leuten, die von einer Karriere als Schriftsteller träumen, wird es wohl so gehen wie Casey in „Writers and Lovers“ von Lily King? Sie ist hoch verschuldet, hält sich mit einem Job als Kellnerin finanziell über Wasser und arbeitet seit sechs Jahren an ihrem ersten Roman. Grund zur Freude hat sie im Leben kaum: Ihre Mutter ist vor kurzem überraschend gestorben, ihr Freund hat sie verlassen und der wachsende Schuldenberg gepaart mit gesundheitlichen Sorgen und Schreibblockaden sorgen für regelmäßige Panikattacken. 
Das ändert sich, als gleich zwei interessante Männer in ihr Leben treten: Da ist Oscar, ein liebevoller Witwer mit zwei Söhnen, de sich bereits als Schriftsteller etabliert hat; Und Silas, ein hoffnungsvoller Schreiberling, der nicht ganz zu durchschauen ist, aber ihr Herz höher schlagen lässt.
Ich lese sehr gern Romane mit autobiografischen Zügen über Schriftstellerinnen und die, die es werden wollen. Auch die positiven Rezensionen machten mich neugierig auf diesen Roman, doch leider fand ich keinen richtigen Zugang zu Casey - weder in ihrer qualvollen und deprimierenden Lebensphase als auch zum Ende hin, als sich auf wundersame Weise alles zum Guten wendet.
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Champagnertrinkende Tanzpionierin und Rebellin

Isadora Duncan – eine Frau, die als Pionierin des modernen Tanzes gilt und ihn zu einer Kunstform erhob. Sehr viel mehr wusste ich über die weltberühmte Tänzerin nicht, bis ich mich dank Michaela Karl und ihrem Buch „Lasst uns tanzen und Champagner trinken – trotz alledem!“ tiefer in ihr Leben versenken konnte.
Die geschichtliche Einordnung zu Beginn fand ich sehr hilfreich, um zu verstehen, dass der Amerikanerin mit irischen Wurzeln, die in San Francisco aufwuchs, Werte wie Unabhängigkeit, Individualismus und Selbstvertrauen in die Wiege gelegt wurden. Nach einer schweren, entbehrungsreichen Kindheit träumt sie davon, eine Tanzschule zu gründen, in der sie nicht nur Ausdruckstanz, sondern auch freie Lebensführung vermittelt. 
Doch der Weg dahin ist steinig und verschlägt sie in verschiedenste Städte wie Chicago, London, Paris, München und St. Petersburg. Von Hochs und Tiefs zu sprechen, wäre glatt untertrieben. Schlief sie an einem Tag noch mittellos und ausgehungert auf der Parkbank, quartiert sie sich am Tag darauf im teuersten Hotel der Stadt ein und schlürft Champagner. Diese extremen Widersprüche, die sich durch ihr Leben ziehen, macht die Autorin bereits im Buchtitel "... trotz alledem!" und durch zahlreiche Zitate aus ihren Memoiren und aus Briefen und Tagebüchern ihrer Zeitgenossen sichtbar.
Auch ich war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung, Anteilnahme und Unverständnis. Die Isadora, die im British Museum mit ihren Geschwistern die Posen der griechischen Antike studierte, sich von der Natur inspirieren ließ und unerschrocken auf der Bühne barfuß und in flatternden Gewändern tanzte, gefiel mir. Ihr extremer, ausschweifender Lebensstil nach einem Schicksalsschlag und ihr Umgang mit hilfsbereiten Freunden machten sie dagegen unsympathisch. Michaela Karl zeigt in dieser detailreichen Biografie, welcher Mensch mit seinen täglichen Sorgen, Freuden und ehrgeizigen Träumen hinter der Legende steckt.
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Tagebuch über „die härteste Zwischenzeit“

Wenn mich ein Buch beeindruckt, möchte ich gern hinter die Kulissen schauen. So erging es mir nach der Lektüre von „Die Liebe unter Aliens“, einer Kurzgeschichtensammlung von Terézia Mora. Daher wurde ich aufmerksam auf ihr Tages- und Arbeitsbuch „Fleckenverlauf“ und erhoffte mir einen Einblick in ihr Leben und ihre Inspirationsquellen.
Die ungewöhnlichen Erzählungen des besagten Bandes kommen tatsächlich mehrmals in ihren Eintragungen vor. Mehr Raum nimmt jedoch Darius Kopp, die Hauptfigur ihrer Romantrilogie, ein. Daneben beschreibt Terézia Mora Beobachtungen und kleine Glücksmomente in ihrem Alltag und zitiert Schriftsteller, Serien und Filme. Freunde und Bekannte kommen kaum vor, ihre Gedanken kreisen vielmehr um ihre schlechte gesundheitliche Verfassung und ihren Alltag als Schriftstellerin und Übersetzerin. Wenn sie Gründe dafür aufzählt, was sie vom Schreiben abhält – zeitraubender E-Mail-Verkehr, Arzt- und Pressetermine, Kindererziehung etc. – stellt man fest, dass es ihr nicht anders ergeht als ihren Berufskolleg/innen.
Manche Kommentare brachten mich zum Schmunzeln, zum Beispiel dass Reiseschriftsteller an exotische Orte fahren, „damit das, was sie machen, nach was aussieht“, auch wenn ich ihre Meinung nicht teile. Ich konnte zwar die Schriftstellerin ein wenig näher kennenlernen und nachfühlen, warum sie die sieben Jahre bis zu ihrem 50. Lebensjahr als "die härteste Zwischenzeit“ bezeichnet, doch die Lektüre ihrer Geschichten hat mir mehr Freude bereitet als ihre Momentaufnahmen.
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Ein Leserbrief, der alles verändert

Kein Wunder, dass Jean Swinney, Redakteurin einer lokalen Tageszeitung, bei diesem Leserbrief stutzig wird: Die Verfasserin Gretchen Tilbury behauptet, ihre Tochter sei durch eine Jungfrauengeburt auf die Welt gekommen. Jean wittert eine spektakuläre Story und will der Sache auf den Grund gehen. Womit sie allerdings nicht gerechnet hat: Je näher sie Gretchen, deren Tochter Margaret und Ehemann Howard kennenlernt und Zeit mit ihnen verbringt, desto mehr wächst ihr die Familie ans Herz.
Man begreift schnell, dass für Clare Chambers in ihrem Roman „Kleine Freuden“ die mysteriöse Geschichte rund um die Geburt eher Beiwerk ist und der Fokus auf der Protagonistin liegt, was auch der Titel verrät. Eine Frau, Ende Dreißig, die die Pflege ihrer Mutter als große Last empfindet und sich in ihrem unscheinbaren Leben mit kleinen Freuden begnügt, muss sich auf einmal großen Gefühlen und schweren Entscheidungen stellen. Die präzise Zeichnung der Figuren gelingt der Autorin ausgesprochen gut, auch wenn die schwierige Beziehung zwischen Jean und ihrer Mutter etwas in die Breite getreten wird.
Ich muss zugeben, dass ich eine etwas andere Entwicklung erwartet hatte, in der die wissenschaftlichen Recherchen mehr im Vordergrund stehen. Immer dann, wenn ich mich fragte, wo die Geschichte eigentlich hinsteuert, kam eine neue überraschende Wende, so dass sich zum Schluss die Puzzleteile doch zu einem Ganzen fügten.
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Die Geschichte der Diwan Bookstores

Wenn man sich etwas wünscht, das es noch nicht gibt, sollte man es einfach selbst erschaffen. Genau das taten die Schwestern Nadia und Hind Wassef mit ihrer Geschäftspartnerin Nihal Schawky. Sie gründeten im März 2002 die erste unabhängige Buchhandlung in Kairo und nannten sie „Diwan“. 
Welche Hürden sie dafür aus dem Weg räumen mussten, schildert Nadia Wassef in ihrem Buch „Jeden Tag blättert das Schicksal eine neue Seite auf“. Ich habe mich bisher wenig mit Ägypten beschäftigt und fand es spannend, Einblick in das dortige Verlagswesen, den Buchhandel und die Literaturszene zu bekommen.
Wir begleiten die Autorin von einer Regalwand des Buchladens zur nächsten und erfahren, wie das Sortiment in den verschiedenen Abteilungen wie ägyptische Klassiker, fremdsprachige Bücher, Kulinarik, Business, Mutterschaft etc. zustande kam und welche Bücher besonders gut bei den Kunden ankommen. Dabei bekam ich große Lust, selbst in den Regalen zu schmökern und die illustre Kundschaft zu beobachten. 
Von einzelnen Buchtiteln und ihrem Berufsalltag macht Nadia Wassaf einen eleganten Schlenker zu Themen wie die ägyptische Kultur, die Zensur oder das Frauenbild in der Gesellschaft. Sie gibt auch viel Persönliches preis, erzählt von Kindheitserinnerungen, beschreibt die unterschiedlichen Charaktere und Rollen der drei Buchhändlerinnen, den schwierigen Umgang mit jüngeren männlichen Angestellten und unternehmerische Entscheidungen bei der Gründung weiterer Filialen. Das Buch ist emotional packend und lehrreich zugleich und wird sicher nicht nur Fans von Büchern und Buchhandlungen wie mich begeistern.
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Eine Reise zu den eigenen Wurzeln

Irgendwann kommt wohl für jeden der Moment, in dem man gezwungen wird, sich mit seinen Wurzeln zu beschäftigen. Bei Kieu, Ich-Erzählerin in „Wo immer ihr auch seid“, ist eine Facebook-Nachricht von ihrem Onkel, der in Kalifornien lebt, der Auslöser. Zur Testamentseröffnung von Kieus verstorbener Großmutter trommelt er die gesamte Familie zusammen.
Für Kieu, die als Kind vietnamesischer Einwanderer in West-Berlin geboren wurde, ist es eine Reise in die Fremde und zugleich zu sich selbst. Schon immer versuchte sie, deutsch zu sein und so behandelt zu werden. Wie unwohl sie sich daher in Gesellschaft ihrer Verwandten fühlt, kommt besonders beim gemeinsamen Essen zum Ausdruck. Was es heißt, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen, kenne ich selbst nur zu gut. Dabei stellt man sich als Leser ganz ähnliche Fragen wie die Autorin selbst: Was steckt hinter dem Zerwürfnis zwischen ihrem Vater und ihrem Onkel?
Zum Glück lässt uns Khuê Pham nicht im Unklaren und erzählt uns parallel die Lebensgeschichte der Brüder. Der eine konnte durch ein Medizinstudium in Berlin dem Vietnamkrieg entkommen, der andere nicht. In ihren persönlichen Schicksalen spiegeln sich sowohl die Brutalität und Folgen dieses Krieges als auch die ganz unterschiedlichen Sichtweisen wider, was mir sehr nahe ging. Auch sprachlich gefiel mir der Roman sehr gut. Khuê Pham setzt sich nicht nur intensiv mit ihrer eigenen Familiengeschichte, sondern auch mit Themen wie Kriegsschrecken, Entwurzelung und Identität auseinander, die leider nichts an Aktualität eingebüßt haben.
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Zeitreise in die 50er Jahre

Sie glauben den Traummann gefunden und ein wundervolles Eheleben vor sich zu haben. Doch den beiden Heldinnen in dem Roman „Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau“ kommen schon nach wenigen Jahren große Zweifel. Eine weitere Sache haben die beiden gemein: Sie leben in der gleichen Villa in einem Vorort von New York – allerdings zu unterschiedlichen Zeiten: Nellie in den 1950er Jahren, Alice im Jahr 2018.
Karma Brown entfaltet abwechselnd das Alltagsleben der beiden Frauen und macht das Haus zum Herzstück des Geschehens. Während Nellie sich mit großer Leidenschaft der Gartenarbeit und dem Kochbuch ihrer Mutter widmet, fühlt sich die arbeitslose Nachmieterin Alice von den kräftezehrenden Renovierungsarbeiten überfordert und von ihrem Ehemann unverstanden. Sie sehnt sich nach ihrem Job in der PR-Branche und dem Trubel in Manhattan zurück. Durch die parallele Erzählweise und die eingestreuten Zitate aus früheren Hausfrauen-Ratgebern erkennt man deutlich, inwiefern sich das Frauenbild – zum Glück! - verändert hat und inwieweit sich die Erwartungshaltung der Ehemänner in Sachen Häuslichkeit und Nachwuchs doch noch ähnelt.
Als Alice im Keller das besagte Kochbuch entdeckt und beginnt, ein Rezept nach dem anderen nachzukochen, spürt sie eine immer stärkere Bindung zu ihrer Vormieterin. Die Art und Weise, wie sie teils in Nellies Rolle hineinwächst, teils sich klar abgrenzt, erzählt Karma Brown intelligent und feinfühlig. Ein faszinierender Roman mit überraschenden Wendungen, den ich in wenigen Tagen verschlungen habe.
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Gescheitert und gestrandet

Wenn man ins Exil geschickt wird, ist ein Hotel am Genfer See sicherlich nicht der schlechteste Ort – noch dazu, wenn man einen Roman schreibt und sich Inspirationen von seiner Umgebung erhofft. Edith Hope, Heldin des Romans „Hotel du Lac“ von Anita Brookner lebt sich jedenfalls recht schnell ein und beobachtet im Speisesaal jeden einzelnen Hotelgast eingehend. Mal stellt sie Vermutungen an, was für ein Leben sie führen, mal dichtet sie ihnen fantasievolle Lebensgeschichten an. 
Als sie einige Gäste näher kennenlernt, zum Beispiel die Witwe Iris Pusey und ihre Tochter Jennifer, die ständig auf Shopping Tour gehen, stellt sie fest, dass sie mit ihren Vorstellungen häufig daneben liegt. Ihre Beobachtungen über die größtenteils gescheiterten und gestrandeten Gäste berichtet Edith in Briefen einem geheimnisvollen David und lüftet damit nach und nach das Geheimnis über ihren Fehltritt in ihrer Heimatstadt London.
Interessant wird es vor allem dann, wenn nicht sie die Beobachtende ist, sondern Gäste wie Philip Neville ihr Verhalten und ihren Charakter analysieren. So kommt es zu geistreichen und humorvollen Wortwechseln, bei denen Edith ungewöhnlich direkt ist. Viel passiert in dieser Geschichte nicht, außer dass Edith durch die Zufallsbekanntschaften immer mehr über sich selbst erfährt. Sprachlich ist der Roman ein Genuss, doch inhaltlich hält er wenig Überraschungen bereit.
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Sei nett – auch zu dir selbst

Kann man nett zu jemandem sein und damit sich und anderen schaden? Man kann, erklärt Martin Wehrle in seinem Buch „Den Netten beißen die Hunde“ anhand zahlreicher Beispiele aus seiner Beratungspraxis. Zum Beispiel wenn man als Führungskraft nicht hart durchgreift, wenn es erforderlich ist, bei Gehaltsverhandlungen nicht für seine Interessen eintritt oder die ständige Unpünktlichkeit von Freunden akzeptiert.
Der Autor beschreibt kurzweilig und sehr anschaulich, wie schnell Betroffene in die Freundlichkeitsfalle tappen und geht der Sache genau auf den Grund. Als häufige Ursachen nennt er Glaubenssätze aus der Kindheit, die unser Verhalten steuern, oder die Angst vor Ausgrenzung. Dabei erreichen sie mit ihren Selbstzweifeln und übertriebener Rücksichtnahme oft genau das Gegenteil und machen sich unbeliebt.
In jedem Kapitel geht der Karriere- und Persönlichkeitscoach systematisch vor, fasst Kernpunkte prägnant zusammen und leitet Empfehlungen ab, so dass man seinen Gedankengängen gut folgen und das Gelernte festigen kann. In zahlreichen Übungen fordert er uns auf, uns Situationen aus dem Berufs- und Privatleben ins Gedächtnis zu rufen, unsere Motive zu analysieren und alternative Reaktionen durchzuspielen. Er bezieht dabei auch die Bedeutung der Sprache und Körpersprache mit ein und warnt vor sprachlichen Weichmachern.
Vor der Lektüre hätte ich mich noch als zu nett eingeschätzt, doch der Selbsttest und die Übungen ergaben zu meinem Erstaunen ein anderes Bild. Besonders die genaue Differenzierung, in welchen Situationen eine wohldosierte Freundlichkeit angemessen ist, und die Tipps, wie man gleichzeitig nett zu anderen und zu sich selbst sein kann, machen das Buch zu einem wertvollen Ratgeber.
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Schicksalhafte Verbindung dreier Menschen

Selten habe ich ein Buch gelesen, in dem die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen so einfühlsam beleuchtet wird wie in dem Roman „Im letzten Licht des Herbstes“ von Mary Lawson.
Dass ein Teenager namens Rose in der kanadischen Kleinstadt Solace spurlos verschwunden ist, spielt eher eine Nebenrolle. Vielmehr geht es um ihre jüngere Schwester Clara, die am Boden zerstört ist. An ihre vertraute Nachbarin Elisabeth Orchard kann sie sich nicht wenden, da diese im Krankenhaus liegt; ihren Eltern, die ihr Dinge verschweigen, traut sie nicht mehr. So knüpft sie aus lauter Verzweiflung Kontakt zu dem fremden Mann Liam, der in Elisabeths Wohnung gezogen ist.
In weiteren Erzählsträngen lernen wir sowohl Liam, der einen Neuanfang wagt, als auch Elisabeth, die ihren Erinnerungen mit ihrem verstorbenen Mann nachhängt, näher kennen. Was die beiden Figuren miteinander verbindet und offenbar wieder entzweit hat, verrät die Autorin nur häppchenweise und baut so einen großen Spannungsbogen auf. Dabei gibt sie jeder Figur viel Raum.
Es ist bemerkenswert, wie souverän sie zwischen der kindlichen Perspektive und der Erwachsenensicht wechselt und uns tief in ihre Seelen blicken lässt. Claras Entschlossenheit, das Revier ihrer Nachbarin zu schützen, oder Liams Bemühen, nicht die gleichen Fehler zu machen wie in seiner gescheiterten Ehe, haben mich tief berührt. Dieser Roman, in dem sich ein starker Moment an den nächsten reiht, zählt zu meinen Lesehighlights in diesem Jahr.
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Komplizierte Freundschaft

Ein Babysitter sollte schon bestimmte Voraussetzungen erfüllen, damit man ihm sein Kind anvertraut. Selten entwickelt sich jedoch gleich so eine enge Freundschaft wie in dem Roman "Friends and Strangers" („Fremde Freundin“) von J. Courtney Sullivan.
Die Schriftstellerin Elizabeth ist nach der Geburt ihres Babys mit ihrem Mann Andrew aus Brooklyn in eine Kleinstadt nahe New York gezogen und stellt die Studentin Sam als Kindermädchen ein. Sie ist wohlhabend, beruflich erfolgreich und hat vieles erreicht, worum andere sie beneiden, auch Sam. Die mittellose Kunststudentin stammt aus einer Arbeiterfamilie und ist noch mitten in der Selbstfindungsphase – sowohl was ihre berufliche Zukunft als auch ihre Fernbeziehung mit Clive angeht.
Trotz der gegensätzlichen Lebenssituationen verstehen sich die beiden immer besser, denn sie sind sich ähnlich: Sie haben wenig Selbstbewusstsein, suchen vergeblich Anschluss unter Gleichaltrigen und fühlen sich unverstanden.
Die Autorin lässt uns abwechselnd in die Köpfe von Elisabeth und Sam schauen und schafft durch ihre prägnante Erzählweise eine große Nähe. Spannend wird es besonders dann, wenn zu viel Nähe und Vertrauen durch neue Ereignisse oder Konstellationen in das Gegenteil kippen und eskalieren. Dazu tragen auch die Nebenfiguren wie Sams Kommilitonen, Elisabeths Eltern und Schwiegereltern bei. Courtney O’Sullivan beschreibt sehr sensibel nicht nur typische Familien- und Generationenkonflikte, sondern auch soziale und gesellschaftliche Missstände.
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Abenteuerliche Identitätssuche

Der Roman „Frey“ von Roland Freisitzer beginnt zunächst wie ein Ehedrama. Es gibt einen heftigen Streit zwischen dem titelgebenden Protagonisten Daniel Frey und seiner Frau – und das wegen ihrer Fernsehbesessenheit. Doch offenbar steckt mehr dahinter. Als Daniel das Weite sucht, spontan in einen Flieger nach Tokio steigt und seinen Sitznachbarn Daniel Bernhaugen näher kennenlernt, nimmt die Geschichte einen völlig unerwarteten Lauf.
Ich kann kaum die weitere Handlung wiedergeben ohne zu spoilern. Nur so viel sei verraten: Einer von den beiden überlebt einen Flugzeugabsturz, leidet unter Gedächtnisverlust und erlebt haarsträubende Abenteuer in Nagasaki.
Ich habe ja schon so manchen Genremix erlebt, doch Roland Freisitzer treibt es wahrlich auf die Spitze. Die Geschichte gleitet munter durch verschiedenste Gattungen – von Drama, Thriller über Gangster- und Actionkomödie bis hin zu Mystery. Dass der Autor dabei sichtlich Spaß hat, ist auf jeder Seite zu spüren. Er spielt nicht nur mit den Genres, sondern auch mit Illusion und Wirklichkeit. Ich rechnete damit, dass der Protagonist in jedem Augenblick aus einem verrückten Traum erwachen wird, und staunte über die fundierten Japankenntnisse des Autors, sei es auf kulinarischem, literarischem oder kulturgeschichtlichem Gebiet. Er schreibt flüssig und humorvoll – Kaum zu glauben, dass dies sein Debütroman ist.
Eine Rettungsaktion zog sich für meinen Geschmack etwas in die Länge. Davon abgesehen hat mich die Lektüre sehr unterhalten. Vor allem dreht sich die Geschichte um einen Gedanken, der auch mich fasziniert: Was wäre, wenn man aus seinem Alltag ausbrechen und das Drehbuch für sein eigenes Leben schreiben könnte?
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Spannende Reise durch ein Adressbuch

Manche Schriftsteller suchen mühsam nach interessantem Stoff für ein neues Buch, anderen fällt er buchstäblich in den Schoß – so wie Brigitte Benkemoun. In einer Vintage Kalenderhülle entdeckt sie ein Adressbuch mit lauter Namen berühmter Künstler wie Bréton, Braque, Cocteau und Éluard.
Wir begleiten die Autorin bei ihrer spannenden Detektivarbeit, bis sie schließlich herausfindet, dass es sich um „Das Adressbuch der Dora Maar“ handelt. Sie nutzt diesen unglaublichen Fund für eine fragmentarische Künstlerbiografie: Statt den Lebensweg chronologisch zu erzählen, knüpft sie sich einen Namen nach dem anderen aus dem Büchlein vor und spürt auf, in welcher Beziehung sie zur Besitzerin standen.
So formt sich nach und nach das Bild einer Frau, die ich bisher nur als Malerin und Picassos Geliebte kannte. Ich wusste nicht, dass sie zuvor eine erfolgreiche Mode- und Werbefotografin gewesen war, nach der Trennung von Picasso an starken Depressionen litt und sich immer mehr dem Glauben und der Mystik zuwandte.
Manchmal rauchte mir der Kopf bei dem umfangreichen Personenensemble aus Surrealisten, Dichtern, Galeristen, Freunden und Bekannten. Zum Glück schreibt Brigitte Benkemoun sehr unterhaltsam und in einem lockeren Ton, als vertraue sie einer Freundin eine interessante Neuigkeit an.
In einer Zeit, in der wir Kontaktdaten digital pflegen, ging für mich ein umso größerer Reiz von diesem Adressbuch und der Vorgehensweise aus. Ich habe die Reise durch das Büchlein zu verschiedenen Orten wie Paris, Ménerbes und Brüssel sehr genossen und dank der akribischen Recherche viel Neues über Dora Maar und ihr Umfeld erfahren. Nun kann ich dem berühmten Gemälde "Weinende Frau“ von Picasso ein Gesicht zuordnen.
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Traurige Bilanz einer Ehe

Ein Ehepaar, das sich entfremdet hat, und ein Urlaub in der Uckermark, der zeigen wird, was noch zu retten ist - Das sind die Zutaten des Romans „Der Brand“ von Daniela Krien. Eigentlich recht unspektakulär und doch entwickelt die Geschichte von Anfang an eine starke Sogwirkung.
Der Alltag von Rahel und Peter auf einem Bauernhof liest sich wie ein Kammerspiel. Während Rahel Peters Nähe sucht und sich um eine Aussprache bemüht, scheint sich dieser in der Gesellschaft der Tiere wohler zu fühlen. Die landschaftlichen Beschreibungen der Uckermark gelingen Daniela Krien ebenso gut wie der Blick in Rahels Gefühlswelt. Immer wieder verquickt sie bissigen Humor mit Melancholie und Bitterkeit.
Nach und nach erfahren wir mehr über die Hintergründe der Ehekrise und weitere Familienkonflikte, besonders als ihre Tochter Selma anreist. Geschickt lässt die Autorin auch aktuelle Themen wie die Gender-Diskussion oder Konsumkritik in die Handlung einfließen. Es gibt immer wieder kleine Momente, in denen die Vertrautheit und Zuneigung zwischen Rahel und Peter aufblitzen und die mir Hoffnung machten auf ein Happy End.
Ich finde den Roman sowohl inhaltlich als auch stilistisch großartig und habe ihn verschlungen. Dinge, die eine glückliche Ehe ausmachen und die sie wieder zerstören können, bringt Daniela Krien mal unterschwellig, mal plakativ, aber immer treffsicher auf den Punkt.
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Es lebe die Gemeinschaft

Hubert Bird, Held des Romans „All the lonely people“ von Mike Gayle, hätte allen Grund zur Freude. Seine Tochter Rose, die als Professorin in Australien arbeitet, kündigt an, ihn endlich in London zu besuchen. Doch der 84-jährige Witwer verfällt in Panik. Wie soll er auf die Schnelle die ganzen „Freunde“ herbeizaubern, die er in seinen wöchentlichen Telefonaten erfunden hatte, damit sie sich keine Sorgen macht?
Vielleicht kann ja die Nachbarin Ashleigh helfen, die frisch nach London gezogen ist und Anschluss sucht. Als er die junge alleinerziehende Mutter und ihre kleine Tochter Layla näher kennenlernt, wird ihm erst bewusst, wie einsam er in Wirklichkeit all die Jahre war, obwohl er es sich nie eingestehen wollte.
Ihren besonderen Charme hat die Geschichte dadurch, dass sie abwechselnd auf zwei Zeitebenen spielt. Parallel erfahren wir, wie der junge Hubert aus seine Heimat Jamaika verließ, um in London sein Glück zu versuchen und zu dem Mann wurde, der er heute ist. Gespannt verfolgt man zum einen die bewegende Lebensgeschichte eines Windrush-Migranten, zum anderen den gesellschaftlichen Wandel seit den 1950er Jahren. Mike Gayle ist ein herzerwärmender, humorvoller und lebensbejahender Roman mit vielen liebenswerten Figuren gelungen, der sich zugleich um ernste Themen wie Migration, Rassismus, Verlust und Einsamkeit dreht.
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Ein Leben im Farbenrausch

Frida Kahlo zählt wohl zu den wenigen Malerinnen, die in den Medien und in der Literatur genauso viel Beachtung finden wie ihre männlichen Kollegen. Erneut ist eine Biografie über sie erschienen, diesmal von Claire Berest mit dem Titel „Rien n‘est noir“ („Das Leben ist ein Fest“).
Die Kapitel sind nach Farbwelten benannt, was ich sehr passend finde, denn es geht vor allem um die Emotionen der Malerin in allen Nuancen und Schattierungen. Auslöser dieser Emotionen ist in erster Linie ihr unberechenbarer Ehemann Diego Rivera. Das Fatale liegt darin, dass Frida von Diego geliebt werden möchte und Diego von der ganzen Welt. 
Als ob ihr der egozentrische Maler nicht schon genug Verletzungen zufügen würde, kommen seit ihrem schweren Busunglück körperliche Schmerzen hinzu, die sie ein Leben lang quälen. Man begleitet Frida mal mit, mal ohne Diego durch verschiedene Lebensstationen wie Coyoacán in Mexico, San Francisco, New York und Paris und erfährt, wie sie sich als Künstler gegenseitig beeinflussten.
Die Autorin erweckt die leidenschaftliche Malerin zum Leben, in dem sie sich mit ähnlichem Temperament nahezu in Ekstase schreibt. Stellenweise war mir die Darstellung der Gedankengänge, die auch mal eine ganze Seite sprengten, zu deskriptiv und ausufernd. Gibt man sich ihrem impulsiven Schreibstil hin, spürt man vor allem Berests Begeisterung für die Künstlerin.
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Von Surf-Pionierinnen aus aller Welt lernen

Es gibt Bücher, die mir eine völlig unbekannte Welt eröffnen und meinen Horizont ungemein erweitern. „Die nächste Welle ist für dich“ von Dörthe Eickelberg ist so eines. Erwartet hatte ich einen Erfahrungsbericht einer Journalistin und leidenschaftlichen Surferin, die verschiedene Länder bereist und Surf-Pionierinnen trifft, um ihre Ängste zu überwinden. Doch das Buch bietet weitaus mehr als das. Auf jeder Reisestation tauchen wir nicht nur in die oft von Männern dominierte Surferszene ein, sondern bekommen auch Einblick in die jeweilige Kultur und das Rollenbild der Frau.
In Chennai an der Südküste Indiens zum Beispiel trifft die Autorin auf Shaila, die große Opfer bringen musste, um ihrer Tochter Aneesha das Surfen zu ermöglichen, und begleitet die beiden zu den ersten Surfmeisterschaften des Landes. Suthu, die vermutlich erste schwarze Surferin, bringt uns in Durban einheimische Bräuche und die demütige Einstellung der Menschen zum Ozean näher. Auf Hawaii erfahren wir, woher Paige, die Weltmeisterin im Big Wave Surfen, ihren Mut nimmt.
Jede Begegnung und gemeinsame Surfsession regen die Autorin zur kritischen Selbstreflexion an. Sie schreibt so persönlich und mitreißend, dass sie selbst mir, die sich noch nie auf ein Surfbrett getraut hat, den Sport ein wenig schmackhaft machen konnte. Was man sich beim Surfen (zu-)traut und wie man sich behauptet, lässt sich auf viele andere Lebensbereiche wie die Arbeitswelt übertragen. Der gelungene Mix aus unterschiedlichen Frauenporträts, Surf-, Reise- und Erfahrungsbericht hat mich schlichtweg begeistert.
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Drei Freunde und ein Stück Zeitgeschichte

Über die Goldenen Zwanziger habe ich schon einige Bücher gelesen, doch ich wusste wenig über die Zeit davor und die Kehrseiten der Blütezeit. Andreas Izquierdo katapultiert uns in seinem Roman „Revolution der Träume“ mitten in diese Epoche des Umbruchs nach Berlin, wo die drei Protagonisten Carl, Isi und Artur einen Neuanfang wagen. Obwohl ich den ersten Teil der "Wege der Zeit"-Reihe nicht kenne, fand ich mich schnell in die Geschichte ein.
Dass die Handlung aus Carls Sicht erzählt wird, kam mir sehr entgegen, denn mit ihm konnte ich mich am besten identifizieren. Mit großer Neugier verfolgte ich sowohl sein erstes Filmprojekt als Kameramann bei der UFA als auch seine Bekanntschaft mit der geheimnisvollen Marlies. Durch Isi, die sich in einen Adligen verliebt, und Artur, der sowohl ein beliebtes Lokal als auch gefährliche Geschäfte in der Unterwelt betreibt, lernte ich das damalige Berlin in all seinen Facetten kennen. Die gegensätzlichen Charaktere sind sehr gut gezeichnet, nur mit Isis Entwicklung tat ich mich etwas schwer.
Andreas Izquierdo erzählt eine bewegende Geschichte über drei enge Freunde, die sich durch eine Zeit voller Unsicherheit und Gewalt durchschlagen und in jeder Lebenslage zusammenhalten, eingebettet in spannenden Geschichtsunterricht.
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Ein Haus mit besonderem Charakter

Der Roman „Das Holländerhaus“ von Ann Patchett wird seinem Titel voll und ganz gerecht. Die prunkvolle Villa, die der Hausherr Cyril in einem Vorort von Philadelphia erworben hat, spielt eine tragende Rolle. Gleich am Anfang wird nicht nur die Aufmerksamkeit der Leser, sondern auch die seiner Besucherin und Freundin Andrea auf das Haus und seine Gründer gelenkt.
Zu dem Zeitpunkt ahnt man noch nicht, welche schwerwiegenden Folgen der Einzug seiner künftigen Frau Andrea und ihren zwei kleinen Töchtern für die Familie und das Personal haben wird. Das Holländerhaus wird Zeuge vieler familiärer Dramen, die aus Sicht des achtjährigen Danny erzählt werden. Er kann von Glück reden, dass sich seine ältere Schwester Maeve seit dem Verschwinden der Mutter so fürsorglich um ihn kümmert.
So steht die innige Beziehung zwischen Danny und Maeve über mehrere Jahrzehnte hinweg im Mittelpunkt der Geschichte. Sehr einfühlsam beschreibt Ann Patchett wie ihr starker Zusammenhalt räumliche Distanzen, Meinungsverschiedenheiten und Schicksalsschläge standhält, und wie jeder auf seine Weise die Vergangenheit verarbeitet. Manchmal störte mich das ziellose Mäandern ein wenig, doch insgesamt habe ich das Familienepos sehr gern gelesen.
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Hoffnung auf einen Neuanfang

Patricia Highsmith war mir bisher nur als Krimiautorin bekannt. Umso neugieriger war ich auf ihren jüngst erschienenen Band „Ladies. Frühe Stories“, der 16 Kurzgeschichten umfasst.
Der Titel ist etwas irreführend, denn in manchen Geschichten stehen männliche Figuren im Vordergrund – zum Beispiel Aaron Bentley in „Die Morgen des ewigen Nichts“. Er hat seinen Job als Taxifahrer in New York an den Nagel gehängt und macht für eine Weile in der Kleinstadt Clement halt. Seine ersten Eindrücke und das Gefühl von Freiheit und Neuanfang werden so empathisch und nuanciert beschrieben, dass ich mich sofort in die Figur hineinversetzen konnte. 
Ähnlich ging es mir auch in der Erzählung „Die stille Mitte der Welt“. Mrs. Robertson sitzt in New York auf einer Parkbank und beobachtet, wie sich ihr dreijähriger Sohn Philip mit einem fremden Kind anfreundet. Dessen Mutter ist ihr äußerst suspekt, besonders als sich ein Mann zu ihr gesellt, der offensichtlich ihr Geliebter ist. Sehr subtil beschreibt Patricia Highsmith Mrs. Robertsons wachsendes Misstrauen und ihre Gefühle, die zwischen Neid und Abscheu schwanken. 
Patricia Highsmith ist eine scharfe Beobachterin und löst mit ihren Erzählungen Unbehagen und Beklemmung aus. Ihre Figuren hegen oft großes Misstrauen und sehnen sich danach, aus ihrem Umfeld auszubrechen. Manchen gelingt ein Neuanfang, der jedoch oftmals neue Enttäuschungen bereithält.
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Die wahre Lady Chatterley

D. H. Lawrence und sein berüchtigter Roman „Lady Chatterley“ sind sicher vielen ein Begriff, doch wer kennt seine große Liebe, die ihn zu dieser Figur und zu vielen weiteren berühmten Werken inspirierte? Von dieser besonderen Frau handelt der biografische Roman „Frieda von Richthofen“ von Annabel Abbs.
Frieda fühlt sich in der prüden und affektierten Gesellschaft in Nottingham und in der Ehe mit dem verknöcherten Professor Edgar Weekley fehl am Platz. Wer weiß, wie lange ihr trostloses Leben noch so weitergegangen wäre, hätte sie nicht ihre Schwester in München besucht. In der Schwabinger Bohème fühlt sie sich das erste Mal lebendig und erkennt ihr wahres Wesen und ihre Bestimmung. Besonders die Begegnung und Affäre mit dem Psychoanalytiker Otto Gross und seinen revolutionären Ideen von einem freizügigen Leben entfesseln Frieda und stellen die Weichen für ihre spätere Liebesbeziehung zum Studenten ihres Ehemannes D.H. Lawrence.
Spannend ist nicht nur Friedas Wandlung, sondern wie diese von ihrer Familie wahrgenommen wird. Mit großer Sensibilität und viel Mitgefühl erzählt die Autorin das Geschehen auch aus der Sicht des Ehemannes Ernest und des Sohnes Monty. Am meisten litt ich natürlich mit Frieda, zerrissen zwischen der Liebe zu ihren Kindern und zu Lawrence, für den sie weit mehr als eine passive Muse ist. Wer sich nicht nur für die Emanzipationsgeschichte einer außergewöhnlichen Frau, sondern auch für die damaligen Reformbewegungen interessiert, kann sich auf ein großes Lesevergnügen freuen.
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Filmreife Liebesgeschichte zweier Stummfilm-Ikonen

In "Miss Hollywood" erzählt Emily Walton eine Liebesgeschichte, die ich mir lebhaft auf der Leinwand vorstellen kann. Sie spielt sich jedoch nicht vor, sondern hinter der Kamera ab und beruht auf wahren Begebenheiten. Mary Pickford und Douglas Fairbanks, beide große Hollywoodstars der Stummfilmära, verlieben sich und halten lange Zeit ihre Affäre geheim, um ihre Karriere nicht zu gefährden, denn beide sind bereits verheiratet. Besonders Mary darf ihr braves, tugendhaftes Image als „America‘s sweetheart“ nicht aufs Spiel setzen.
Die Handlung wird abwechselnd aus Sicht der beiden Hauptfiguren erzählt, wobei sich Marys Dilemma zwischen Vernunft und Gefühlen stärker in den Vordergrund drängt. Einerseits will sie ihre hart erkämpfte Karriere nicht achtlos wegwerfen, andererseits möchte sie nach zahlreichen persönlichen Opfern endlich ein wenig Glück für sich beanspruchen, statt nur den Erwartungen der Studiobosse, ihrer Fans und ihrer unbarmherzigen Mutter und Managerin gerecht zu werden.
Sowohl die ehrgeizige, streng gläubige Mary als auch der furchtlose Lebemann und Abenteurer Douglas werden als gegensätzliches Paar sehr gut charakterisiert. Besonders ihre gemeinsame Werbetournee mit Charlie Chaplin, um Kriegsanleihen zu verkaufen, versetzt den Leser in eine Zeit, in der die Menschen verrückt waren nach Stars und Entertainment, um dem Alltag zu entfliehen. Neben der sehr dominanten Liebesgeschichte hätte ich mir noch mehr Einblick in Marys Arbeit als Schauspielerin und vor allem Filmproduzentin gewünscht. Wie der Untertitel verrät, legt Emily Walton klar den Fokus darauf, in welchem Ausmaß ihre Liebe zu Douglas sie veränderte und ihr zu einem selbstbestimmten Leben verhalf.
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Werkstattberichte berühmter Schriftstellerinnen

Wer begeistert ein Buch verschlungen hat, macht sich selten Gedanken darüber, welch harte schriftstellerische Arbeit und Willenskraft dahinter steckt. Einen Blick hinter die Kulissen gewährt uns Ilka Piepgras in ihrem Buch „Schreibtisch mit Aussicht“. Darin hat sie Werkstattberichte von 24 berühmten Schriftstellerinnen wie Siri Hustvedt, Katharina Hagena oder Deborah Levy versammelt.
So unterschiedlich wie die Werke der Autorinnen sind auch die Texte, in denen sie uns ihre Einstellung zum Schreiben, ihre Motivation, Vorbilder und Rituale näher bringen. Mütter wie Anne Tyler erzählen davon, wie  rar und kostbar im streng durchgetakteten Alltag jene Momente sind, in denen sie am Stück schreiben kann. Für Eva Menasse ist die Schreibroutine wie ein Helikopterlandeplatz, der täglich gepflegt werden muss und auf dem sie mehr Zeit mit dem Umschreiben als mit dem Schreiben verbringt. Besonders bewegt hat mich der Text von Kathryn Chetkovich mit dem Titel „Neid.“ Sie beschreibt, in welchen Konflikt sie geriet, als sie sich in einen Schriftsteller verliebte, der in ihren Augen besser schrieb als sie und mit seinem veröffentlichten Roman tatsächlich große Erfolge feierte.
Ich war erstaunt, dass viele Schriftstellerinnen keinen Plot planen, sondern sich von bestimmten Bildern und von ihrer Intuition leiten lassen, bevor es dann ans Eingemachte und an die mühsame handwerkliche Arbeit geht. Wie erfahren nicht nur, wie sie zu ihren Romanideen kamen, sondern auch interessante biografische Hintergründe wie Kindheitserinnerungen, Erlebnisse in Schreibseminaren oder persönliche Träume und Fantasien. Die vielseitigen Essays waren für mich höchst inspirierend.
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Von der Befreiung in die Abhängigkeit

Der Titel des dritten Teils der Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen – "Abhängigkeit“ – verheißt nichts Gutes. Dabei ist Toves Wunsch, den 30 Jahre älteren Verleger Viggo Fr. Møller zu heiraten, in Erfüllung gegangen. Doch das Eheleben mit ihm wird zu einer Enttäuschung, was zu einer Reihe von neuen männlichen Bekanntschaften und Liebschaften führt. 
In diesem Teil verlor die Erzählerin deutlich Sympathiewerte. Mit dem Studenten Ebbe und der gemeinsamen Tochter hat sie allen Grund, glücklich zu sein, doch sie begeht wissentlich eine Torheit nach der anderen, verhält sich egoistisch und selbstzerstörerisch. Am liebsten hätte ich sie kräftig geschüttelt und zur Vernunft gebracht.
Es ist schmerzhaft, wie nüchtern und fatalistisch Tove ihre Medikamentensucht und den Teufelskreis beschreibt, als wäre sie fremdgesteuert. Ihren einst starken Willen und ihre Entschlossenheit, die ich so bewundert hatte, richtet sie nicht mehr auf ihre schriftstellerische Karriere, sondern einzig und allein darauf, in den Besitz von Pillen zu kommen. Wie ehrlich und offen sie über ihre Sucht schreibt, verdient allerdings größte Anerkennung.
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Stadtspaziergänge durch Europa

Als großer Fan von Städtetrips war ich sehr gespannt auf die akustische Reise von Amsterdam bis Zürich in dem Hörbuch „Die schönsten Städte Europas“. Die beigelegte hübsch gestaltete Karte und das Booklet stimmen auf die bevorstehenden Reisestationen ein.
Startpunkt ist Kopenhagen, wo wir uns auf die Spuren des Architekten Arne Jacobsen begeben, der mit seinen Möbeln und Gebäuden das dänische Design stark geprägt hat. Während ich bei der Beschreibung schwedischer Zimtschnecken in Urlaubserinnerungen schwelgte, lernte ich im Osten Europas viel Neues kennen wie die Weißen Nächte in Sankt Petersburg oder die Studentenstadt Breslau.
Statt bekannte Sehenswürdigkeiten abzuklappern, wählen die Autoren ganz unterschiedliche Themen und Blickwinkel als Aufhänger, was mir sehr gut gefiel: z.B. Dubrovnik als Schauplatz der Serie 'Game of Thrones', den Gewürzhandel in Hamburg oder die Beatles in Liverpool. Sie gehen auch auf problematische Entwicklungen wie den Massentourismus in Barcelona und die Gentrifizierung in Porto ein.
Passende musikalische Klänge, Stadtgeräusche und Statements von Einheimischen in der Landessprache verstärken das Gefühl, mittendrin zu sein und durch das jeweilige Stadtviertel zu schlendern. Die Reisereportagen zeigen, welch kulturelle Vielfalt Europa zu bieten hat, und machen Lust, die nächste Erkundungsreise zu planen.
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Eine verhängnisvolle Prophezeiung

Was wäre, wenn man wüsste, wie lange man noch leben wird? Diese Erfahrung machen in dem Roman „Die Unsterblichen“ vier Geschwister im Jahre 1969, nachdem sie bei einer Wahrsagerin waren, die ihnen ihren genauen Todestag vorhersagt. Es war zu erwarten, dass jeder von ihnen anders mit dem Wissen umgeht, zumal die vier sehr verschieden sind.
Simon, der Jüngste, geht nach San Francisco auf der Suche nach Freiheit, Liebe und Vergnügen. Klara, die ihn begleitet, versucht nach dem Vorbild ihrer Großmutter ihr Glück als Magierin. David und Varya sind die einzigen, die sich um den Zusammenhalt der jüdischen Familie bemühen. 
Interessant ist, dass die vier Lebenswege nicht parallel, sondern chronologisch erzählt werden. Mit viel Einfühlungsvermögen arbeitet Chloe Benjamin die Charaktereigenschaften der Figuren, die Beziehungen untereinander und ihre Erwartungen an das Leben heraus. Es geht um Geschwisterliebe, Sehnsüchte und Selbstvorwürfe, verpackt in eine raffiniert konstruierte und literarisch anspruchsvolle Familiengeschichte, die bei mir noch lange nachgeklungen hat. Am Ende kann jeder die Frage, ob er lieber furchtlos oder voller Vorsicht leben möchte, für sich selbst beantworten.
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Farbenprächtiges Porträt einer mutigen Naturforscherin

Über die Naturforscherin und Künstlerin Maria Sibylla Merian hatte ich schon einmal einen Bericht gelesen. Damals ahnte ich noch nicht, was für eine interessante Persönlichkeit sie war: talentiert, mutig, unkonventionell und zielstrebig. In ihrem eindrucksvollen Roman „Frau Merian und die Wunder der Welt“ hat mir Ruth Kornberger die außergewöhnliche Frau und ihre langersehnte Forschungsreise nach Surinam nähergebracht.
Zunächst erfahren wir, welche Anstrengungen die alleinerziehende Mutter zweier Töchter unternahm, um ihren Traum zu verwirklichen. Mit einer bewundernswerten Entschlossenheit und Hartnäckigkeit lässt sie nichts unversucht, um Investoren für ihre Reise zu gewinnen. In jeder Zeile spürte ich ihr Fernweh und ihre Hingabe, mit der sie Insekten studierte und zeichnete. 
Ihre Reisevorbereitungen waren für mich genauso spannend zu lesen wie die Überfahrt von Amsterdam nach Surinam und ihre Erlebnisse vor Ort. Sehr lebendig und authentisch entfaltet die Autorin das Setting vor unseren Augen – nicht nur exotische Pflanzen und Tiere, sondern auch negative Aspekte wie die Sklaverei, die Konflikte zwischen Einheimischen und Plantagenbesitzern und die Widrigkeiten der Natur. Einziger Wermutstropfen war die eingebaute Liebesgeschichte, die im Laufe der Handlung zu viel Raum einnahm und den Genuss der Lektüre etwas schmälerte.
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Schreiben ist ihre Rettung

Mit dem Schulabschluss und der Konfirmation endete der autofiktionale Roman „Kindheit“ von Tove Ditlevsen – Teil 1 ihrer Kopenhagen-Trilogie. In „Jugend“ beginnt für die Erzählerin der Ernst des Lebens: Ihre Eltern schicken sie trotz ihrer Begabung in die Arbeitswelt statt aufs Gymnasium. 
Sie tingelt von einem Job zum nächsten, mal als Haushaltshilfe, mal als Bürogehilfin bei einem Lithografen, wo sie sich zu Tode langweilt und fühlt sich wie ein herrenloser Hund. Durchhalten lautet die Devise, bis sie 18 ist und endlich ausziehen kann. Die Beschreibung ihres Arbeitsalltags, ihrer Kollegen und Vermieterin zeugen wieder von großer Beobachtungsgabe. Der einzige Lichtblick in ihrem Leben ist die Begegnung mit dem Verleger Viggo Fr. Møller, der nicht nur ihre Leidenschaft für Bücher teilt, sondern auch ihr Vorhaben, ihre Gedichte zu veröffentlichen, tatkräftig unterstützt. 
Trotz ihres besonderen Talents ist Tove keinesfalls abgehoben - sie trägt gern schöne Kleider, Make-up und vergnügt sich jeden Abend mit ihrer Freundin in Tanzbars. Ihr Lebenshunger ist auf jeder Seite zu spüren. Sie ist fest entschlossen, Schriftstellerin zu werden, doch genauso stark sehnt sie sich danach, zu heiraten und ein Kind zu bekommen wie ein gewöhnliches junges Mädchen. Als Leser wünscht man sich inständig, dass ihr Traum in Erfüllung geht, was wir hoffentlich in Teil 3 erfahren werden.
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Eine Reise durch die Welt der Musik

So ansprechend wie das Cover und die begleitenden Illustrationen ist die Art und Weise, wie uns Christoph Reuter in seinem Buch „Alle sind musikalisch – außer manche“ in die Welt der Musik entführt. Der Berliner Pianist und Komponist zeigt, dass wir uns im Alltag kaum der Musik entziehen können, ganz gleich, ob wir uns für musikalisch oder unmusikalisch halten. In der Natur gibt es über 4.000 Singvogelarten, im Kaufhaus werden wir mit Hintergrundmusik berieselt und auf der nächsten Familienfeier wird mit Sicherheit ein Geburtstagsständchen gesungen oder Tanzmusik aufgelegt.
Christoph Reuter blickt dabei hinter die Kulissen, erklärt uns, wie Audio Architects individuelle Playlists für Hotelketten und Modelabels erstellen, wie Martin Luther die Entwicklung der Musik beeinflusste, wie man es in die Charts schafft oder wie man als DJ sein Publikum unterhält. Als Musikkabarettist vermittelt er sein Wissen nicht nur mit viel Humor, sondern hat auch skurrile Geschichten über Experimente mit Käse und nützliche Ratschläge für die Auswahl passender Hochzeitsmusik oder den Umgang mit Musikern in petto.
Man kann schmunzelnd und staunend Instrumente wie Glasharmonika oder Fender Rhodes kennenlernen oder auch selbst zur Tat schreiten, indem man den zahlreichen praktischen Anleitungen folgt, etwa wie man die Zwerchfellatmung übt, einen Blues Song schreibt oder Gitarre spielt. Mich hat das lehrreiche Buch nicht nur wunderbar unterhalten, sondern auch die Lust geweckt, in die vorgestellten Ohrwürmer hineinzuhören und das Klavierspiel wieder aufzunehmen.
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Eine Kindheit wie für ein anderes Mädchen gemacht

Die meisten Kinder können es kaum erwarten, erwachsen zu sein, doch bei Tove Ditlevsen war das anders. Obwohl die „Kindheit“, von der sie im gleichnamigen ersten Teil ihrer Kopenhagen-Trilogie erzählt, für sie „schmal wie ein Sarg“ und alles andere als glücklich ist, möchte sie das Ende so lang wie möglich hinauszögern. Die Welt der Erwachsenen ist für sie ein Mysterium.
Tove wächst in den 1920er Jahren als Tochter eines arbeitslosen Heizers und einer Hausfrau im Arbeiterviertel Vesterbro auf und liebt Bücher und die Lyrik. Als sie verkündet, dass sie Schriftstellerin werden will und von ihren Eltern nur Spott und Häme erntet, behält sie ihre Gefühle und Sehnsüchte von nun an für sich. Alles, was ihr im wahren Leben fehlt, malt sie sich in ihrer Fantasie aus, schreibt Gedichte darüber in ihr Poesiealbum und versucht damit, die fehlende Zuneigung ihrer Mutter und den Mangel an Freunden wettzumachen.
Selten habe ich erlebt, dass sich jemand so klug, intensiv und verstörend mit seiner Kindheit auseinandersetzt. Die autofiktionale Erzählweise erinnerte mich an Karl Ove Knausgård, doch während dieser gern weit ausholt, verdichtet Tove Ditlevsen ihre Erlebnisse. Was es bedeutet, in ärmlichen Verhältnissen aufzuwachsen, in seiner Begabung nicht gefördert zu werden und sich unverstanden zu fühlen, kleidet Tove Ditlevsen in poetische Sätze, die einen nicht mehr loslassen. Ich bin sehr gespannt, wie es im zweiten Teil "Jugend" weitergeht.
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Leben und Überleben als Arbeiterin

Der Roman „Die Frauen von Kopenhagen“ von Gertrud Tinning beginnt an einem Schauplatz, der von 1857 bis 1927 tatsächlich existierte: Die Rubens Tuchfabrik in Kopenhagen zählte zu den größten Arbeitgebern für Frauen. Die Protagonistin Nelly Hansen muss mitansehen, wie ihre Schwägerin durch Fahrlässigkeit der Fabrik einen schweren Unfall erleidet und will die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Eines Tages tritt der Nachbar und Werftarbeiter Johannes in ihr Leben.
Welche Umstände den Jütländer nach Kopenhagen verschlagen haben, erfahren wir im zweiten Teil, der auf seinem elterlichen Hof spielt. Auch auf dem Land führen Frauen wie Anna, Johannes’ Schwester, ein arbeits- und entbehrungsreiches Leben und werden an reiche Bauern verschachert, um die Existenz der Familie zu sichern.
Ab da nahm die Geschichte eine Wendung, die ich nicht erwartet hatte. Ich war etwas enttäuscht, dass Nellys Versuch, die Weberinnen für den Kampf um ihre Rechte zu mobilisieren, und die Anfänge der Frauen-Arbeiterbewegung nur am Rande behandelt werden. Sehr detailliert und authentisch beschreibt Gertrud Tinning dagegen anhand Johannas Odyssee durch Kopenhagen die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen zur Zeit der Industrialisierung, die Armut, Ausbeutung und sozialen Ungerechtigkeiten.
Sehr aufschlussreich fand ich das Nachwort, in dem sie erläutert, von welchen realen Personen und Ereignissen sie sich inspirieren ließ. Sie zeichnet ganz typische Schicksale von Arbeiterinnen und macht uns die bedeutenden Errungenschaften der Arbeiterbewegung und Sozialdemokraten bewusst.
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Ein vollendetes Vermächtnis

Anfangs fragte ich mich, worauf ich mich bei dem Roman "Blütenschatten" von Annalena McAfee nur eingelassen hatte und begleitete mit Unbehagen die Hauptfigur Eve auf ihrem nächtlichen Spaziergang durch London. Kaltherzig und sarkastisch zieht die sechzigjährige Malerin Bilanz und scheint mit der ganzen Welt abrechnen zu wollen: der Kunstszene, den Medien, ihren einstigen Freundinnen und Lovern, der jungen Generation – selbst an ihrer Tochter lässt sie kein gutes Haar. 
Doch als sie sich Hals über Kopf in ihren halb so alten Assistenten verliebt, zeigt sie auf einmal eine menschliche und verletzliche Seite, und ab da hat mich die Geschichte richtig gepackt. Was die Affäre mit Luka in ihr auslöst, ihr Verlangen nach körperlicher Liebe und Bestätigung, aber auch Unsicherheit sind unglaublich gut beschrieben. 
Genauso spannend liest sich Eves großes Kunstprojekt, das in einer Woge von Kreativität und Sinnlichkeit immer mehr Gestalt annimmt, während das Arbeitsklima im Team in eine völlige Schieflage gerät. Ich hatte das Gefühl, immer tiefer in Eves Innenwelt zu blicken und zu begreifen, welchen Stellenwert die Arbeit in ihrem Leben hat, warum sie trotz der Kritiken am Pflanzenmotiv festhält und was sie dazu antreibt, ein Vermächtnis zu hinterlassen. Sowohl was die Figuren, die Handlung als auch die Dramaturgie betrifft ein sehr außergewöhnlicher und lesenswerter Roman!
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Der Ruf des Meeres

Wie Salz auf der Zunge“ ist ein Buch, das man am liebsten am Strand lesen möchte mit Blick auf das weite Meer. Aber auch wenn das nicht möglich ist, meint man bei der Lektüre die Seeluft zu riechen und das Rauschen der Wellen zu hören. In poetischer Sprache und intensiven Bildern entführt uns Charlotte Runcie in das Reich der Meere und zwar aus weiblicher Sicht.
Die Autorin ist in ihre Heimat Edinburgh zurückgekehrt und liest, schreibt und singt sogar in einem Volksliederchor über das Meer. Der Ozean symbolisiert für sie zugleich Abenteuer und Zuhause, Lebensader und Lebensgefahr. 
Ihre Kenntnisse über Seefahrer und Seemannslieder, Meerjungfrauen und Muschelsammlerinnen sowie Meeresbewohner und Gezeiten sind wahrlich beeindruckend. Auch eine persönliche Komponente kommt ins Spiel, denn die Autorin erwartet ein Kind und empfindet ihre Schwangerschaft als ebenso bedrohlich, mysteriös und wundersam wie den Ozean und die Kräfte der Natur.
Was ich vermisst habe, ist ein roter Faden, der die losen Geschichten, Fakten und gedanklichen Exkurse miteinander verbindet und in eine Rahmenhandlung einbettet. Der Tod ihrer Großmutter und die Schwangerschaft bilden zwar eine Klammer, aber ich hätte mir noch mehr Bezüge zu ihrem Leben gewünscht. Nichtsdestotrotz habe ich sehr viel Wissenswertes gelernt und sehne mich schon jetzt nach einem Sommerurlaub am Meer.
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Leben mit einer künstlichen Freundin

So wie Spaziergänger gern die Auslagen von Schaufenstern studieren, so studiert Klara vom Schaufenster aus tagein tagaus das Verhalten der Kunden und Passanten. Die Heldin in Kazuo Ishiguros Roman „Klara und die Sonne“ ist jedoch nicht etwa eine Puppe, in die der Autor Leben eingehaucht hat, sondern eine solarbetriebene KF, eine Künstliche Freundin, die darauf wartet, ein neues Zuhause zu finden und einen jungen Menschen ins Erwachsenenalter zu begleiten. 
Bis dahin nutzt Klara die Zeit, um so viel wie möglich über die Menschen und ihren Umgang mit ihren künstlichen Gefährten zu lernen. Ihre ausgeprägte Neugier und gute Auffassungsgabe nutzt auch die Managerin des Ladens als Verkaufsargument und überzeugt eines Tages mit Erfolg Josies Mutter. Josie ist schwerkrank und hat schon sehr lange ein Auge auf Klara geworfen.
In ruhigem Tempo erzählt Kazuo Ishiguro, wie Klara versucht, sich in ihre neue Umgebung einzuleben und allen Erwartungen gerecht zu werden, was ihr sichtlich schwer fällt. Die klare, wache Stimme und unsentimentale Lesart von Johanna Wokalek passt in der Hörbuchversion ideal zu Klaras Rolle. 
Der Autor greift ein brisantes Thema auf, zumal die Künstliche Intelligenz gerade auf diesem Feld großes Potenzial birgt, und beschäftigt sich mit der Frage, ob und wie viel Empathie ein künstliches Wesen entwickeln und gar einen Menschen ersetzen kann. Obwohl er interessante Denkanstöße gibt, hatte ich mir etwas mehr überraschende Momente in der Handlung und Interaktion zwischen Mensch und KF erhofft. Leider konnte ich bis zum Schluss eine gewisse Distanz zu den Figuren und zum Geschehen nicht überwinden. 
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Nicht verzagen, Namiya fragen

Die Kleinkriminellen Atsuya, Kohei und Shota haben sich ihre Nacht in dem Gemischtwarenladen Namiya, wo sie kurzzeitig untertauchen müssen, sicherlich anders vorgestellt. Ein Brief, der durch den Briefschlitz fällt, schmeißt ihre Pläne völlig über den Haufen.
Nicht nur dieser, sondern viele weitere Briefe, die über diesen verlassenen Laden ausgetauscht werden, ohne dass sich Sender und Empfänger zu Gesicht bekommen, verändern so manches Leben und immer liegt ein Hauch von Magie in der Luft.
Es ist nicht leicht, das Buch "Kleine Wunder um Mitternacht" zu besprechen ohne zu viel zu verraten. Nur so viel sei gesagt: Keigo Higashino gibt uns Einblick in bewegende Schicksale, sei es das einer hadernden Sportlerin, eines verhinderten Musikers oder eines verzweifelten Beatles-Fans. Sie alle stehen vor einer schwierigen Entscheidung oder an einem Wendepunkt, suchen Rat und wachsen über sich hinaus.
Die Art und Weise, wie die verschiedenen Geschichten miteinander verbunden sind und die Figuren, die einem ans Herz wachsen, erneut auftauchen, ist einfach zauberhaft. Ein berührendes Plädoyer für Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und eine Balance zwischen familiärem Zusammenhalt und Selbstverwirklichung.
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Schöne neue Arbeitswelt

Eine Anstellung auf Lebenszeit war in Japan bis vor nicht allzu langer Zeit gang und gäbe. Davon kann die namenlose Ich-Erzählerin in dem Roman „Temporary “ („Die Hauptsache“) nur träumen. Sie wird von einer New Yorker Zeitarbeitsfirma von einer Aushilfssstelle zur nächsten gereicht.
Mal soll sie Türen in einem leeren Haus öffnen und schließen, mal die Vertretung auf einem Piratenschiff übernehmen, mal einem Killer assistieren. So breit wie das Spektrum absurder Jobs ist auch ihr Ensemble von männlichen Partnern. Sie hat einen Freund für jede Lebenslage, darunter den Immobilienfreund, den ehrlichsten Freund, den größten Freund, den Lieblingsfreund. Die Geschichte wäre höchst vergnüglich zu lesen, wäre alles nur reine Fiktion. Leider spiegelt sie immer mehr die Realität, in der Arbeitskräfte zunehmend befristet und zweckorientiert eingesetzt werden.
Hilary Leichter schreibt nicht nur klug, zynisch und pointenreich, sondern sprüht in ihren sprachlichen Formulierungen und Metaphern nur so vor Ideen. An manchen Stellen lässt sie die wahren Gefühle der Protagonistin, ihre Verletzungen, Demütigungen und die Sehnsucht nach Beständigkeit durchscheinen und regt zum Nachdenken an, was eine schnelllebige und profitorientierte Arbeitswelt mit uns Menschen und unserer Identität macht.
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Seelenverwandt mit einer japanischen Hofdame

Ich habe schon oft erlebt, dass ich mich mit einer Schriftstellerin stark verbunden fühle. Ähnlich ergeht es Mia Kankimäki, wie wir in ihrem Buch "Dinge, die das Herz höher schlagen lassen" erfahren. Ihre Faszination gilt allerdings einer Hofdame, die vor mehr als 1000 Jahren am japanischen Kaiserhof diente und und sich mit ihrem "Kopfkissenbuch“ einen Platz in der Weltliteratur verschaffte: Sei Shônagon.
Ihres Lebens überdrüssig, entscheidet sich die Texterin für eine einjährige Auszeit und begibt sich nach Kyôto, um über ihre Seelenschwester zu forschen und zu schreiben. Sie schätzt nicht nur ihren Feinsinn, Humor und ihre Selbstsicherheit, sondern auch die damals bedeutende Rolle der Frauen in der Literatur und den großen Stellenwert der Schönheit, Kunst und Dichtung. Ihr Vorhaben entpuppt sich jedoch als äußerst schwierig, da so wenig über sie überliefert ist.
Eine Sache macht Sei Shônagon auch für mich sehr sympathisch, denn sie liebte es, Listen zu schreiben. Auch die Autorin greift diese Form auf, stellt ihre eigenen Eindrücke, Vorlieben oder Beobachtungen Zitaten aus Sei’s Werk gegenüber und findet erstaunlich viele Gemeinsamkeiten.
Mit viel Witz und Ironie erzählt Mia Kankimäki von ihrer beengten Unterkunft, an die sie sich schnell gewöhnt, ihren Multikulti-Mitbewohnern, von Ausflügen quer durch Japan und von mühsamen Recherchen, die bis nach London führen. Es macht großen Spaß, sie dabei zu begleiten und nebenbei viele Einzelheiten über das höfische Leben und die Sitten in der Heian-Zeit zu erfahren.
Man sollte Lust haben, sich ähnlich wie sie treiben zu lassen und sich auf ein Abenteuer mit vielen unvorhergesehenen Ereignissen und zu guter Letzt einer Reise zu sich selbst einzulassen.
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Ich bin nicht ich ohne dich

Die Schwestern Karla und Marie haben in dem Roman „So wie du mich kennst“ trotz ihrer völlig unterschiedlichen Lebenswege eine so innige Beziehung, dass man glatt neidisch werden kann. Umso härter trifft Karla die Nachricht, dass ihre jüngere Schwester bei einem Unfall ums Leben kam. Ein trauriger Anlass für die Lokaljournalistin in Franken, nach New York zu fliegen und Maries Wohnung aufzulösen. Noch größer ist der Schock, als sie herausfindet, was Marie ihr verschwiegen hatte.
Für viel Spannung sorgen nicht nur die Fotos, die Karla auf Maries Laptop entdeckt, sondern ihre eigenen Beobachtungen eines Paares im Haus gegenüber. Man begreift schnell, dass es in dieser Geschichte nicht nur um Trauerbewältigung geht, was mich immer tiefer in die Handlung hineinzog, die abwechselnd aus Karlas und rückblickend aus Maries Perspektive erzählt wird. 
Annika Landgärtner beschreibt sowohl die wechselnden Gefühlslagen beider Protagonistinnen als auch die Atmosphäre in den New Yorker Straßen und Künstlervierteln sehr intensiv und sprachgewandt. In vielen Facetten spiegelt sich ein zentrales Thema wider, das erst im Laufe der Handlung ans Licht kommt, und die Botschaft, selbst sein Leben in die Hand zu nehmen, um seine Träume zu verwirklichen und glücklich zu sein, auch wenn man sich dabei seinen größten Ängsten stellen muss. Das alles hat mich tief angesprochen – bis auf eine Offenbarung zum Schluss, die nicht hätte sein müssen und meine Begeisterung ein wenig dämpfte.
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Eine Bestsellerautorin rechnet ab

Es ist nicht üblich, in einer Lesung einen Mordfall aufzuklären. Genau das tut jedoch Johanna Krämer in „Die Offenbarung der Johanna“ von Matthias Aicher. Im Kaisersaal von Woltersweiler, ihrem Heimatort, verkündet die Bestsellerautorin, den wahren Mörder ihrer besten Freundin Nikki zu entlarven, die 1988 vergewaltigt wurde. Beschuldigt wurde damals Johannas Bruder Jacob, der sich in U-Haft das Leben nahm.
So gebannt wie die 300 Besucher dieser Lesung lauschen wir im Hörbuch der Stimme von Yesim Meisheit, die den Part des vorgetragenen Romans übernimmt. Darin begibt sich die vom Dienst suspendierte Kommissarin Jules Wunderlich nach dem Tod ihres Vaters in ihren Heimatort und rollt den Mordfall wieder auf. Die Spannung wird dadurch gesteigert, dass nicht nur nach und nach die Dorfbewohner mit ihren Geheimnissen eingeführt, sondern auch ihre heftigen Reaktionen während der Lesung beschrieben werden.
Für meinen Geschmack hätte die Geschichte etwas mehr Tempo und etwas weniger Kraftausdrücke vertragen. Manche Schilderungen schienen mir nicht relevant für die Auflösung des Falls zu sein, machten andererseits die ambivalenten Gefühle der Hauptfigur sowohl während ihrer Recherchen als auch während der Lesung deutlich. Das Konzept, eine Lesung in einen nervenaufreibenden Psychotrip zu verwandeln, der an ein Krimidinner erinnert, ist auf jeden Fall aufgegangen.
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Der perfekte Klang

Klavierstimmer zählt vermutlich nicht zu den typischen Berufen, von denen junge Menschen träumen. Vielleicht liegt es aber nur daran, dass sie nicht so ein einschneidendes Erlebnis hatten wie Tomura, Hauptfigur des Romans „Der Klang der Wälder“ von Natsu Miyashita.
Als der Siebzehnjährige in seiner Schule gebeten wird, für den Klavierstimmer Itadori die Tür der Turnhalle zu öffnen, und hört, welche Klänge dieser dem Schulflügel entlockt, die ihn an rauschende Wälder seines Heimatdorfs erinnern, steht für ihn seine Zukunft fest: Er will Klavierstimmer werden.
Das Handwerk lernt er an einer Fachschule und anschließend in einem Instrumentenhandel, in dem auch sein großes Vorbild Itadori arbeitet. Wenn er seine Kollegen beim Kundenbesuch begleitet, muss er feststellen, wie unerfahren er noch ist und welch weiter Weg vor ihm liegt. Diese Bescheidenheit, Demut und Selbstzweifel empfand ich als typisch japanisch - ebenso seinen Drang, das Handwerk mit viel Fleiß, Disziplin und großer Hingabe zu perfektionieren und systematisch an seinen Fehlern zu arbeiten.
Obwohl der Beruf alles andere als spektakulär ist, fand ich es spannend, Tomura durch seinen Alltag zu begleiten und nachzuempfinden, warum ihm die Tätigkeit so viel bedeutet, was ihn verunsichert und welches Ziel er anstrebt. Ich konnte mir richtig gut vorstellen, wie erfüllend es für einen Klavierstimmer sein muss, nach erfolgreicher Arbeit nicht nur einen überglücklichen Kunden vor sich zu haben, sondern auch in den Genuss einer musikalischen Kostprobe zu kommen.
Noch ein weiteres Element macht den Roman zu einem typisch japanischen Roman, denn Natsu Miyashita schlägt einen Bogen von der Suche nach dem idealen Klang zu der Schönheit der Natur. Mit ihrer Geschichte voller Poesie und Liebe zur Musik hat sie meine Lust geweckt, mich nach langer Zeit mal wieder ans Klavier zu setzen und den Minutenwalzer von Chopin zu spielen.
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Engel und Monster

Ashley Audrain beschreibt in ihrem Roman „Der Verdacht“ den Horror jeder Mutter. Sie erschafft eine Erzählerin, die nicht in der Lage ist, ihr eigenes Kind zu lieben. Dabei hatte sich Blythe auf die Geburt ihrer Tochter gefreut und alles Erdenkliche getan, um sich auf die Mutterrolle vorzubereiten. Das Verhältnis zu Violet ist jedoch von Geburt an gestört und hat Folgen, die bei mir blankes Entsetzen auslösten. Nicht minder schockierend sind die Porträts von Blythes Mutter und Großmutter, die mit der Handlung verzahnt werden.
Während ihr Ehemann sich als Architekt beruflich verwirklicht, fühlt sich Blythe wie jemand, der nur noch körperlich zu funktionieren und die Familie am Leben zu erhalten hat. Dennoch gibt sie sich aus Liebe zu ihrem Mann Mühe, die perfekte Mutter zu sein. Ihre Qualen, Selbstzweifel, Einsamkeit und mörderischen Gedanken, die jede noch so verzweifelte Mutter sofort verdrängen würde, beschreibt die kanadische Autorin eindringlich und schonungslos. Ich spürte, wie diese Versuchung, seine eigene Macht auszunutzen und jemanden mit grausamen Worten oder Taten zu verletzen, in jedem von uns schlummert.
Sie beleuchtet das Thema Mutterschaft in seiner ganzen Bandbreite, vom Gefühl höchster Glückseligkeit bis hin zu den Abgründen, die sich auftun, wenn man sich vor seinem eigenen Kind fürchten muss. Hinter jeder Seite witterte ich neues Unheil und konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Für alle Frauen, ob mit oder ohne Kindern, absolut lesenswert!
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Kriegsenkelin auf Spurensuche

Die Aufarbeitung der Familiengeschichte ist ein beliebtes Thema in der Literatur. Auch Isa, Ich-Erzählerin in „Was von Dora blieb“, begibt sich auf Spurensuche. Auslöser ist eine Ehekrise, die sie zwingt, ihren Lebensweg in Frage zu stellen. Antworten hofft sie, in den Briefen, Tage- und Skizzenbüchern ihrer verstorbenen Großmutter Dora zu finden, die den Ruf hatte, streng, launisch und despotisch zu sein. 
Als Fan von Künstlerromanen verfolgte ich mit großer Neugier Doras Studium im Jahr 1924 an der heutigen Folkwang Universität der Künste in Essen. Die komplizierte Dreiecksbeziehung, die sich zwischen Dora, ihrer großen Liebe Frantek und besten Freundin Maritz entspinnt, liest sich ebenso spannend wie die damalige Künstlerszene, die Anfänge des Folkwangmuseums, das ich schon oft besucht habe, und den Einfluss des Gründers Karl Ernst Osthaus auf Walter Gropius und das Bauhaus.
Im zweiten Teil des Romans lenkt die Erzählerin den Fokus auf ihren Großvater Max und ihren Vater Gottfried, deren Vergangenheit ihr mehr Schwierigkeiten bereitet. Gottfried wurde auf eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt geschickt. Ich konnte gut nachvollziehen, wie Isa nach Fakten sucht, die ihre Vorfahren entlasten, und ihr lückenhaftes Bild nach und nach vervollständigt.
Stellenweise fand ich die Schilderungen zu sachlich, fast dokumentarisch, so dass mich dieser Part nicht so packen konnte wie Doras Schicksal. Auch die parallele Handlung, in der sich Isa und ihr Nachbar Gustav näher kommen, hätte etwas gestrafft werden können.
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Vier Frauen und ihre vierbeinigen Weggefährten

In "Das Geschenk eines Regentages" von Makoto Shinkai und Naruki Nakagawa lernen wir vier Japanerinnen unterschiedlichen Alters und Charakters kennen: die zurückhaltende Miyu, die in einer Kunstschule arbeitet; die selbstbewusste und begabte Kunststudentin Reina, die ein Praktikum beginnt; Aoi, die mit ihrer besten Freundin die Leidenschaft für Mangas teilt und Shino, die sich aufopferungsvoll um die Pflege ihrer Schwiegereltern gekümmert hat. Sie alle haben gemein, dass eine Katze in ihr Leben tritt und es auf die eine oder andere Weise verändert.
Auch die Katzen haben ganz unterschiedliche Temperamente und Vorlieben und lernen sich auf ihren Streifzügen kennen. Der besondere Charme liegt darin, dass jede der vier Geschichten, in denen sich die Wege einiger Frauen kreuzen, abwechselnd aus der Sicht der Katze und der Besitzerin erzählt wird. Meist geraten die Protagonistinnen in eine verzwickte oder verzweifelte Lage und finden Trost bei ihren Katzen.
Ich erkannte immer wieder Anspielungen auf den realen Arbeitsalltag, unter dem die Japaner leiden: Die Schwierigkeiten der Verständigung, weil man seinem Gegenüber nicht zu nahe treten will, die Revierkämpfe, der Leistungsdruck und die Last zahlreicher familiärer Verpflichtungen. Typisch japanisch fand ich auch die poetische und melancholische Erzählweise, die die Natur mit einbezieht und alle Sinne anspricht.
Die Katzen werden als sehr mitfühlende Wesen dargestellt, die in erster Linie ihre leidenden Besitzerinnen aufmuntern und trösten möchten. Das Verhalten der Menschen aus ihrer Sicht zu betrachten, fand ich interessant während ich mit den Dialogen zwischen den Katzen nicht so viel anfangen konnte. Ich hätte mir noch etwas mehr Facetten und Einblick in das Verhältnis zwischen Mensch und Tier gewünscht und wäre gern noch tiefer in die einzelnen Frauenschicksale eingetaucht.
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Was Menschen zusammenhält

Der Roman „Not Forgetting the Whale“ („Der Wal und das Ende der Welt“) hat vor allem wegen der guten Bewertungen meine Neugier geweckt. Ich ahnte allerdings nicht, wie aktuell das Thema ist, zumal das Buch bereits 2015 erschienen ist. Hatte der britische Schriftsteller John Ironmonger damals schon eine Vorahnung, dass uns eine Pandemie bevorsteht?
Das Handlungsmuster ist ganz typisch für einen Heldenroman: Ein Fremder taucht plötzlich im abgelegenen Fischerdorf St. Piran in Cornwall auf und mischt die Bewohner dort ordentlich auf. Die Art und Weise, wie er auf der Bildfläche erscheint, ist allerdings spektakulär: Er wird nackt und bewusstlos am Strand aufgefunden und von den Dorfbewohnern gerettet.
Nach und nach erfahren wir, dass es sich um Joe Haak, einen Banker aus London handelt. Als eine von ihm entwickelte Software nicht nur einen immensen Schaden verursachte, sondern auch einen globalen Crash durch eine tödliche Grippewelle vorhersah, flüchtete er und landete in St. Piran. Doch ist er wirklich auf der Flucht oder auf einer Mission? Joe Haak entpuppt sich jedenfalls als ein Mann mit Charisma und Tatkraft, der das ganze Dorf mobilisiert, um einen gestrandeten Wal zu retten, und erobert im Nu die Herzen der Bewohner.
In weiten Teilen des Romans lässt John Ironmonger seine Figuren über globalen Handel, Ressourcen, Finanzmärkte und menschlichen Egoismus diskutieren. Es geht vor allem um die Frage, wie Menschen reagieren,  wenn eine globale Katastrophe eintrifft, die gesamte Infrastruktur zusammenbricht und ihre Existenz bedroht wird. Seine Geschichte hat viel Symbolkraft und liest sich gerade in unserer aktuellen Situation wie ein aufmunterndes Plädoyer für Solidarität und Menschlichkeit.
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Kontakte zum Jenseits

Schauplatz des Romans von Laura Ima Messina ist eine „Telefonzelle am Ende der Welt“, genauer gesagt am Hang des Kujirayama in Ôtsuchi an der Küste Nordostjapans. Hauptfigur Yui erfährt erstmals von einem Windtelefon, das tatsächlich existiert, in ihrer eigenen Radiosendung. Seit dem Tsunami im März 2011 reisen Trauernde dorthin, um mit ihren verstorbenen oder vermissten Angehörigen zu sprechen.
Yui, die ihre Mutter und ihre Tochter beim Tsunami verloren hat, sucht eines Tages diesen Pilgerort auf und lernt den Arzt Takeshi kennen, der um seine verstorbene Frau trauert. Von nun an fahren sie gemeinsam einmal im Monat von Tokio nach Ôtsuchi und kommen sich während der langen Autofahrt näher.
Wir bekommen nicht nur Einblick in die tragische Geschichte der beiden Figuren, sondern auch in das Schicksal anderer Hinterbliebenen, die jeder auf seine Weise versuchen, über ihren Verlust hinwegzukommen. Originell fand ich die Einschübe zwischen den Kapiteln, in denen die Autorin bestimmte Details hervorhebt statt sie in die Geschichte einzubetten, zum Beispiel Erinnerungen an ein bestimmtes Gespräch, an die Kleidung oder Gewohnheiten des Verstorbenen.
Trotz aller Tragik strahlt die Erzählweise eine Leichtigkeit, Sanftheit, aber auch Verletzlichkeit aus. Man merkt, dass die Schriftstellerin schon lange in Japan lebt. Sie verwendet viele japanische Ausdrücke und beschreibt die Alltagskultur und typische Bräuche wie die Verehrung der Ahnen vor einem kleinen Hausaltar. Der Schmerz wird bei Yui und Takeshi nicht verschwinden, doch sie lernen nach und nach die Erinnerungen mit schönen Augenblicken in der Gegenwart zu verbinden, in der sie geliebt und gebraucht werden.
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Fünfzig ist das neue Fünfzig

Die Frauen, die Susanne Beyer in ihrem Buch „Die Glücklichen“ vorstellt, könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie hat sowohl mit Prominenten wie Siri Hustvedt, Birgit Fischer, Christiane Paul oder Katarina Barley als auch mit weniger bekannten Persönlichkeiten gesprochen. Eines haben sie gemeinsam: Sie sind um die Fünfzig und genießen diese Lebensphase statt ihrer Jugend nachzutrauern – die Autorin selbst mit eingeschlossen.
Warum das so ist, erläutert Susanne Beyer auf sehr gelungene Weise: In jedem Kurzporträt stellt sie ein bestimmtes Thema in den Vordergrund, zum Beispiel Körper, Leistung, Mutterschaft, Stil oder Sinnlichkeit. Entsprechend vielfältig sind die Lebensgeschichten, in die wir eintauchen, und auch sehr persönlich.
Häufig erlebten die Frauen einen U-förmigen Lebenslauf und erkämpften sich nach schweren Schicksalsschlägen, Krisen oder Demütigungen ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben. Dabei beeindruckte mich vor allem, dass sie nicht die Erfolgsrezepte der Männer kopierten, sondern ihren eigenen Weg gingen so wie Claudia Schiffer, die die Gesetze der Modeindustrie für sich nutzte oder Antje von Dewitz, die das Familienunternehmen nach ihren eigenen Vorstellungen umgestaltete.
Obwohl es nur Schlaglichter sind, schafft es die Autorin, das Besondere an den oftmals unkonventionellen Lebensentwürfen herauszustellen, welche Rolle die Herkunft dabei spielte, welche Vorbilder die Frauen hatten, was ihr Antrieb war und welche Lehren sie aus ihren Erfahrungen gezogen haben. Sie weitet den Blick auf die einzelnen Themen, indem sie auch Sichtweisen und Erkenntnisse aus der Soziologie, Politik, Medizin und Philosophie einfließen lässt.
Ich lese sehr gern Frauenbiografien und habe schon eine beträchtliche Sammlung. Dieses Buch, das mir anhand verschiedenster Berufswelten und bewegender Schicksale das Lebensgefühl einer neuen Frauengeneration vermittelt, wird einen besonderen Platz in meinem Regal finden.
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Trainiere deinen Mach-Doch-Muskel

Was könnte man nicht alles für irre Sachen machen, wenn wir keine Coronakrise hätten! Zum Glück gibt es Bücher wie „Sachen machen“ von Isabel Bogdan. Sie ließ mich an 43 Abenteuern teilhaben und hat eine nette Abwechslung in meinen gleichförmigen Alltag gebracht.
Das Komische ist, dass man so viele Dinge nicht tut, auch wenn man die Gelegenheit dazu hätte. Auch die Autorin schritt erst zur Tat, als sie von einem Onlinemagazin den Auftrag bekam, unter der Überschrift „Sachen machen“ alle zwei Wochen einen Text zu schreiben. 
Bikram Yoga zum Beispiel ist etwas, was ich auch gern einmal ausprobieren würde. Nach dieser schweißtreibenden Erfahrung stürzt sch Isabel Bogran noch auf viele weitere Aktivitäten, die vollen Körpereinsatz fordern: zum Beispiel Aqua Bouncing, Rhönradturnen, Parakiting und Rumkugeln. 
Bei Letzterem dachte ich zuerst an die leckeren Pralinen. Weit gefehlt. Die Rede ist von „Water-Zorbing“, bei dem man sich in aufgeblasenen Plastikkugeln auf dem Wasser fortbewegt. Gesehen habe ich sie schon öfters im Olympiapark, ahnte aber nicht, wie schwierig es anscheinend ist, darin aufrecht zu stehen. 
Richtig viel Spaß hat die Autorin auf dem Indoorspielplatz Rabbatz, wo sie sich auf Deutschland steilster Rutsche, im Spiel- und Kletterlabyrinth und beim Bullenreiten verausgabt. Und weil sie so herrlich schnoddrig und witzig schreibt, ist ihre Euphorie ansteckend. Sie traut sich aber auch an Sachen, die viel Überwindung kosten, wie auf ein Heavy-Metal-Konzert zu gehen oder bei einer Tierschlachtung zuzusehen.
Am meisten beneidete ich sie um die Nacht, die sie mit ihrer Freundin in einer Buchhandlung verbrachte. Die ganze Nacht lang ungestört schmökern und herumalbern - das ist fast so schön wie eine Mädels-Pyjamaparty. Nach der Lektüre bekam ich gleich Lust, meine eigene Liste zu erstellen mit allem, was ich alles ausprobieren möchte. Die Vorstellung, seine Mach-Doch-Muskeln zu trainieren, fand ich schon in den Büchern von Meike Winnemuth sehr inspirierend. 
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Familiäre Abgründe

So befremdlich wie der Titel sind auch die Erzählungen in dem Band „Dinosaurier auf anderen Planeten“ von Danielle McLaughlin. Befremdlich ist vor allem das Verhalten der Figuren. Gleich in der ersten Geschichte bringt die Schülerin Becky ihre Mutter auf die Palme, in dem sie sich zu Hause ihre Füße abbindet. Es handelt sich um eine Hausaufgabe, bei der sie nachfühlen soll, welche Qualen Chinesinnen einst durchlitten haben, um einem Schönheitsideal zu entsprechen. In einer anderen Erzählung sammelt der neunjährige Finn mit Hilfe eines aufgespannten Tennisnetzes tote Vögel. Für ihn sind es die Vorboten der Apokalypse.
Während die Kinder voller Experimentierfreude und auf ihre ganz eigene Art und Weise die Welt um sich herum erkunden und versuchen, sie zu begreifen, scheint bei den Erwachsenen der Zug längst abgefahren zu sein. Es sind durchgehend tragische Figuren, denen sowohl ihre Kinder als auch Partner entgleiten und die sich mühsam durch den Alltag quälen. Das gilt sowohl für Cahill, der mit seiner psychisch gestörten Frau und seiner fordernden Chefin völlig überfordert ist, als auch für Kate, die in der titelgebenden Geschichte von seinem Enkel ferngehalten wird.
Danielle McLaughlin legt schonungslos familiäre Abgründe offen und legt uns ziemlich schwere Kost vor. Faszinierend ist, wie nah beinander Schönheit und Grausamkeit in ihren Beschreibungen liegen und welche eindringlichen Bilder sie in unserer Vorstellung erzeugt.
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Schmerzvolle Reise in die Vergangenheit

„I am eight years old when I see a dead body for the first time“. So beginnt der Roman „Do not feed the bear“ („Bären füttern verboten“) von Rachel Elliott. Wenn das mal kein starker erster Satz ist! Das Ganze ereignet sich, so erfahren wir weiter, in einem Kaufhaus, wo Sydney und ihre Mutter Ila ein Geburtstagsgeschenk für den Vater zu suchen.
So spritzig und skurril der Roman beginnt, ändert sich die Tonlage im Laufe der Geschichte deutlich. Die einst glückliche vierköpfige Familie, die regelmäßig in der Küstenstadt St. Ives in Cornwall Urlaub machte, zerbrach, als Mutter Ila dort starb und man Sydney die Schuld dafür gab. Seitdem rennt die Freerunnerin buchstäblich vor ihrer Vergangenheit weg, doch an ihrem 47. Geburtstag beschließt sie, den Unglücksort aufzusuchen und sich ihren Schuldgefühlen zu stellen.
Dort lernt Sydney eine Reihe von Menschen kennen, die auf ihre Weise mit familiären Konflikten, Ängsten und Verlusten zu kämpfen haben: zum Beispiel die Zahntechnikerin Maria Norton, der es nicht gelingt, aus einer unglücklichen Ehe auszubrechen. Auch Sydneys Vater Howard lebt nach all den Jahren noch immer in Trauer und hat sich sein Leben als einsamer Witwer eingerichtet.
Rachel Elliott macht es uns nicht leicht, der Handlung zu folgen. Die Zeitsprünge und Perspektivwechsel sind extrem. Es wird sogar aus der Sicht von Marias Hund Stuart erzählt. Trotz allem kann man sich den sehr lebensnah und eindringlich beschriebenen Schicksalen, den warmherzig gezeichneten Figuren und ihrer wunderbaren Sprache nur schwer entziehen.
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Die Zukunft zwischen zwei Buchdeckeln

Das Schöne an Büchern ist, dass man in verschiedenste Rollen schlüpfen und mehr als nur sein eigenes Leben leben kann. Doch was wäre, wenn man tatsächlich mehrere Lebensvarianten ausprobieren könnte? So wie Nora Seeds, Heldin des Romans „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig.
Nora hat ihre zahlreichen Enttäuschungen und Niederlagen so satt, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen will. Nach einer Tabletten-Überdosis  findet sie sich in einer riesigen Bibliothek wieder, einem Ort zwischen Leben und Tod. Das Besondere an dieser Mitternachtsbibliothek: Jedes Buch enthält ein Leben, das Nora hätte leben können. Nun hat sie die einmalige Chance, sich aus all den Möglichkeiten ihr perfektes Leben auszusuchen und Versäumtes wieder gutzumachen.
Ich ließ mich gern von Noras Wahl überraschen und begleitete sie von einer Option zur nächsten. Mal ist sie Gletscherforscherin, mal Olympiasiegerin, mal ein Rockstar. Was sehr verlockend klingt, entpuppt sich allerdings als gar nicht so erfüllend, zumal Nora jedes Mal in eine völlig neue Situation hineingeworfen wird und sich erstmal orientieren muss. Hinzu kommt, dass sie an jedem Leben etwas auszusetzen hat, so dass mir ihre Nörgelei und Unzufriedenheit manchmal auf die Nerven ging.
Matt Haig vermittelt uns wieder einmal viele philosophische Weisheiten und Theorien aus der Quantenphysik – vor allem die wichtige Botschaft, dass man das Potenzial, das uns jeder einzelne Lebensentwurf bietet, erkennen und nutzen sollte, statt sich von Fehlentscheidungen oder Rückschlägen herunterziehen zu lassen. Ich mag seine Gedankenexperimente, doch in diesem Roman fand ich sie nicht ganz so stark umgesetzt wie in seinen vergangenen Werken.
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Ein Schimpanse mit Charisma

Nicht nur Haustierbesitzer werden sich sicher schon einmal die Frage gestellt haben: Was wäre, wenn ich mich mit einem Tier unterhalten könnte? In „Sprich mit mir“ von T.C. Boyle liegt die Vorstellung gar nicht so fern.
Der Roman dreht sich um Sam, einem zweieinhalbjährigen Schimpansen, der im Haushalt des Sprachforschers Guy Schermerhorn aufwächst und die Gebärdensprache erlernt. Als die Studentin Aimee eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft bei ihm antritt, ist sie ganz hin und weg von dem klugen Schimpansen, der am liebsten Cheeseburger und Pizza isst und in Magazinen schmökert. Die tiefe Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit und schon bald werden die beiden unzertrennlich.
Die Illusion, dass Sam dauerhaft in einer häuslichen Gemeinschaft leben könnte, wird jäh zerstört, als Guys Chef Moncrief wegen fehlender finanzieller Mittel das Forschungsprojekt für gescheitert erklärt und Sam für Tierversuche verkaufen will. Die Handlung eskaliert, denn jede Figur verfolgt nun fieberhaft ihre eigenen Interessen. 
Das Ganze wird dadurch verstärkt, dass T.C. Boyle die Geschichte aus wechselnden Perspektiven erzählt, sogar aus der Sicht des Schimpansen. In der Hörbuchversion meistert der Sprecher Florian Lukas den extremen Wechsel zwischen Sams zaghafter und verängstigter Stimme und Moncriefs arroganten und wutentbrannten Tonfall exzellent.
Die Geschichte ist nicht nur spannend, sehr emotional und humorvoll erzählt, sondern regt auch zum Nachdenken an, welche Gemeinsamkeiten wir Menschen mit Tieren teilen und warum wir unsere Überlegenheit und egozentrische Rolle als so selbstverständlich hinnehmen.
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Einblicke in die weibliche Psyche

In „Aber es wird regnen“, dem zweiten und letzten Band von Clarice Lispectors Erzählungen begegnen wir Frauen unterschiedlichsten Alters. Das Alter spielt eine zentrale Rolle in ihren Prosaminiaturen, ebenso das Begehren, das schon in jungen Jahren geweckt wird. 
In „Heimliches Glück“ ist für ein junges Mädchen ein ganz bestimmtes Buch das Objekt der Begierde. In „Reste vom Karneval“ fiebert eine Achtjährige einer Karnevalsfeier entgegen, auf der sie ein eigens für sie genähtes Rosenkostüm tragen möchte. Die Leichtigkeit, Zärtlichkeit und Intensität, die von den Texten ausgeht, zogen mich sofort in den Bann. In diesen einfachen Geschichten, die für mich zu den Highlights der Sammlung zählen, deutet die Autorin bereits alle Facetten menschlicher Tragik an, die das Mädchen vermutlich noch erleben wird.
Im zweiten Teil driften die Erzählungen ins Metaphysische, wenn sich zum Beispiel die Beobachtung einer Heuschrecke zu philosophischen Gedanken über das Universum ausweitet. Bei manchen Figuren hat man den Eindruck, sie wollten ihre Umgebung mit Leib und Seele vereinnahmen, sei es ein Tier, das Meer oder einen begehrenswerten Mann.
So unterschiedlich die 44 Geschichten auch sind, bekam ich einen guten Einblick in die Themen, die Clarice Lispector offenbar besonders beschäftigten: Soziale Unterschiede, Liebessehnsüchte und Ängste vor dem Altern und der Einsamkeit. Wie spielerisch und experimentell die brasilianische Schriftstellerin, die letztes Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, mit der Sprache umgeht und sowohl den Zauber als auch die Entzauberung des Alltags auf eine sehr eigenwillige Art in Worte fasst, ist einzigartig.
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Bunt wie die Vogelwelt

Durch die ZDF App „Dein Buch“ bin ich auf den ungewöhnlichen Roman „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ gestoßen. Neugierig machte mich nicht nur der Titel und die positive Rezension, sondern auch der Inhalt. Brigitte Schönauer, die 2019 verstorben ist, entwirft 3 x 13 Porträts, die sich in die titelgebenden Kategorien zuordnen lassen.
Eigentlich hat sich die Ich-Erzählerin Charlotte in ein Haus eines Ornithologen zurückgezogen, um mit ihrem Roman „Glamouröse Handlungen“ weiterzukommen. Inspiriert durch die verschiedensten Vogelarten, die sich ihr aufdrängen und sie an die Gesichter diverser Freunde und Bekannter erinnern, schreibt sie stattdessen Porträts, die sich mal wie eine pointenreiche Kurzgeschichte, mal wie eine Charakterstudie lesen.
Es ist nicht leicht, sich ständig auf eine völlig neue Figur einzulassen, doch die Mühe lohnt sich. Die Autorin entfaltet ein wahres Panoptikum an Menschentypen: Rosetta, die mit ihrer betörenden Ausstrahlung eine ganze Tischgesellschaft verzaubert, die geschwätzige Rosa, die zwei Zugpassantinnen ihre Lebensgeschichte erzählt oder der arbeitslose Hubertus, der sich vergeblich nützlich machen will und seinen Nachbarn auf den Geist geht.
Besonders interessant sind die Charaktere wie die schweigsame Andrea, aus denen die Erzählerin selbst nicht ganz schlau wird. Sie versucht, in ihr Innerstes zu blicken, sie durch eine provokante Bemerkung aus der Reserve zu locken. In der Episode „Ehebrecher en famille“ zeigt Brigitte Schönauer ihr ganzes Können. Man meint, eine Verhaltensstudie zu lesen, wobei sie nicht nur den Blick auf die Mimik, Gestik, die Dialoge und das Unausgesprochne zwischen einer Frau, ihrem Mann und seiner Geliebten richtet, sondern auch das Wohnzimmer, in der sich die Szene abspielt, mit allen Details einbezieht. Garniert mit vielen Vogelmetaphern präsentiert uns Brigitte Kronauer 39 Miniporträts, die so bunt sind wie die Vogelwelt. 
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Eine verkannte Spezies

Als Kind war ich einige Male im Neanderthal Museum bei Mettmann. Seitdem hatte ich wenig Berührungspunkte mit der Frühgeschichte der Menschheit, bis ich den Roman „Neandertal“ von Claire Cameron entdeckte.
Die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen. In der Gegenwart arbeitet die schwangere Archäologin Rose an einer Ausgrabungsstätte in Vallon-Pont-D‘Arc fieberhaft daran, Neandertal-Artefakte freizulegen und ist überzeugt, dass die Fähigkeiten dieser Spezies bisher unterschätzt wurden. Eines Tages stößt sie auf einen sensationellen Fund, der möglicherweise ihre These belegt. In einem parallelen Handlungsstrang entführt uns die kanadische Autorin in die Steinzeit, in der eine junge Neandertalerin von ihrer Familie verstoßen wird und völlig allein auf sich gestellt ist. 
Der besondere Reiz liegt in der Gegenüberstellung der beiden so unterschiedlichen Welten: auf der einen Seite der Alltag vor 40.000 Jahren, in der die letzte Sippe der Neandertaler instinktgetrieben um das nackte Überleben und den Fortbestand ihrer Familie kämpfte; auf der anderen Seite die beruflichen und privaten Probleme, mit denen Rose tagtäglich zu kämpfen hat. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten, die die Autorin geschickt herausstellt, wie das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Wärme, Geborgenheit und die Willenskraft in Ausnahmesituationen.
Claire Cameron schildert das Schicksal der beiden Frauen in fesselnden Bildern und mit raffinierter Dramaturgie. Sie ist so nah an den Figuren, dass ich glaubte, die Todesängste und Schmerzen der Heldinnen am eigenen Leib zu spüren. Sie regt dazu an, über unsere Herkunft und die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft nachzudenken. Den nächsten Besuch des Neanderthal Museums werde ich sicher mit anderen Augen erleben.
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Es war einmal ein Wirtshaus

Man kann sie zu gut verstehen – die Bewohner von Radcot in dem Roman „Was der Fluss erzählt“ von Diane Setterfield, der Ende des späten 19. Jahrhunderts spielt. Sie lieben Geschichten, sitzen jeden Abend im Wirtshaus Swan am Ufer der Themse in der Höhe von Oxford und erzählen sich Mythen und Sagen.
Eines Abends geschieht etwas, was reichlich Stoff für eine neue mysteriöse Geschichte bietet: Ein schwer verletzter Mann mit einem leblosen, aber unversehrten kleinen Mädchen im Arm stolpert ins Gasthaus und bricht zusammen. Zu welchen Theorien und Spekulationen dies führt, zählt für mich zu den stärksten Momenten der Erzählung. Jeder versucht, mit seinem Wissen den Vorfall zu erklären, Lücken zu füllen und sich einen Reim darauf zu machen, um das Ganze in eigener Manier weiterzuerzählen.
Der Vorfall ruft nach und nach neue Figuren auf den Plan: die Krankenschwester Rita, die das Mädchen untersucht; das Ehepaar Vaughn, das seit zwei Jahren seine Tochter vermisst; Robert Armstrong, der sich auf die Suche nach seinem Sohn und seiner Schwiegertochter macht. Ihre Vorgeschichten werden sehr ausführlich erzählt, was im mittleren Teil zu Längen führt. 
Lässt man sich jedoch auf die langsam mäandernden Erzählstränge ein, kommt man in den Genuss einer wendungsreichen und atmosphärisch dichten Geschichte, besonders in der Hörbuchversion. Zu verdanken ist das vor allem der hervorragenden Sprecherin Simone Kabst, die jede Tonlage trifft, ob kindlich, entsetzt oder boshaft. Nicht nur die unterschiedlichen Charaktere, auch der Fluss mit all seinem Tücken und Geheimnissen wird durch die elegante Prosa von Diane Setterfield zum Leben erweckt. Besonderen Reiz gewinnt der Roman dadurch, dass seit einiger Zeit Storyteller-Communities zum Beispiel auf den schottischen Orkney-Inseln die Tradition des mündlichen Erzählens wieder aufleben lassen.
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Plädoyer für die Freiheit

Catherine und Henry Willowes haben es sicher gut gemeint, als sie Henrys Schwester Laura nach dem Tod ihres Vaters bei sich aufgenommen haben. Doch die 28-jährige Heldin des Romans „Lolly Willowes, oder Der liebe Jägersmann“ von Sylvia Townsend Warner ist alles andere als glücklich in ihrem neuen Zuhause. Kein Wunder: Ihr Alltag beschränkt sich darauf, die häuslichen Rituale mitzumachen, an Familien- und -urlauben teilzunehmen und vor allem als „Aunt Lolly“ für die beiden Kinder da zu sein.
Nach zwanzig Jahren reicht es ihr. Sie verkündet ihrem Bruder, dass sie allein nach Great Mop in die Chiltern Hills ziehen und ihr eigenes Leben leben will - was auf heftigsten Widerstand stößt, doch Laura lässt sich von ihrem Entschluss nicht abbringen. Ab da beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt. Sie freundet sich mit ihrer Vermieterin an, macht ausgedehnte Spaziergänge und genießt die Natur und das Alleinsein. Ihr Glück hat jedoch ein jähes Ende, als ihr Neffe Titus bei ihr aufkreuzt und sich einnistet, um ein Buch zu schreiben.
Wenn Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts ein freies Leben führen wollten, mussten sie zu unkonventionellen Mitteln greifen. Das trifft auch auf Laura zu: Sie geht einen Pakt mit dem Teufel ein, um Titus loszuwerden. Der Debütroman von Sylvia Townsend Warner schildert nicht nur den Befreiungsschlag einer Frau, sondern unterhält mit märchenhaften und phantastischen Zügen. Er erschien im Jahr 1926 und liegt nun in einer überarbeiteten Übersetzung von Ann Anders vor.
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Liebe ohne Skript

Am Anfang hat man noch Mitleid mit Nick Marcet, Ich-Erzähler des Romans „Unscripted Love“ („Dies ist kein Liebesfilm“). Seine Freundin Ellie hat ihn nach vier Jahren verlassen. Um seine Trauer zu verarbeiten, tröstet sich der Filmvorführer, Cineast und verhinderte Drehbuchautor mit tragischen Filmfiguren und erstellt eine Liste „Why Ellie left“.
Originell ist die Art und Weise, wie Owen Nicholls das Thema Kino mit stilistischen Mitteln in Szene setzt. Die Gegenwart wechselt sich ab mit Rückblicken auf die gemeinsamen vier Jahre, die am 4. November 2008 in London auf einer Wahlparty ihren Anfang nahmen. Die Wahl und Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten Barack Obama markieren den Anfang und das Ende der Beziehung. Außerdem wird ein vierteiliges Drehbuch eingestreut, das aus der dritten Person erzählt wird und vor allem Ellies Standpunkt deutlich macht.
Leider hat dies auch den Nachteil, dass man zu oft aus dem Fluss der Geschichte geworfen wird. Filmliebhaber werden viel Freude an den zahlreichen Filmzitaten haben. Alle anderen erwartet eine sehr humorvoll erzählte Geschichte über die typischen Fallstricken einer Beziehung wie zu hohe Erwartungen, mangelndes Selbstbewusstsein und Selbstsabotage.
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Die Suche nach dem goldenen Käfer

Nach "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" und "Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie" war ich sehr gespannt auf den neuen Roman von Rachel Joyce, den man schon allein wegen des rundum gelungenen Covers unbedingt besitzen möchte. Ich war erstaunt, wie schnell die Geschichte ins Rollen kommt und "Miss Bensons Reise" beginnt. Schon innerhalb der ersten 30 Seiten konnte ich mir ein gutes Bild der Heldin Margery und ihrem vergangenen Leben als unglückliche Lehrerin machen. Besonders gut gefiel mir, wie als Kind erstmals ihre Leidenschaft für Käfer geweckt und mit 47 Jahren neu erweckt wurde. Sie beschließt, ihren Lebenstraum wahr zu machen und nach Neukaledonien zu reisen, um einen goldenen Käfer zu entdecken, den sie einmal in einem Naturkundebuch gesehen hatte.
Ihre junge Assistentin Enid Pretty in knallbunten Klamotten, die pausenlos plappert, fand ich etwas überzeichnet und klischeehaft. Genauso wie Margery war auch ich von ihrem Gehabe genervt. Ihre gemeinsame Expedition hält sehr viele Überraschungen bereit. Nach und nach kommen Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Tageslicht. Auch Mundic, der sich als Assistent beworben hatte und nun die beiden auf Schritt und Tritt verfolgt, spielt eine mysteriöse Rolle.
Begeistert haben mich die wunderschönen Landschaftsbeschreibungen, besonders beim Landeanflug auf Neukaledonien. Ich hätte mir noch mehr Einblick in die Arbeit eines Insektenforschers gewünscht. Doch das Spannungsverhältnis zwischen Margery und Enid, das sich allmählich zu einer tiefen Freundschaft entwickelt, steht eindeutig im Vordergrund der Geschichte. Je nach Situation übernimmt mal die eine, mal die andere das Kommando und bugsiert beide aus einer gefährlichen Lage.
Was die Glaubwürdigkeit mancher Aktionen und Ereignisse betrifft, muss man schon hin und wieder ein Auge zudrücken. Davon abgesehen haben mir die exotischen Schauplätze, das rasante Erzähltempo, die Botschaft rund um das Thema Freundschaft und Lebenstraum sowie die wunderschöne Sprache großes Lesevergnügen bereitet.
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Literarischer Roadtrip

Normalerweise schmieden wir um diese Zeit Urlaubspläne für das kommende Jahr. Doch so wie es aussieht, werden wir wohl für längere Zeit auf Reisen verzichten müssen. Da bleibt nur eines: sich mit Büchern zu trösten wie „USA Noir“, das uns zu einem literarischen Roadtrip quer durch die Staaten einlädt – von der Ostküste über das Landesinnere bis hin zu den Großstädten an der Westküste. 14 Kurzgeschichten von weniger bekannten und bekannten Autoren wie Jeffrey Deaver oder Lee Child enthält die Sammlung. 
Die Settings sind so verschieden wie die AutorInnen und die lebensechten, teils schrägen Figuren. Mal geht es um eine Berufswetterin in Long Island City, die ihren trotteligen Freund loswerden will, mal um einen Trickbetrüger, Kriegsverteranen oder Drogendealer.
Ein Thema jedoch zieht sich wie eine roter Faden durch die Geschichten: die Kluft zwischen Reich und Arm und die soziale Ungerechtigkeit. Selbst die Figuren, die versuchen, ein anständiges Leben zu führen, erliegen der Versuchung, die allerorts lauert. Warum nicht das Recht auf ein glückliches und sorgloses Leben auch für sich beanspruchen und zugreifen, wenn sich die Chance bietet?
Am besten gefiel mir die Erzählung von Joyce Carol Oates, die am Paraquarry Lake in New Jersey spielt. Die Autorin lässt nicht nur die imposante Landschaft der Kittatinny Mountains und eine scheinbare Familienidylle vor unseren Augen entstehen, sondern überrascht auch mit einer sehr düsteren Pointe. Die vielfältigen Städte- und Länderporträts geben einen guten Einblick in das jeweilige Milieu und machen neugierig auf die weiteren Anthologien „Berlin Noir“ und „Paris Noir“.
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British way of life

In einer Zeit, in der man weder reisen noch unbeschwert Freunde treffen kann, kommt das Buch „What‘s for tea?“ genau recht. Cornelia Hunt nimmt uns mit auf eine vergnügliche Reise durch England und den britischen Alltag.
Die Tour beginnt in „Fryer’s Delight“, ihrem Lieblings-Fish-&-Chips-Laden in London und idealen Umfeld, um uns die englische Küche näherzubringen. Weiter geht’s in verschiedene Cafés und Pubs, wo sie uns Wissenswertes und Kurioses über englische Biersorten, die Herkunft des Tees oder das Königshaus erzählt. Ich war gespannt auf jede neue Verabredung, bei der sie uns eine Sehenswürdigkeit vorstellt oder einen Geheimtipp verrät.
Sie spricht uns dabei nicht nur direkt an, sondern führt auch imaginäre Gespräche mit uns, gemischt in Deutsch und Englisch. So lernen wir nebenbei im jeweiligen Kontext eine Reihe von umgangssprachlichen Wörtern, Sätzen und Redewendungen wie „Snug as a bug in a rug“, die man im Lehrbuch oft nicht findet. Da jedes Kapitel mit einem kurzen Test endet, las ich automatisch jeden Absatz sehr aufmerksam, damit mir kein Detail entging.
Die Lektüre ist nicht nur lehrreich, sondern auch kurzweilig und abwechslungsreich, zumal die Autorin immer wieder mit neuen Überraschungen wie Rätsel, Zungenbrechern und typischen Verwechslungswörtern aufwartet. Selten habe ich eine so unterhaltsame Mischung aus Stadt- und Sprachführer gespickt mit Anekdoten und Insidertipps gelesen. Ein ähnliches Buch würde ich mir auch für andere Fremdsprachen wünschen!
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Frostige Weihnachten

Bei den Büchern von Ali Smith muss man auf allerhand gefasst sein. Sicher ist, dass es keine gewöhnliche Lektüre wird, so auch bei ihrem jüngsten Werk „Winter“, dem zweiten Teil ihres Jahreszeitenquartetts. Schon bei der Inhaltsangabe tue ich mich schwer, weil es keine stringente Handlung gibt, sondern vielmehr ein Ineinanderfließen von Momentaufnahmen.
Der Roman beginnt mit einem düsteren Szenario, in dem fast alles tot ist: die Romantik, die Poesie, die Kultur, die Demokratie ...  Im Mittelpunkt des Geschehens steht Sophia, die in einem alten Haus in Cornwall lebt und Dinge sieht, die andere nicht sehen, zum Beispiel einen schwebenden Kopf, der sie durch das Haus begleitet. Sie hat über die Weihnachtstage ihren Sohn Arthur und dessen Freundin Charlotte eingeladen. Da Arthur sich von seiner Freundin getrennt hat, bringt er stattdessen eine Studentin mit, die er an einer Bushaltestelle aufgegabelt hat und sich als Charlotte ausgeben soll. Als dann noch Sophies Schwester Iris dazu stößt, hängt der Haussegen völlig schief. Iris war schon immer das Gegenteil von Sophie: eine Rebellin und Weltverbesserin. Weihnachtliche Stimmung kommt kaum auf, doch die Zänkeleien und die Art und Weise, wie jeder auf seine Sicht der Welt beharrt, hat doch viel Ähnlichkeit damit, wie das „Fest der Familie“ häufig abläuft.
Allzu zartbesaitet darf man nicht sein: Sophias gehässige Kommentare gepaart mit teils schockierenden Bildern brachten mich ziemlich aus der Fassung. Umso überraschender sind dann die zarten Momente der Versöhnung, die hin und wieder aufblitzen. Ali Smith präsentiert uns, wie zu erwarten war, keine klassische Familiengeschichte, sondern eine experimentelle, literarische Spielerei mit Erzählperspektiven, Zeitebenen, Worten, Wahrheit und Lüge, in der sowohl aktuelle politische Themen als auch literarische Größen wie Dickens und Shakespeare ihren Platz finden.
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In zwölf Kapiteln um die Welt

In 12 Kapiteln einmal um den Globus reisen? Der britische Schriftsteller David Szalay macht es möglich in seinem Kurzroman „Turbulenzen“. Es geht von London über Dakar, Seattle, Hongkong unter anderem nach Delhi und Doha und wieder zurück nach London. Allerdings stehen hier nicht die einzelnen Stationen im Vordergrund, sondern die verschiedenen Reisenden, die sich zufällig begegnen und nach einem kurzen Aufenthalt gleich weiterfliegen.
Originell ist die Dramaturgie. Die Nebenfigur einer Geschichte wird zur Hauptfigur der nächsten. Wie bei einem Staffellauf wechseln wir so von einer Person zur nächsten und bekommen einen kleinen Einblick in ihr Leben. Da die Episoden sehr kurz sind, konnte ich mir leider nur von wenigen Figuren durch ihr Verhalten oder ihre Gespräche ein genaueres Bild machen. Ein Arzt zum Beispiel, der sich mit seinem Bruder zum Golfspiel in Vietnam trifft, wartet auf den richtigen Zeitpunkt, um dessen Schulden einzufordern und lässt uns an seinen Gedanken teilhaben.
Wenn ich auf Reisen bin und Bekanntschaft mit Touristen oder Einheimischen mache, frage ich mich manchmal, wie deren Leben nach der Begegnung wohl weitergeht. Daher fand ich das Konzept dieses Buches sehr interessant, zumal es deutlich macht, wie schnelllebig unser Alltag geworden ist. Sprachlich fand ich die Geschichten sehr schön erzählt, aber die Handlungen blieben für mich zu sehr an der Oberfläche und konnten mich emotional nicht packen.
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Eine Ringarde kämpft sich hoch

Dass die Netflix-Serie „Emily in Paris“ beim französischen Publikum nicht so gut ankam, kann ich mir gut vorstellen. Die französische Hauptstadt hat doch wohl weit mehr zu bieten als kitschige Postkartenmotive, Croissants, Haute Couture und Champagner. Wie kommt es dann, dass die Serie trotzdem auf Nummer 1 steht?
Vielleicht liegt es an der quirligen und aufgeweckten Figur Emily, die aus Chicago zu einer Marketingagentur in Paris geschickt wird, um ihr die amerikanische Perspektive auf den Konsum zu vermitteln. Oder an dem gut aussehenden Nachbarn und Koch Gabriel, dessen Charme sich nicht nur Emily, sondern vermutlich der Großteil des weiblichen Publikums schwer entziehen kann.
Ich fürchte, nach „Melrose Place“ und „Sex and the City“ hat der erfolgreiche Autor Darren Star mich auch mit dieser Serie geködert. Er bleibt seiner Masche treu: Schöne Menschen im schicken Outfit und stylischem Ambiente stellen sich beruflichen und beziehungstechnischen Herausforderungen. 
Dabei geht er natürlich mit der Zeit: Was für Carrie Bradshaw die Kolumne in der Zeitung „New York Star“ war, ist bei Emily ihr Instagram-Account mit rasant wachsender Followerzahl. Eines muss man Emily lassen: Sie versteht es, mit originellen Ideen klassische Werbekampagnen social-medial-tauglich zu machen und Aufsehen zu erregen. Auch wenn sie als "Ringarde" abgestempelt und von ihrer Chefin schikaniert wird, lässt sie sich nicht unterkriegen. Wer überstrapazierte Klischees in Kauf nimmt, kann für eine Weile aus dem Alltag in eine grellbunte Welt entfliehen und sich über die Machtkämpfe in der Agentur und zwischen angesagten Modedesignern amüsieren.
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Engel tragen Chanel

Selbst Menschen, die sich nichts aus Mode machen, können sich der Wirkung ihrer Kleidung nicht entziehen. Das und vieles mehr wurde mir in der Anekdotensammlung „Männer in Kamelhaarmänteln“ bewusst.
Elke Heidenreich nimmt uns in diesem Hörbuch mit auf eine Reise in die Welt der Kleidung, vom Hoodie bis zum Sonntagskleid, von Goldknöpfen bis zu Silberschuhen, vom Nachthemd bis zur Tracht. Dabei geht es vor allem darum, welche Bedeutung ein einzelnes Kleidungsstück für uns haben kann, welche Gefühle, Erinnerungen oder Sehnsüchte sie in uns auslösen. 
Zu gut konnte ich die Erzählerin verstehen, die die Jacke eines Kollegen, in den sie verliebt war, heimlich behielt. Wenn sie schon den Kollegen nicht haben konnte, dann wenigstens die Jacke, in die man seine Fantasien hineinprojizieren kann. Ihre Geschichten sind mal witzig und bissig, mal traurig und melancholisch, aber vor allem persönlich, denn sie erzählt viel über ihre Jugend, Freundschaften, Liebschaften und Anekdoten aus ihrem Berufsleben. Wie schon in ihren übrigen Hörbüchern habe ich ihre Stimme genossen, die jeder Geschichte den passenden Ton und Rhythmus verleiht.
Wir begegnen nicht nur Menschen aus ihrem Familien- und Freundeskreis, sondern auch Prominenten, Romanfiguren und Künstler/innen wie Frida Kahlo. In "Kleider im Himmel" trägt Verdi einen Bauernkittel und die Engel Chanel. Nicht alle Geschichten haben mir gleich gut gefallen, doch was Elke Heidenreich durchgehend gelingt, ist, durch ihre treffsichere Sprache die vielen Facetten der Mode, sei es Farbe, Material, Schönheit und Hässlichkeit kurzweilig und sinnlich erlebbar zu machen. 
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Reise zurück in die Jugend

Der Ich-Erzähler des Romans „Aus der Welt“ ist weder sonderlich sympathisch, noch bietet er viel Identifikationspotenzial – Und dennoch trieb es mich immer weiter durch die über 900 Seiten lange Geschichte über den Aushilfslehrer Henrik Vankel, der in ein nordnorwegisches Dorf zieht.
Natürlich hängt die Sogwirkung auch damit zusammen, dass im ersten Drittel etwas Ungeheuerliches passiert: Der 26-Jährige verliebt sich in eine 13-jährige Schülerin und gibt sich seiner Begierde hin. Aus Angst vor den Folgen flieht er in seine Heimat Kristiansand im Süden Norwegens und arbeitet seine Vergangenheit auf. 
In Knausgårds Debütroman finden sich bereits viele Elemente, die ganz typisch sind für seine folgenden Werke – zum Beispiel autobiografische Züge, atmosphärische Naturbeschreibungen im Wechsel der Jahreszeiten, psychologische Analysen und philosophische Betrachtungen, seine Empfindsamkeit, aber vor allem monströse Gedankenströme. Stellenweise waren mir seine Exkurse in die Literatur oder seine Träumereien und Grübeleien zu ausufernd. Man braucht sich nicht zu wundern, dass der Roman so lang geraten ist, denn vieles findet gar nicht real, sondern nur im Kopf der Figur statt.
Mal hat man das Gefühl, dass der Autor kein Detail auslassen möchte, dann wieder lässt er den Leser mit offenen Enden etwas ratlos zurück. Am meisten beeindruckt hat mich seine Art, Minderwertigskeits- und Schamgefühle schonungslos offenzulegen und die Kraft seiner Sprache und Bilder.
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Von Jahresring zu Jahresring

Der Roman „Das Flüstern der Bäume“ beginnt im Jahr 2038, doch er ist kein Science Fiction. Vielmehr erzählt der kanadische Schriftsteller Michael Christie eine packende Familiensaga und tastet sich über vier Generationen bis ins Jahr 1908 zurück.
Schon das erste Kapitel zog mich in den Bann. Ich wollte unbedingt mehr wissen über den abgelegenen Schauplatz Greenwood Island und wie es dazu kam, dass Jacinda Greenwood dort als Naturführerin arbeitet. Ihre Familiengeschichte kennt sie genauso wenig wie der Leser - bis plötzlich ihr Ex-Verlobter auf der Insel auftaucht und sie mit dem Tagebuch ihrer Urgroßmutter überrascht.
Jacindas Vergangenheit wird Stück für Stück wie die Jahresringe eines Baumes aufgerollt, angefangen mit ihrem Vater und Tischler Liam, ihrer Großmutter und Umweltaktivistin Willow, ihrem Großvater und Holzmagnat Harris und dessen Bruder Everett.
Der Roman ist ein Mix aus Familiengeschichte, Road Movie, Dystopie, Liebesgeschichte und Ökoparabel und doch fügen sich die verschiedenen Elemente und Generationen zu einer Einheit, die vom zentralen Motiv des Baumes und der Holzverarbeitung zusammengehalten wird. Der Teil, in dem Jacindas Urgroßonkel mit einem Baby auf der Flucht ist, hat mich besonders bewegt. Bäume und Wälder sind derzeit ein beliebtes literarisches Thema, doch selten habe ich eine so originell komponierte und fesselnd erzählte Hommage gelesen.
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Alles nur eine Illusion?

Zwei Männer verlieben sich in die gleiche Frau. Das klingt nach einer klassischen Dreiecksgeschichte. Doch was Graham Swift in „Here We Are“ ("Da sind wir") daraus macht, ist ganz und gar nicht gewöhnlich.
Das liegt zum einen an der ausgefeilten Komposition. Jack Robbins, Ronnie Deane und seine Verlobte Evie White sind gefeierte Varietéstars im Seebad Brighton und verzaubern allabendlich das Publikum. Doch schon zu Beginn der Geschichte gibt es immer wieder Andeutungen, dass in jener Saison im Jahr 1959 etwas Einschneidendes in ihrem Leben passiert. Was genau und wie es dazu kam, erfahren wir in bruchstückhaft und vielen Zeitsprüngen.
Am meisten bewegte mich die Vergangenheit von Ronnie Deane. Während der Bombardierung Englands wird er von seiner Mutter in London zu Pflegeeltern ins ländliche Oxfordshire gebracht, wo er eine paradiesische Kindheit erlebt. Von seinem Pflegevater wird er in die Kunst der Magie eingeführt und entdeckt seine Berufung. Beim Militär freundet er sich mit Jack Robbins an und gemeinsam steigen sie in das Showbusiness ein. Als jedoch Evie White als Assistent dazu stößt, kippt die harmonische Konstellation.
Das Besondere an diesem Kurzroman ist, wie Graham Swift die Grenze zwischen Illusion und der ernüchternden Realität auflöst. Er lässt sowohl auf der Bühne als auch in der Handlung Menschen ‚verschwinden‘, baut Täuschungsmanöver ein und spielt mit den Erwartungen der Leser. Die Frage, die sich die Protagonist wiederholt stellen, lautet: Was hätte alles sein können?
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Finde dein nächstes Lieblingsbuch

Eigentlich habe ich zur Zeit genügend Bücher auf meiner Leseliste. Doch ich fürchte, dass sie noch weiter anwächst, nachdem ich eine tolle ZDF-App entdeckt habe.
In „Finde dein Buch“ wird man jeweils vor zwei Auswahlmöglichkeiten gestellt - zum Beispiel Sachbuch oder Belletristik, Poesie oder Prosa, Klassiker oder Moderne, schwere oder leichte Kost, fremde Länder oder heimische Gefilde. Indem man jeweils seine Vorlieben anklickt, schränkt man das Spektrum immer weiter ein und bekommt zum Schluss eine Liste von Buchtipps. Die Genres sind nett illustriert und verleiten dazu, alle möglichen Kombinationen auszuprobieren.
Zu jedem Buch gibt es nicht nur eine kurze Inhaltsangabe, sondern auch eine persönliche Empfehlung von Literaturexperten als Kurzvideo. Ich bin auf die Weise auf ein sehr interessantes Buch gestoßen: „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ von Brigitte Kronauer. Darin geht es um eine Schriftstellerin, die im Haus eines Ornithologen an ihrem Roman arbeitet und sich den Abgründen der Schriftstellerei stellen muss. Sowohl die Handlung als auch das Fazit des Literaturkritikers („Dieses Buch ist ein Ereignis!“ machen mich neugierig.
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Vorhang auf!

Nach dem gleichen Konzept wie "Schriftstellerinnen!" und "Krimi!" entführen uns Karen Mahrenholtz und Dawn Parisi in die Welt des Theaters. Als einer der ersten Dramatiker wird Aischylos vorgestellt, der als Soldat die Perserkriege miterlebte und mit der griechischen Tragödie „Die Perser" berühmt wurde.
Von 800 v. Chr. bis 2016 spannen die Autorinnen einen Bogen und stellen ausgewählte Stücke vor. Interessanter als die Inhaltsangaben, die man sich vor lauter verschiedener Figuren und Handlungen kaum merken kann, fand ich die Einordnung in die jeweilige Zeit und die Reaktionen der Zuschauer. So manche Autoren wagten etwas völlig Neuartiges und überraschten damit das Publikum. Goethe zum Beispiel löste in "Götz von Berlichingen" erstmals die Theaterregel nach Aristoteles – die Einheit von Ort, Zeit und Handlung – auf; Gerhart Hauptmann erfand das Sozialdrama.
Manche Stücke sind wahre Evergreens, zum Beispiel "Die Mausefalle" von Agatha Christie, das seit mehr als sechzig Jahren täglich in London gezeigt wird. Der Streifzug durch zahlreiche Stücke wird aufgelockert durch treffende Illustrationen, Schaubildern und Übersichten, zum Beispiel von berühmten Theaterhäusern, Theatertruppen oder Spielleitern.
Ich war lange Zeit ein begeisterter Kinogänger, während das Theater für mich immer mehr seinen Reiz verlor, obwohl ich viele Werke von Molière, Camus oder Ionesco gern gelesen habe. Das liegt vor allem an den modernen Aufführungen, die ich zuletzt gesehen habe. Wenn sich die Darsteller permanent anbrüllen, nackt auf der Bühne herumspringen oder urinieren, ist das nur nervig und abstoßend. Ich hatte den Eindruck, dass die modernen Autoren in erster Linie provozieren wollen, was sich in diesem Buch bestätigt hat. Einem Stück wie "Call Cutta" ohne Bühne und ohne Schauspieler, mit nur einem Performer, den man nicht sieht und einem Theatergänger, der sein eigenes Drama erlebt, kann ich vermutlich wenig abgewinnen. Da lasse ich mich lieber von Mahrenholz und Parisi mit ihrem informativen Überblick unterhalten.
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Seine Agenda bestimmen

Selten hatten wir so viele Tools an der Hand wie heute, um unsere persönliche Marke aufzubauen. Doch warum ist das so wichtig und wie setzt man die vorhandenen Mittel ein, um seine Ziele und Zielgruppen zu erreichen? Mit dieser Frage beschäftigt sich Tijen Onaran in ihrem Buch „Nur wer sichtbar ist, findet auch statt“. Sie erleichtert den Einstieg in das Thema, indem sie zunächst von ihrer eigenen Laufbahn erzählt, die in der Politik begann und zur Gründung ihres eigenen Unternehmens "Digital Global Women" führte.
Die Autorin geht dabei systematisch vor: Sie erklärt, wie man als erstes seinen eigenen Markenkern bestimmt und ausgestaltet und ihn dann durch Personal Storytelling seiner Zielgruppe bekannt macht. Anhand vieler Beispiele aus der Praxis macht sie deutlich, dass Personal Branding keineswegs mit reiner Selbstinszenierung zu verwechseln ist. Durch hervorgehobene Merksätze und kurze Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels, bringt sie ihr Wissen rund um das Thema, dass sie sich selbst angeeignet hat, auf den Punkt. Sie hat völlig Recht: So etwas wird einem in der Schule oder im Studium nicht beigebracht. 
Es sind aber vor allem ihre persönlichen Erfahrungen, die das Buch so lesenswert machen. Die Unternehmerin und Speakerin erzählt von ihren Erfolgen und Rückschlägen, was sie aus ihren Fehlern gelernt hat und welche Strategien ihr besonders geholfen haben. Sie erklärt nicht nur, wie man als Person natürlich und glaubhaft rüberkommt, sondern strahlt dies selbst durch ihren angenehmen Schreibstil und ihre sympathische Haltung aus. Ich konnte sehr viele nützliche Tipps mitnehmen, vor allem wie meine seine eigene Agenda bestimmt und seine Präsenz in den sozialen Medien gezielt verbessern kann.
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Unterwegs in der Wildnis

Ich reise gern, doch muss ich gestehen, dass ich bei meinen Urlaubszielen immer einen großen Bogen um die Wildnis gemacht habe. Umso spannender ist es für mich, wenn mir Autor/innen wie Elli H. Radinger diese fremde Welt nahebringen. In „Das Geschenk der Wildnis“ berichtet sie von ihren Erlebnissen und langjährigen Erfahrungen als Naturforscherin, Wolfsexpertin und Reiseveranstalterin an verschiedensten Schauplätzen in Wyoming, Montana, Arizona oder Alaska.
Die Begegnung mit Tieren in ihrem natürlichen Umfeld steht dabei im Vordergrund. Im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark erforschte sie über 30 Jahre lang das Verhalten der Wölfe und unternahm mit Touristen Wolfsreisen. Man könnte sich auch in einem Sachbuch über Grizzlys, Kojoten, Wale oder Weißkopfadler informieren, doch wieviel spannender und emotionaler ist es, deren Eigenarten in einem persönlichen Erfahrungsbericht zu lesen! Wenn die Naturforscherin von einem Angriff durch einen Grizzly erzählt, sich an ein unbeschreibliches Gefühl beim Whale Watching erinnert oder uns über die trickreichen und anpassungsfähigen Kojoten und die wider Erwarten gelenkigen und verspielten Bisons aufklärt, meint man, mitten im Geschehen zu sein.
Die vielen Tier- und Landschaftsaufnahmen in Farbe und Schwarzweiß sowie das Talent der Autorin, ihre genauen Beobachtungen in eine flüssige und poetische Sprache zu verpacken, machten es mir leicht, in diese Welten einzutauchen und ihre Ehrfurcht und Dankbarkeit nachzuempfinden. Es ist schön zu wissen, dass sie trotz zahlreicher Abenteuer und Reisen auch heute noch nicht das Staunen verlernt hat.
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Gestrandet im Gelben Haus

Schon lange habe ich auf eine Gelegenheit gewartet, einen Roman von Jane Gardam zu lesen, die vor allem durch die „Old Filth“-Trilogie weltberühmt wurde. Ihr aktuelles Buch „Crusoe`s Daughter“ („Robinsons Tochter“) schien mir da genau richtig, in dem laut der Schriftstellerin „alles drin steht, was sie zu sagen hat“.
Heldin der Geschichte ist Polly Flint, Vollwaise, die im Jahr 1904 mit sechs Jahren zu ihren religiösen Tanten ins Gelbe Haus am Meer zieht. Obwohl sich Mary und Frances pflichtbewusst um sie kümmern und ihr ein behütetes Zuhause bieten, fühlt sich Polly einsam.
Trost findet sie in der Bibliothek, besonders in ihrem Lieblingsbuch und Lebensbegleiter „Robinson Crusoe“, das sie mindestens einmal im Jahr liest. Die Passagen, in denen sie sich mit dem Gestrandeten vergleicht, zeigen Gardams Empathie für ihre Figuren und ihren Humor.
Während die Menschen, die ihr nahe stehen, sie nach und nach verlassen, ist Polly auf der Suche nach ihrem Platz auf der Welt und emanzipiert sich immer mehr. Interessanter als die Handlung fand ich die treffend beschriebenen feinen Beobachtungen und das gesellschaftliche Umfeld, mit dem sich Polly mit zunehmendem Alter kritisch auseinandersetzt.
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Eine Reise ans Ende der Welt

Um seiner Berufung zu folgen und seinen Traum zu verwirklichen, muss man schon mal zu unkonventionellen Mitteln greifen. Das galt besonders für Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Mary Linley, Protagonistin des Romans „Vom anderen Ende der Welt“, ist fest entschlossen, Botanikerin zu werden. Die 19-Jährige will in die Fußstapfen ihres Vaters treten, ein angesehener Arzt und Naturforscher, der ihr sein Wissen weitergab und während einer Expedition ums Leben kam. Ihre Tante Henriette ist strikt dagegen und will sie so schnell wie möglich unter die Haube bringen.
Als sich Mary als botanische Mitarbeiterin für eine Expeditionsreise in den Südpazifik bewirbt, wird sie natürlich abgewiesen. So verkleidet sie sich als Mann und kann sich als Zeichner auf die Sailing Queen einschmuggeln. Welche Gefahren und Widrigkeiten sie erwarten, ist der jungen Frau, die die Welt bereisen will, noch nicht bewusst.
Von Plymouth aus geht es über Madeira, Südafrika, rund um Kap Horn bis nach Haiti. Liv Winterberg beschreibt den harten Alltag der Crew und eine Reihe von tragischen Unglücksfällen so detailreich und intensiv als hätte sie sie selbst miterlebt. Leider nahm dieser Part so viel Platz ein, dass die eigentliche Forschungsarbeit als Botaniker, die mich am meisten interessierte, etwas zu kurz kam. So habe ich besonders gern die Passagen gelesen, in denen Mary die Wissenschaftler auf Landgänge zum Beispiel in Rio de Janeiro begleitet und die Pflanzenwelt erkundet. Der Roman beruht auf der Lebensgeschichte der französischen Naturforscherin Jeanne Baret.
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Spurensuche in der Krimiwelt

Vor kurzem bekam ich Lust, ein zweites Mal das Buch „Schriftstellerinnen!“ von Katharina Mahrenholtz und Dawn Parisi zu lesen. Welch ein Glück, denn im Vorwort stolperte ich über die weiteren Bücher der gleichen Reihe, die ich ganz vergessen hatte und nun sofort alle auf einmal bestellte.
Krimi!“ ist das kürzeste in dieser Buchreihe und kommt in einem kleineren Format als die anderen daher. Das Konzept ist ansonsten gleich: Mahrenholtz und Parisi stellen ausgewählte Krimis aus dem Zeitraum von 1823 bis 2015 vor, in denen Ermittler die Protagonisten sind, und gehen jeweils kurz auf den Autor, den Ermittler und den Inhalt ein. 
Klar gibt es ein Wiedersehen mit den Klassikern von Edgar Allan Poe, Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie und kann sie anhand der begleitenden Timeline in das Zeitgeschehen einordnen. Das Buch wäre nur halb so lesenswert, wären da nicht die gelungenen Illustrationen von Dawn Parisi. Mal porträtiert sie die Detektive, Agentinnen oder Journalistinnen, mal illustriert sie Szenen aus den Krimis. In bunten Schautafeln werden britische und amerikanische Krimis gegenübergestellt, ungewöhnliche Mordwaffen und Zweit- und Drittberufe der Schriftsteller vorgestellt. Hättet Ihr gewusst, dass Patricia Highsmith Spielwarenverkäuferin war oder Ian Rankin Schweinehirt und Punkmusiker?
Sowohl die Themen als auch die Art der Umsetzung sind wieder sehr originell. Es gab Zeiten, da war auch ich süchtig nach Krimis, vor allem von Henning Mankell und Tess Gerritsen. Das Interesse ist in den letzten Jahren etwas abgeflaut, wurde durch dieses Buch aber wieder geweckt. Wer sich für den einen oder anderen vorgestellten Titel interessiert, sollte die Inhaltsangabe wegen Spoilergefahr nicht zu Ende lesen!
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Ein Wunderkind auf Reisen

Es gibt sicher nicht wenige Eltern, die ihre eigenen unerfüllten Träume auf ihre Kinder projizieren. Doch kaum einer hat es wohl so konsequent und gnadenlos durchgezogen wie Friedrich Wieck, Vater der weltberühmten Pianistin und Komponistin Clara Schumann. Von dieser symbiotischen Beziehung zwischen Vater und Tochter handelt die Romanbiografie „Das Mädchen am Klavier“ von Rosemarie Marschner.
Friedrich Wieck ist Inhaber einer Klavierfabrik und angesehener Musikpädagoge in Leipzig. Seine ganze Hoffnung setzt er jedoch allein auf Clara, die schon als Kind mit ihrem virtuosen Spiel Paganini und Goethe begeistert. Wieck kann es gar nicht erwarten, das Wunderkind der Welt zu präsentieren. Nach einer Tournee durch Erfurt, Gotha, Kassel und Frankfurt soll im Jahr 1832 das Publikum in Paris erobert werden.
Man könnte Mitleid mit der jungen Pianistin haben, die zu strengster Selbstbeherrschung, Disziplin und Konzentration erzogen wird und im Gegensatz zu ihren zwei Brüdern ein streng durchgetaktetes Leben hat. Erstaunlicherweise fühlt jedoch Clara ganz ähnlich wie ihr Vater und geht so sehr in ihrem Klavierspiel und ihren Auftritten auf, dass sie jede Qual auf sich nimmt. Die Beziehung wird jedoch gefährdet, als sich die Pianistin in den Komponisten Robert Schumann verliebt.
Ähnlich wie in ihrer Romanbiografie „Good Morning Mister Mendelssohn“ gelingt Rosemarie Marschner auch in diesem Buch eine sehr genaue und wunderbar geschriebene Charakter- und Milieustudie. Sie beschreibt sowohl den unersättlichen Ehrgeiz und den ständigen Kampf um Anerkennung als auch die berauschenden Glücksmomente vor dem jubelnden Publikum.
Schade, dass der Roman nur von Claras Jugendzeit handelt. Manches wiederholt sich, zum Beispiel die Schilderung der Konzertreisen oder die heimliche Korrespondenz mit Robert Schumann. Stattdessen hätte ich gern erfahren, wie es im Leben der gefeierten Pianistin weitergeht.
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Viva la vida

Der Anfang des Romans „Frida“ von Maren Gottschalk ist bezeichnend. Die Malerin Frida Kahlo beschreibt die Schmerzen, mit denen sie seit ihrem Verkehrsunfall tagtäglich zu kämpfen hat. Ihr versehrter Körper als ihr Feind ist ein wiederkehrendes Bild, das auch ihre Kunst maßgeblich beeinflusst hat.
Maren Gottschalk konzentriert sich auf die Jahre 1938 und 1939, die die mexikanische Künstlerin in New York und Paris verbrachte - und doch erzählt sie weitaus mehr aus ihrem Leben. In kurzen Rückblenden, die sie elegant mit der Handlung verschmelzt, erfahren wir über ihren tragischen Unfall, die Anfänge ihrer Ehe mit dem erfolgreichen Maler Diego de Rivera, seine Affären und wie sie ihren aktuellen Liebhaber und Werbefotografen Nick kennenlernte.
Vor allem aber bringt uns die Autorin Fridas Charakter näher, sowohl ihre direkte und unverblümte Art als auch ihre sensible und leidenschaftliche Seite und die starke Verbundenheit zu ihrer Heimat Mexiko. Deutlich wird auch ihre besondere Beziehung zu ihrem Ehemann Diego, von dem sie sich zwar emanzipiert hat und nun ihre eigenen Erfolge und ihren Ruhm feiert, doch ihm immer noch künstlerisch und emotional stark verbunden ist.
Ich bekam nicht nur einen guten Einblick in ihren künstlerischen Schaffensprozess, sondern begleitete sie auch mit großem Vergnügen zu ihren Ausstellungen in New York und Paris und in die brodelnde Künstlerszene, in der sie unter anderem Duchamp, Miró und Picasso begegnet. 
Maren Gottschalk ist ein sehr lesenswertes Porträt gelungen, das uns in jeder Zeile den Lebenshunger der Künstlerin und die große Resonanz ihrer Werke spüren lässt.
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Innerlich zerrissen

Im Leben von Jonas bröckelt die Fassade – im wahrsten Sinne des Wortes. Der Ich-Erzähler des Romans „Das Rauschen der Nacht“ ist mit seiner Frau Birte und seinen zwei Kindern von Hamburg aufs Land gezogen. Das neu gebaute Einfamilienhaus hat jedoch Risse in der Fassade und stürzt seine Familie in eine finanzielle Krise. Gleiches gilt für sein Start-up-Unternehmen, das nach drei Jahren immer noch auf keinen grünen Zweig kommt.
André Hille zeichnet in seinem Debütroman einen Familienvater, der enorm unter Erfolgsdruck steht und den Drang verspürt, aus seinem Leben auszubrechen und sich wieder frei und lebendig zu fühlen. So lässt er sich zu Taten verleiten, die seine nur scheinbar stabile Ehe ins Wanken bringt.
Sehr gut gefiel mir, wie der Autor die Schilderung von tagtäglichen praktischen Aufgaben wie die Vorbereitung eines Kindergeburtstags mit existenziellen Lebensfragen verwebt. Sätze wie „Wo endet das Wachstum, wo beginnt die Gier?“ regen zum Nachdenken an. Hille schreibt mit sehr viel Empathie für seine Hauptfigur, so dass ich die Last der Erwartungen, das Gefühl, kein Projekt erfolgreich zum Abschluss bringen zu können und die Angst vor dem sozialen Abstieg gut nachvollziehen konnte. Zugleich habe ich mit Spannung verfolgt, wie Jonas` riskantes Vorhaben zur Rettung seiner Firma ausgehen wird.
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Suche nach Erkenntnis

Wer vor einer schweren Entscheidung steht, holt sich gern Rat bei Freunden, Kollegen oder Experten. Welche Quellen die Ich-Erzählerin in dem Roman „Sight“ ("Was wir voneinander wissen") anzapft, ist eher ungewöhnlich. Sie ist zum zweiten Mal schwanger und stellt sich erneut die Frage, ob sie das Kind will oder nicht. Während sie ihre Erstgeborene beim Spielen beobachtet, kommen ihr Zweifel, ob sie den Aufgaben einer Mutter gewachsen ist.
Sie lässt ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen, erinnert sich an die Beziehung zu ihrer Großmutter und zu ihrer kranken Mutter, die sie bis zu ihrem Tod pflegte. Ihre Trauer vermischt sich mit Grübeleien und Sorgen über ihre eigene Zukunft.
Auf der Suche nach Antworten vergräbt sie sich in eine Bibliothek und beschäftigt sich mit dem Leben berühmter Persönlichkeiten wie Wilhelm Conrad Röntgen, Sigmund und Anna Freud oder John Hunter, der die Anatomie erforschte. Sie interessiert sich vor allem dafür, wie diese Wissenschaftler ihre Erkenntnisse gewannen und ob sich darin universelle Muster erkennen und auf ihr eigenes Leben übertragen lassen. Die Idee fand ich sehr originell, doch die Umsetzung eher enttäuschend. Vergeblich suchte ich nach Parallelen und fragte mich mehrmals, worauf die Autorin hinaus will.
So interessant der Lebensweg jedes einzelnen auch ist, erschienen mir die Exkurse etwas lieb- und zusammenhanglos eingeschoben und störten den Erzählfluss. Jessie Greengrass schreibt einfühlsam und auf hohem literarischen Niveau, doch auf die Dauer ist der essayistische Stil auch anstrengend. Manchmal hätte ich der Ich-Erzählerin gern den Rat gegeben, sich nicht so viele Fragen zu stellen und sich in destruktiven Gedanken zu verlieren, sondern ähnlich wie ihr Ehemann mit mehr Zuversicht in die Zukunft zu blicken.
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Tragisches Frauenschicksal

Wer träumt als Mädchen nicht von der großen romantischen Liebe? Jeanne, Protagonistin des Romans "Ein Leben" von Guy Maupassant hat sich ihre Zukunft sehr genau ausgemalt. Zeit dazu hatte die naive Tochter eines Barons genügend in der Klosterschule, die mit 17 Jahren in ihr Elternhaus in der Normandie zurückkehrt. Nun brennt sie vor Neugier auf das, was das Leben zu bieten hat.
Schnell erliegt sie dem Charme von Julien de Lamare, den sie überstürzt heiratet. Wie kann sie auch ahnen, dass dieser sich als gefühlskalter Geizhals entpuppt, der es nur auf Ansehen und Reichtum abgesehen hat? Dies bleibt leider nicht die einzige Enttäuschung. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto stärker driften Jeannes Traum von einem erfüllten Leben und die Realität auseinander. Auch für den Leser ist es nicht leicht, die vielen Schicksalsschläge bis zum Ende mit ihr durchzustehen. Mit viel Sensibilität beschreibt Maupassant Jeannes Charakterzüge und Emotionen, die zwischen Hoffnung, Sehnsucht, Verzweiflung und Enttäuschung schwanken. Ihre Innenwelt spiegelt sich in der detailreichen Beschreibung der Küstenlandschaft und des Wetters wider.
Auch die Nebenfiguren werden sehr genau gezeichnet. So stechen besonders Frauenfiguren wie das Dienstmädchen Rosalie heraus, die sich aus der Opferrolle befreit, statt wie Jeanne naiven Träumen, Selbsttäuschungen und Passivität zu erliegen. 
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Loyalität statt Diversität

Zu Beginn des Romans „Schwarzpulver“ von Laura Lichtblau spürt man noch wenig von einer Dystopie. Elisa, genannt Burschi, eine der Hauptfiguren, leistet einem älteren Ehepaar regelmäßig Gesellschaft. Charlie jobbt bei einem Musiklabel, das sich auf Rap-Songs spezialisiert hat. Nur bei seiner Mutter Charlotte wird man stutzig, die Scharfschützin einer Bürgerwehr ist.
Nach und nach merkt man, dass noch mehr im Argen liegt. Die Autorin macht das sehr subtil. Statt gleich eine bedrohliche und düstere Atmosphäre zu schaffen, erzählt sie geradezu heiter und lakonisch, was den Protagonisten in der Berliner Republik, die von einer rechtspopulistischen Partei regiert wird, widerfährt.
Vielleicht liegt es gerade daran, dass mir ihre Schicksale nicht so nahe gingen, wie ich es erhofft hatte. Dabei ist die Art und Weise, wie das Anderssein systematisch eliminiert wird, durchaus beängstigend. Einzig Charlotte, die ihren erfolglosen Beruf als Keramikerin aufgegeben und sich einem „zielführenden“ Leben verschrieben hat, jedoch immer wieder von Zweifeln geplagt wird, weckte mein Interesse und hielt mich bei der Stange. Bemerkenswert ist die unkonventionelle Sprache der Autorin, ihre Experimentierfreude und originellen Metaphern („... ich würde alles tun, um die Wasserwerke in Lieses Augen zum Versiegen zu bringen, ...“). Das Buch erscheint mir mehr wie ein lyrisches Experiment, in der die Botschaft etwas untergeht.
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Verschachtelt und surreal

Ich habe schon viele Romane gelesen, die sich um den Zauber von Büchern und Geschichten drehen, doch in keinem wurde das Thema wohl so stark ausgereizt wie in „Das sternenlose Meer“ von Erin Morgenstern.
Gleich zu Beginn taucht man in eine märchenhafte Erzählung ein, in der es um einen gefangenen Piraten und ein Mädchen geht. In der nächsten Geschichte werden wir in eine unterirdische Welt voller Bücher entführt, in denen Bienen, Schwerter und Schlüssel den Weg weisen. Es dauert eine Weile, bis man begreift, dass diese Kurzgeschichten nicht nur von uns, sondern auch von der Hauptfigur Zachary Ezra Rawlins gelesen werden. Unheimlich wird es erst, als Zachary in diesem Buch, das er in der Unibibliothek entdeckt hat, seine eigene Geschichte liest - über ein Erlebnis aus seiner Kindheit, das ihn noch heute beschäftigt.
Zachary studiert Neue Medien, sein Spezialgebiet sind Videospiele. Und darin liegt der Clou, denn er bewegt sich in diesem Roman wie eine Spielfigur, die immer wieder vor neue Aufgaben und Rätsel gestellt wird und seine eigene Geschichte schreibt. Unterbrochen wird seine Schnitzeljagd durch eine Vielzahl von neuen Erzählungen, bei denen man sich fragt, ob sie irgendwann einen Zusammenhang ergeben. Eines haben sie jedenfalls gemeinsam: Sie entfalten Schauplätze voller Magie und geheimnisvoller Wesen, die die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit auflösen und Raum und Zeit außer Kraft setzen.
Erin Morgenstern schreibt sehr poetisch und spielt mit Wörtern, Metaphern, Symbolen und Anspielungen. Teilweise wirkte es zu bemüht und konstruiert, so dass meine Aufmerksamkeit und Begeisterung zwischendurch nachließen. Da hatte ich den Eindruck, es ist etwas zu viel des Guten. Es ist ein vielschichtiger und außergewöhnlicher Roman, in den man sich ähnlich wie Zachary einfach fallen lassen sollte ohne viel nachzudenken.
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Hommage an ein Musikgenie

Wie viele Künstler gab es wohl, die zurückgezogen lebten, Seelenqualen und unter Geldnot litten und erst nach ihrem Tod, wenn überhaupt, berühmt wurden. Felix Mendelssohn Bartholdy zählte sicherlich nicht dazu. Dank seinem Vater, der ihm und seinen drei Geschwistern ein harmonisches Familienleben, eine bürgerliche Existenz und das bestmögliche Studium ermöglichte, konnte sich das Musikgenie von kleinauf seiner Leidenschaft und stetigen Karriere widmen. 
Nach der Lektüre von „Good Morning, Mister Mendelssohn“ gingen mir noch lange Zeit die schillernden Bilder der Schauplätze durch den Kopf. Was für ein Leben! Und was für eine spannende Reise, auf die uns Rosemarie Marschner in dieser Künstlerbiografie mitnimmt – im wahrsten Sinne des Wortes.
Seine Grand Tour, die junge Männer damals zu unternehmen pflegten, führt Mendelssohn nach London, eine Stadt, die er lieben lernt und die ihn ihrerseits vergöttert, dann nach Schottland, München, Venedig, Bologna und Florenz. Auch nach seiner Rückkehr ist der begehrte Komponist ständig unterwegs, pendelt zwischen seinen zwei Wohnorten Leipzig und Berlin, denn alle reißen sich um ihn, besonders die Könige von Sachsen und Preußen.
Allein seine außerordentliche musikalische Karriere ist seitenfüllend, doch was das Buch so lesenswert macht, ist der Einblick in Mendelssohns Charakter und Gefühlswelten. Ständig schwankt er zwischen seinem unermüdlichen Fleiß und dem Drang zur Perfektion einerseits und seiner Erschöpfung und dem Bedürfnis, Zeit mit seiner geliebten Frau und den vier Kindern zu verbringen, andererseits.
Marschner hat einen mitreißenden Stil und gibt dem Leser das Gefühl, jedes Ereignis an der Seite des Helden zu erleben, sei es die Uraufführung des Oratoriums 'Paulus', ein rauschendes Fest in der Singakademie oder eine kurze Auszeit mit seiner Familie. Mit sehr viel Feingefühl und Empathie schildert die Autorin nicht nur seine Entwicklung vom jungen Pianisten, der seine unbeschwerte Jugend genießt, zum begehrtesten Komponisten aller Zeiten, sondern auch das Verhältnis zu seiner Schwester und Seelenverwandten Fanny, die trotz ihres ebenbürtigen Talents stets in Felix' Schatten stand.
Dieses Buch hat mich genauso begeistert wie "Das Bücherzimmer" oder "Das Jagdhaus". Zum Glück gibt es noch ein Buch der Autorin, das ich noch nicht kenne und ich mir als nächstes vornehmen werde: "Das Mädchen am Klavier", eine Roman-Biografie über Clara Schumann.
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Zwei Seiten einer Medaille

Ich wünschte, ich hätte Markolf H. Niemz als Physiklehrer gehabt. Während ich mich für Kunst, Sprachen und Philosophie begeisterte, konnte ich physikalischen Gesetzen und Experimenten nur wenig abgewinnen. Wie alles miteinander zusammenhängt, hätte mir der Physiker sicher gut erklären können wie in seinem Buch „Die Welt mit anderen Augen sehen“.
In sechs Challenges lädt er uns ein, unseren Blickwinkel zu verändern und Wissen und Glauben als zwei Seiten einer Medaille zu betrachten. Er erklärt beispielsweise, wie sich Raum und Zeit gegenseitig bedingen, worin sich Sein und Werden unterscheiden und in welcher Beziehung Schöpfer und Schöpfung zueinander stehen.
Da mich diese Themen bisher eher auf philosophischer Ebene interessiert haben, war es für mich umso spannender, die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen und vor allem zu erkennen, wie beides im Einklang steht. So wechseln sich in diesem Buch Theorien von Heraklit oder Kant mit Erkenntnissen von Darwin oder Einstein ab. Der Autor fordert uns auch zu kleinen Experimenten auf, berichtet von persönlichen Erfahrungen und macht die Inhalte in verständlicher Sprache und mit vielen Bildern leicht zugänglich.
Da ich mich schon länger mit Spiritualität beschäftige, kam mir manches wie die Rolle der Quantentheorie bekannt vor. Die Bedeutung des Lichts oder die Weltsicht des Philosophen und Mathematikers Alfred North Whitehead dagegen waren mir neu und haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bin überzeugt, dass alles im Kosmos miteinander verbunden ist und eine Einheit bildet, doch wie genau und inwiefern sich dieser Glaube mit modernen Erkenntnissen der Physik und Mathematik deckt, konnte mir bisher kaum einer so einleuchtend vermitteln wie Markolf H. Niemz. Er regt nicht nur dazu an, über den Sinn unseres Daseins nachzudenken, sondern appelliert auch an mehr Menschlichkeit. Das Buch gehört für mich zu den Highlights des Jahres!
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Eingesperrt und unabhängig

Nach der Lektüre von „Das Zimmer aus Samt“ weiß ich gar nicht, was mich mehr in den Bann gezogen hat: die Hauptfigur Marthe de Florian, die ihrer Enkelin Solange ihre Lebensgeschichte erzählt oder ihre Wohnung in Paris, in der die wöchentlichen Gespräche stattfinden. Die Faszination liegt wohl darin, dass die Dekoration dieses Appartements in der eleganten Straße Square La Bruyère Marthes Entwicklung widerspiegelt.
Wie sie zu an ihre kostbaren chinesischen Porzellanvasen gekommen ist, was hinter ihrer Perlenkette und ihrem imposanten Porträt steckt – all das erfahren wir gemeinsam mit der 19-jährigen Ich-Erzählerin, die ihre Großmutter im Jahr 1938 kennenlernt. Ähnlich wie Solange war ich ganz süchtig, mehr über Marthes Vergangenheit zu erfahren: wie sich die einst mittellose Näherin mit Hilfe ihres Gönners Charles ein besseres Leben erschaffen konnte, wie sie nicht nur die Kunst der Verführung, sondern auch ihr Gespür für Ästhetik verfeinerte und begann, Kunstschätze zu sammeln.
In starkem Kontrast dazu steht die Geschichte der Enkelin, die parallel erzählt wird. Ihre frische Liebe zu einem Buchhändler wird überschattet durch den Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Und doch gibt es Parallelen, denn auch Solange hütet einen kostbaren Schatz: die wertvolle Büchersammlung ihrer verstorbenen Mutter.
Alyson Richman, die mich schon mit ihrem Roman „Der italienische Garten“ begeisterte, hat zwar einen eher schlichten Sprachstil, schafft es aber, den Figuren Leben einzuhauchen und eine sinnliche Atmosphäre zu schaffen, in die man sofort hineingezogen wird. Den Reiz, etwas Verborgenes aufzuspüren, sei es die Geschichte, die hinter einem Kunstobjekt steckt oder die verletzliche Seite eines Menschen, konnte ich gut nachvollziehen. Interessant ist zudem, dass der Roman auf einer wahren Begebenheit beruht.
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Große Hingabe für ein hartes Metier

In einem Interview erfuhr ich, dass die französische Schriftstellerin Maylis de Kerangal für ihre Romane gern Themen auswählt, für die sie sich zunächst nicht besonders interessiert. Das gilt auch für ihr aktuelles Buch „Porträt eines jungen Kochs„, in dem sie uns in die Welt der Küchen entführt. Auf nur 96 Seiten schafft sie es, 15 Lehrjahre eines ambitionierten Kochs, der ein entfernter Bekannter von ihr ist, unterzubringen.
So temporeich wie ihr Erzählstil ist auch der Wechsel der Schauplätze. Der BWL-Student Mauro beschließt, sich seiner wahren Leidenschaft, dem Kochen, zu widmen und bildet sich in Bistros und Sternerestaurants quer über den Globus weiter. Er reist nach Berlin, Caracas, Burma und Bangkok, bis er schließlich in seiner Heimat Paris ein eigenes Restaurant eröffnet.
Bei all der regionalen und kulinarischen Abwechslung gibt es eine Konstante: Mauro ist fest entschlossen, eisern seinen eingeschlagenen Weg zu verfolgen, auch wenn er ständig mental und physisch am Limit ist und auf jegliche Erholung und Freizeit verzichten muss.
Die Autorin schafft es, auf den wenigen Seiten unglaublich viele Details unterzubringen. Die Beschreibung der Gerichte lässt einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Doch sie beleuchtet nicht nur den künstlerischen und kreativen Aspekt des Kochens, sondern auch die praktische Seite, die Konzentration, Präzision und physische Anstrengung fordert, und gewährt einen Blick hinter die Kulissen. Dass verbale und physische Gewalt in den Küchen nicht ungewöhnlich ist, hat mich überrascht.
De Kerangals Sprachstil ist wechselhaft: mal sachlich, fast wie eine Reportage, mal sinnlich und poetisch. Durch Mauros Rastlosigkeit habe ich mich leider schwergetan, Zugang zu der Figur zu finden. Gestört hat mich auch, dass die Rolle der distanzierten Ich-Erzählerin bis zum Schluss unklar bleibt.
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Wege zu einem starken Selbst

Wie heißt es so schön? Das Internet ist Fluch und Segen zugleich. Vor ein paar Tagen war es definitiv ein Segen für mich, weil meine Recherchen zum Thema Selbstachtung innerhalb weniger Minuten ein tolles Buch ausgespuckt haben. Besser gesagt gleich eine ganze Bücherliste. Vielen Dank dafür, Carmen Jacob!
Das Thema Selbstwertgefühl steht ähnlich wie Achtsamkeit stark im Fokus. Mich selbst beschäftigt es vor allem vor wichtigen Besprechungen oder Präsentationen, wenn Selbstzweifel an mir nagen. Da bewundere ich Menschen, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzen, während ich grüble, ob ich den Ansprüchen und Erwartungen anderer gerecht werde.
An erster Stelle der Liste steht das Buch „Die 6 Säulen des Selbstwertgefühls“ von Nathaniel Branden, das ich mir gleich als e-Book gekauft habe. Er nennt 6 Säulen, die einen wichtigen Teil zum Selbstwert und Selbstvertrauen beitragen, darunter bewusst zu leben, sich selbst anzunehmen und ein eigenverantwortliches Leben zu führen. Der Psychotherapeut erläutert, was Selbstachtung ausmacht, welche positiven Auswirkungen sie auf unser Privat- und Arbeitsleben und welche negativen Einflüsse ihr Mangel auf unsere Gesundheit hat.
Branden nennt viele anschauliche Beispiele, wie Menschen sich oft selbst sabotieren, nur damit ihr tief sitzender Glaubenssatz in Erfüllung geht, statt ihren Erfolg zu akzeptieren und sich selbst weiter zu fördern. Ein sehr nützliches Buch besonders in der heutigen komplexen und schnelllebigen Welt, in der wir mehr denn je unseren eigenen Fähigkeiten vertrauen müssen.
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Die letzten Lebensjahre eines großen Poeten

Ob Heinrich Heine wohl trotz oder wegen seines chronischen Leidens noch im hohen Alter voller Schaffensdrang war? Von dieser letzten Lebensphase, die der Dichter in Paris verbrachte, handelt „Der weiße Abgrund“ von Henning Boëtius.
Während Heine ans Bett gefesselt unter Kopfschmerzen, Schwindelanfällen und nachlassender Sehkraft leidet, geht seine Frau Mathilde gerne aus und trifft sich mit ihren Freundinnen zum Essen. Er denkt an all die Dinge, die er nun nicht mehr genießen kann wie durch die Stadt zu flanieren, ans Meer zu fahren oder schöne Frauen zu verführen und gibt dem Leser auf die Weise Einblick in sein vergangenes Leben. Er erinnert sich auch an frühere Verse, die inhaltlich passend eingebunden werden.
Immerhin hat der kranke Poet einen Leidensgenossen, denn aus seiner Sicht leidet auch die Stadt Paris unter den städtebaulichen Maßnahmen, die Lärm und Hektik verbreiten. Die Beschreibung seines körperlichen Verfalls ist sicher nicht angenehm zu lesen, doch Boëtius‘ spöttischer Witz und seine Ironie verleihen der Geschichte Leichtigkeit und Heiterkeit.
Besonders amüsant erzählt er von einem Essen, zu dem Heines Arzt David Gruby geladen hat und so illustre Gäste wie Gustave Flaubert, Alfred de Musset, Gustave Courbet oder Gérard de Nerval um sich versammelt. Dort kommen zum ersten Mal auch Heines geplante Memoiren zur Sprache, um dessen Verbleib sich viele Legenden ranken. Sein Kurzporträt ist ebenso interessant zu lesen wie die Szenen aus der Pariser Bohème und den literarischen Salons.
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Orte der Inspiration und Kontemplation

Wenn ich eine Buchhandlung betrete, ist das allein schon ein besonderes Erlebnis für mich. Wie wirkt die Einrichtung auf mich? Wie ist das Sortiment? Wie werden die Bücher präsentiert? Ein Vergnügen, das dem sehr nahekommt, bietet der Band „Buchhandlungen“ mit Fotografien von Horst A. Friedrich und Texten von Stuart Husband. 47 Inhaber*innen erzählen über die Entstehung ihrer Buchhandlung und was das Besondere ausmacht.
Auf mehreren Doppelseiten werden Außen- und Innenaufnahmen aus verschiedenen Perspektiven gezeigt, die die Atmosphäre einfangen. Jedes Umblättern ist ein kleines Abenteuer, bei dem man in völlig unterschiedliche Welten, Stilarten und Themen eintaucht: zum Beispiel einen ehemaligen Stall für Milchkühe in Pennsylvania, ein uriges Kanalboot in London, eine noble Librairie spezialisiert auf Klassikausgaben in Paris oder eine gotische Kirche aus dem 13. Jahrhundert in Maastricht. Das abgebildete "Green Apple Books" in San Francisco wurde räumlich Stück für Stück erweitert und behält so seinen ursprünglichen Charme. 
Die Bücher sind so zum Greifen nahe, dass man am liebsten eins aus dem Regal herausnehmen und darin schmökern würde. So habe ich nicht nur die ungewöhnlichen Raumkonzepte auf mich wirken lassen, sondern auch fleißig Buchtitel notiert, die mir ins Auge sprangen.
Es hat mich sehr berührt, mit welcher Begeisterung die Buchhändler*innen trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten ihrem Beruf nachgehen und ihrem Geschäft einen persönlichen Stempel aufdrücken, indem sie zum Beispiel ihr Fachwissen über Fotografie, Architektur oder Design mit dem Buchhandel verbinden, einen kundenspezifischen Abo-Service bieten oder Signierstunden und Gesprächsrunden organisieren. Sie sind stolz darauf, das Leseleben ihrer Kunden mitzugestalten und einen kulturellen Beitrag für die Stadt zu leisten.
Der Bildband erzählt nicht nur sehr individuelle Geschichten über einzelne Buchhandlungen, sondern zeigt auch, dass sie nach wie vor ein unentbehrlicher Ort der Inspiration, der Kontemplation und des persönlichen Austausches sind. Meine Liste von Buchhandlungen, die ich auf meinen nächsten Reisen besuchen möchte, ist sehr lang.
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Zuschauen. Zuhören. Schreiben.

Der Name Natalia Ginzburg sagte mir bisher nichts, und doch reizte es mich, die Biografie „Die Freibeuterin“ von Sandra Petrignani zu lesen – wohl deshalb, weil sie nicht nur eine Lebensgeschichte erzählt, sondern auch Einblick in die Literaturszene Italiens und das Verlagswesen im 20. Jahrhundert gibt.
Zu Beginn erfahren wir viele Details über Ginzburgs Kindheit in Turin – ein bedeutsamer Lebensabschnitt, der ihr Gesamtwerk stark prägen wird, besonders ihr Hauptwerk „Familienlexikon“. Daraus zitiert Petrignani sehr häufig, ebenso aus ihren Gedichten, Essays, Kurzgeschichten und Theaterstücken. Immer wieder gleicht sie fiktive und reale Personen ab und bringt uns nicht nur Ginzburgs Blick auf die Welt, sondern auch das politische Zeitgeschehen wie die antifaschistische Widerstandsbewegung näher.
Mit großer Detailverliebtheit widmet sich Petrignani einzelnen Personen, die in Ginzburgs Leben eine wichtige Rolle spielten, angefangen mit ihrem cholerischen Vater, ihren ersten Ehemann Leone Ginzburg, der den Verlag Einaudi gründete, und bekannten Künstlerkollegen wie Italo Calvino und Alberto Moravia. Für meinen Geschmack waren es zu häufige inhaltliche Ausschweifungen, die mich etwas überforderten. 
Mein Interesse galt eher einigen wenigen Personen, darunter der Schriftstellerin Elsa Morante, zu der Natalia eine besondere Beziehung hatte, und ihrer Arbeit als Lektorin bei Einaudi inmitten von männlich dominierten Intellektuellen. Angetan war ich auch von den Passagen, die Ginzburgs Innenwelten beschreiben, zum Beispiel wie sie sich als Kind ihre eigene Welt schaffte und später ihren gesamten Bekannten- und Verwandtenkreis als Beobachtungsfeld nutzte, um über Unvollkommenheit, Neurosen und Chaos zu schreiben.
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Mörderisch, musikalisch, mythisch

Stradivari-Violinen sind nicht nur Klassikfans ein Begriff. Weniger bekannt ist seine berühmteste Violine mit dem Namen "Messias", die als sein Meisterstück gilt. Sie inspirierte die Violinistin und Schriftstellerin Natasha Korsakova zu ihrem Debütroman "Tödliche Sonate".
Der Krimi spielt in Rom und beginnt mit dem Mord einer erfolgreichen Konzertmanagerin in ihrer eigenen Wohnung. Dass es sich um einen Racheakt handelt, ahnt der Leser durch die eingestreuten Passagen aus der Sicht des Mörders. Doch wer dahinter stecken könnte, bleibt Commissario di Bernardo und seinem Kollegen lange Zeit ein Rätsel, zumal eine Reihe von Personen dafür in Frage kommen. Das Mordopfer war nicht nur eine machtgierige und skrupellose Geschäftsfrau, sondern hat auch Familienangehörige und Mitarbeiter, die sich äußerst verdächtig benehmen. Die Befragungen führen das Ermittlerduo kreuz und quer durch die Stadt. Diese Gelegenheiten nutzt die Autorin geschickt, um uns interessantes Hintergrundwissen über historische Bauten, noble Paläste und verkommene Armenviertel zu vermitteln.
Verwoben wird der Kriminalfall mit einer zweiten Zeitebene, die im Jahr 1716 in Cremona beginnt und von der Entstehung der Stradivari-Violinen erzählt. Dieser Part hat mich besonders gefesselt. Mit sehr viel Sachkenntnis und Leidenschaft bringt uns Korsakova das Handwerk des Geigenbaus näher. Sie erzählt, wie die begehrten Violinen in den folgenden Generationen den Besitzer wechseln, welch einzigartige Klänge begabte Musiker den Instrumenten entlocken und das Publikum begeistern. Gleichzeitig erhöht sie die dramaturgische Spannung, indem sie die Zeitebenen mit steigendem Tempo aufeinander zulaufen lässt. 
Mir gefällt ihr Erzählstil, der gekonnt zwischen kurzen, prägnanten Sätzen und atmosphärischen Beschreibungen wechselt. Sie verbindet historische Fakten und reale Persönlichkeiten mit einer sehr originellen Idee, die ihrer Fantasie entsprungen ist, wie man im Nachwort erfährt. Einen besonderen Genuss bietet das Hörbuch mit ausgesuchten Violinstücken, die Korsakova selbst spielt und der Geschichte eine ganz persönliche Note verleihen.
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Schillernde Zeitreise

So richtig gepackt hat mich die Geschichte „City of Girls“ von Elizabeth Gilbert in dem Moment, als die Ich-Erzählerin Vivian Morris im Sommer 1940 am Grand Central Station in New York ankommt. Die 19-jährige, erfolglos am College, wurde von ihrer wohlhabenden Familie in Clinton zu ihrer Tante Peg geschickt, die ein Theater leitet.
Die Briefform eignet sich gut, da Vivian ihre ersten Eindrücke von der vibrierenden Großstadt und von Pegs Theater überschwänglich erzählt. Gemeinsam mit der Revuetänzerin Celia stürzt sie sich ins Nachtleben, kostet ihre Freiheit aus und taumelt rastlos von einem Vergnügen zum nächsten. Für sie mag das sehr aufregend sein, doch für die Hörer wird es auf die Dauer ein wenig monoton. 
Mich interessierte vielmehr Vivians Talent, ausgefallene Kostüme für die Revuegirls zu nähen. Auch die Art und Weise wie die Freidenkerin Peg und die pflichtbewusste Olive das Theater führen verfolgte ich mit großer Neugier. Als plötzlich Pegs Ex-Mann Billy auftaucht und das titelgebende Stück „City of Girls“ mit einer berühmten britischen Schauspielerin inszenieren will, spitzen sich die Konflikte zu.
Es folgen Ereignisse, die Vivian zwingen, mehr Rücksicht auf andere zu nehmen und Verantwortung zu übernehmen. Diese werden stellenweise etwas lieblos aneinandergereiht. Dann wieder gibt es Passagen, in denen die Figuren und die Atmosphäre regelrecht lebendig werden und die Zeitreise großes Vergnügen bereitet. Dies ist zum großen Teil der wunderbaren Sprecherin Cathlen Gawlich zu verdanken. Sie liest sehr nuancenreich, mal sanft und ruhig, mal ausdrucksstark und mit viel Pathos ohne sich zu stark aufzudrängen.
Ich denke, Elizabeth Gilbert wollte in erster Linie - was der Titel auch ausdrückt - eine Reihe von Frauenfiguren zeichnen, die sich auf ganz unterschiedliche Art die Freiheit nehmen, selbstbestimmt zu leben und keine Scheu davor haben, sich dem Vergnügen und dem Genuss hinzugeben. Die Geschichte war für mich jedoch schwächer als die Romane, die ich sonst von ihr gewohnt bin. 
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Welcher Arbeitstyp bin ich?

Dass Menschen völlig unterschiedlich ticken, kann in der Arbeitswelt Fluch und Segen zugleich sein. Möchte man Letzteres fördern und sich zunutze machen, ist ein typengerechtes Team-Building der Schlüssel zum Erfolg, sagen Stefanie Stahl und Dr. Christian Bernreiter. In ihrem Buch „So bin ich eben! im Job“ stellen die Psychotherapeutin und der Managementberater eine Methode vor, die auf der Typologie von Myers/Briggs basiert. Da ich diese Methode kenne, war ich anfangs skeptisch, ob ich recht viel Neues erfahre. Doch schon nach den ersten Seiten konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen, und allen, die sich für die menschliche Psyche interessieren, könnte es ähnlich gehen. 
Die Autoren unterscheiden zwischen vier psychologischen Dimensionen, zum Beispiel extrovertiert versus introvertiert oder DenkEntscheider versus FühlEntscheider. In den jeweiligen Beschreibungen erkannte ich sowohl mich als auch bestimmte Kollegen wieder und erinnerte mich an vergangene Meetings oder Konflikte zwischen Teammitgliedern. Zu den Stärken des Buchs zählt der übersichtliche Aufbau, der flüssige Sprachstil und der starke Praxisbezug. Wir erfahren nicht nur, wie die einzelnen Typen denken, fühlen und führen, sondern auch welche Umgangsform und Wortwahl hilft, um die Zusammenarbeit zu verbessern oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Noch interessanter wurde es für mich im zweiten Teil, wo durch die Kombination der vorgestellten Dimensionen eine Dynamik entsteht und sich 16 Kernpersönlichkeiten herauskristallisieren. Sie werden treffenderweise als Minister betitelt und durch treffende Icons visualisiert. Anhand eines Persönlichkeitstests kann man sich selbst einordnen. Jeden einzelnen Typen, ob Tugendminister, Ideenminister oder Erkenntnisminister nehmen die Autoren genau unter die Lupe, erwecken sie förmlich zum Leben und geben dem Leser das Gefühl, in ihre Köpfe zu schauen. 
Das Buch hat mir nicht nur deutlich gemacht, wie gut sich die 'Minister' mit ihren jeweiligen Stärken in der Zusammenarbeit ergänzen und wen man hin und wieder zu Rate ziehen sollte, sondern auch an welchen Schrauben ich in meinem Profil drehen möchte, um meine Wirksamkeit nach außen zu stärken. Ein sehr lehrreiches und unterhaltsames Buch, das meine Erwartungen übertroffen hat.
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Eine Reise durch die Ernährungslehre

So vielzählig wie unsere Lebensmittel sind mittlerweile auch die Empfehlungen, welche Nahrung gut für unsere Gesundheit ist. Ein Buchtitel wie "Klartext Ernährung" klingt da sehr vielversprechend. Liefern die Autoren Dr. med. Petra Bracht und Prof. Dr. Claus Leitzmann eine klare Orientierung im Ernährungsdschungel? 
Bevor sie auf einzelne Lebensmittel genauer eingehen, vermitteln sie Grundlagen aus der Ernährungslehre und machen uns mit verschiedenen Ernährungsformen und ihren Vor- und Nachteilen vertraut. Anhand von verschiedenen Fallbeispielen beschreiben sie, wie man sich durch einseitige Ernährung regelrecht krank essen kann. Statt typische Zivilisationskrankheiten mit entsprechenden Medikamenten zu heilen, setzen die Ernährungsmedizinerin und der Ernährungswissenschaftler auf Vorbeugung durch gesunde Lebensmittel. Was sie darunter verstehen, lässt sich auf einen Nenner bringen: pflanzenbasierte Kost kombiniert mit Intervallfasten. 
Mit zahlreichen Nährstofftabellen und eindrucksvollen Vergleichen, zum Beispiel der hohen Nährstoffdichte von Linsen gegenüber Hackfleisch, räumen sie mit gängigen Vorurteilen auf. Liebhaber von Fleischgerichten und Milchprodukten werden diesen Wegweiser vermutlich nicht gern lesen. Bracht und Leitzmann halten es jedoch nicht nur aus ernährungswissenschaftlicher, sondern auch aus ökologischer und wirtschaftlicher Sicht für notwendig, die tierische Nahrung deutlich zu reduzieren. Der Ansatz, nicht nur die Gesundheit der Menschen, sondern auch unserer Erde im Blick zu haben, gefiel mir gut. 
Die ausführliche Beschreibung verschiedener pflanzlicher Lebensmittel und Mikronährstoffe im dritten Teil dient als praktisches Nachschlagewerk. Besonders für Leser, die sich noch nicht so genau mit dem Thema Ernährung beschäftigt haben, bietet das Buch umfassende Informationen, die sich stellenweise wiederholen. Nützlich wäre eine kleine Starthilfe gewesen, wie man seine Ernährung allmählich auf eine rein pflanzliche Kost umstellen kann. Der radikale Schritt zu einer vegetarischen oder veganen Ernährungsweise wird vielen trotz der überzeugenden Argumente und Erkenntnisse sicher schwer fallen.
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Schön anzusehen, schwer umzusetzen

Clea Shearer und Joanna Teplin aus Nashville haben eine ungewöhnliche Leidenschaft: Sie haben sich der Ordnung verschrieben und sie zu ihrem Beruf gemacht. Ihre spezielle Aufräum- und Organisationstechnik stellen sie in ihrem Buch „Happy at Home“ vor – eine Mischung aus praktischer Anleitung und Bildband. Ich war neugierig zu erfahren, inwiefern sie sich von der KonMari-Methode der Aufräum-Queen Marie Kondo unterscheidet.
Der Aufbau und die visuelle Umsetzung spiegeln das Thema in bester Manier wieder. Übersichtlich und systematisch erklären die Expertinnen die einzelnen Schritte, um sein Zuhause funktional und zugleich ästhetisch zu organisieren und langfristig Ordnung zu halten. Dabei zeigen sie eine besondere Schwäche für Vorratskammern und Regenbogenfarben.
Zu Beginn erläutern sie die nötigen Vorbereitungen wie eine gründliche Bestandsaufnahme seines Hab und Guts und das Ausmisten. Dabei möchte man allzu gern zum angenehmeren Teil, dem Sortieren und Einräumen, vorspringen, doch dieser Part folgt erst im zweiten Teil.
Hier nehmen sich die Autorinnen einen Raum nach dem anderen vor und zeigen anhand von schönen Fotografien verschiedene Kniffe, um den vorhandenen Platz optimal zu nutzen und Ordnung und Übersichtlichkeit zu schaffen. Dazu zählen zum Beispiel die Aufbewahrung in aufeinander abgestimmten Vorratsdosen, Körben und Boxen und ihre konsequente Beschriftung, der Einsatz von Türregalen oder Rollwägen. Über so manch ungewöhnlichen Tipp wie Reinigungsprodukte und Lotions nach Duft zu sortieren musste ich schmunzeln.
Die Vielzahl der Aufbewahrungsboxen, die man sich anschaffen müsste, finde ich etwas abschreckend und aus ökologischer Sicht bedenklich. Ich neige eher dazu, Verpackungsmaterial zu upcyclen, was allerdings lang nicht so ansprechend aussieht wie die gezeigten Musterlösungen. Diese lassen sich in der Realität wohl nur eingeschränkt umsetzen. Dass die Aufräumexpertinnen sichtlich Spaß bei der Sache haben und uns Einblick in ihre Arbeit und in Interieurs von Prominenten wie Gwyneth Paltrow gewähren, sorgt immerhin für Schmökerspaß. 
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Umweltschutz ist Menschenschutz

Während die meisten von uns sich Gedanken darüber machen, wie unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben wohl nach der Coronakrise aussehen wird, denken Dirk Steffens und Fritz Habekuß in größeren Dimensionen. Die Autoren des Buches „Über Leben“ sorgen sich um das Artensterben und dessen Folgen für unsere Ökosysteme.
Der zu Beginn noch sanfte Ton, wenn es um den einzigartigen Gesang einer Amsel oder die positive Wirkung von Naturerlebnissen auf uns Menschen geht, wird im Laufe des Buches ernster und schonungsloser. Ihre Bestandsaufnahme und Prognose gleichen der Beschreibung einer Dystopie. Anhand vieler Beispiele quer über den Globus machen sie deutlich, wie Menschen durch ihre Expansionslust das Artensterben in bedrohlichem Maße vorangetrieben haben und damit unseren Lebensraum gefährden. Seit jeher, so ihre zentrale Kritik, sei die Natur nur unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet und kontinuierlich ausgebeutet worden.
Die Autoren decken nicht nur Missstände auf, sondern stellen auch ungewöhnliche Ansätze vor, die zum Nachdenken anregen, zum Beispiel für einen Fluss wie den Mississippi Rechte einzufordern. Dass Menschen durchaus in der Lage sind, eine wirtschaftlich und gesellschaftlich radikale Änderung zu vollziehen, zeige die Abschaffung der Sklaverei. Die aktuelle Coronakrise sei ebenfalls ein Beweis, dass zuvor unvorstellbare Einschränkungen und Verzicht akzeptiert würden, wenn die Dringlichkeit klar kommuniziert und die Maßnahmen rigoros durchgesetzt werden.
Das Buch ist ist nicht nur ein Appell, so schnell wie möglich zu handeln, sondern stellt auch Lösungsvorschläge und konkrete Schritte einer ökologischen Transformation vor. Die Botschaft ist deutlich: Umweltschutz ist zugleich Menschen- und Seuchenschutz.
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Über Verluste und Menschlichkeit

Der Titel des neuen Romans von Delphine de Vigan lautet "Gratitudes" ("Dankbarkeiten"). Doch zu Beginn der Geschichte drängt sich ein anderes Thema stärker in den Vordergrund und zwar das Altern und die damit verbundenen Verluste. Die Heldin des Romans Madame Seld alias Michka ist 84 und nicht mehr in der Lage, ohne Hilfe in ihrer Wohnung zu leben und zieht in ein Seniorenheim. Sie verliert nicht nur ihre Selbstständigkeit, sondern auch ihr Sprachvermögen und ersetzt häufig bestimmte Wörter durch ähnlich klingende. Aus "D'accord" wird beispielsweise "D'abord". 
Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive von Marie, ihrer früheren Nachbarstochter, um die sie sich oft gekümmert hat, und dem Logopäden Jérome erzählt, der mit Michka Sprachübungen macht. An ihren Gedanken und Beobachtungen teilzuhaben, macht die Geschichte vielschichtiger und interessanter. Jérome versucht beispielsweise, sich Michka und auch die anderen Bewohner des Seniorenheims in jungem Alter vorzustellen und was für ein Leben sie geführt haben.
Die Sprache spielt in diesem Roman eine zentrale Rolle. Während Michka immer wieder nach den richtigen Worten sucht, ergeben sich viele Situationen, in denen selbst Marie und Jérome nicht die richtigen tröstenden oder aufmunternden Worte finden und lieber schweigen, statt Platitüden von sich zu geben. 
Es geht um die ungesagten Worte, in doppelter Hinsicht, denn es gibt zwei Menschen, denen die Jüdin ihr Leben zu verdanken hat. Mit Maries Hilfe will sie das Ehepaar ausfindig machen, um ihm ihren tiefsten Dank zu vermitteln. Damit kommen Michkas düstere Vergangenheit und das titelgebende Thema ins Spiel. Während Michka in ihrer neuen Umgebung dankbar die Hilfe von Marie und Jérome annimmt, gibt sie ihrerseits den beiden eine wichtige Botschaft mit auf den Weg: Sich mit anderen Menschen auszusprechen, um es nicht ein Leben lang zu bereuen.
Michkas Einsamkeit im Seniorenheim und ihr fortschreitender körperlicher und geistiger Verfall stimmten mich traurig, doch dem Ganzen setzt de Vigan generationsübergreifendes Mitgefühl und Warmherzigkeit entgegen.
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Nahrung für unsere Festung

Kürzlich konnte ich in "Eine kurze Geschichte des menschlichen Körpers" von Bill Bryson staunen, auf welch wundersame Weise der Organismus unsere Gesundheit aufrechterhält. Fest entschlossen, meinen Körper dabei bestmöglich zu unterstützen, wurde ich auf das Buch "Richtig essen, länger leben" von William Li aufmerksam. 
Der Inhalt ist sehr übersichtlich aufgebaut. Im ersten Teil stellt der Arzt und Wissenschaftler fünf Verteidigungssysteme vor, die die Stützen unserer Gesundheit bilden, darunter die Angiogenese, die Blutgefäßproduktion, über die ich bisher nur wenig wusste. Er vergleicht sie mit einer Festung und beschreibt, welche exakt aufeinander abgestimmten Prozesse in Gang gesetzt werden, sobald Gefahr im Verzug ist. 
Im zweiten Teil stellt der Autor eine Vielzahl von Nahrungsmitteln vor, die diese Verteidigungssysteme aktivieren und unsere Heilkräfte ankurbeln. Dass Brokkoli, natives Olivenöl oder Walnüsse gesund sind, wusste ich zwar schon vorher, doch hier erfuhr ich im Detail, wie dies nachgewiesen wurde. Die Beschreibung der zahlreichen klinischen und Laborstudien mag teilweise etwas ermüdend sein, sorgt aber auch für Überraschungen, zum Beispiel in Bezug auf Bier, Rotwein oder Kaffee. 
Eine positive Überraschung war für mich, dass Lebensmittel wie Pak Choi, Soja, Blaubeeren oder Mandeln, die ich gern esse, nicht nur ein, sondern gleich mehrere Verteidigungssysteme ankurbeln. Hier liegt die Stärke des Buchs: Das Zusammenspiel zwischen den Verteidigungssystemen und den gemeinsamen Nenner unterschiedlicher Krankheiten herauszustellen. 
Praxistauglich werden seine Ausführungen durch den dritten und letzten Teil. Dass William Li statt auf Verzicht auf Ergänzung unseres Ernährungsplans setzt und uns ermuntert, aus einer sehr großen Auswahl von Nahrungsmitteln unsere persönliche Favoritenliste zu erstellen, macht die Sache deutlich leichter und angenehmer. Dabei berücksichtigt er verschiedene Lebensstile und Alltagssituationen und stellt auch interessante Rezepte vor. Sowohl Leser, die gesund sind und gesund bleiben wollen als auch diejenigen, die unter einer typischen Zivilisationskrankheit leiden, werden nützliche Anregungen finden, wie sie durch ihre Ernährung die Schutz- und Heilwirkung ihres Körpers ankurbeln können. 
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Gedanken über die japanische Teekultur

Wenn ich online nach einem bestimmten Buch suche, werde ich schnell abgelenkt. Ich springe von einem Buchtipp zum nächsten und lande schließlich bei einem Titel, der nicht das Entfernteste mit der ursprünglichen Suche zu tun hat wie kürzlich „Das Buch vom Tee" von Kakuzo Okakura. Natürlich musste ich das E-Book sofort haben und las es in einem Rutsch durch.
Obwohl ich ständig Tee trinke, musste ich doch während der Lektüre feststellen, dass ich herzlich wenig über das Getränk weiß, zum Beispiel dass es früher drei Arten von Tee gab: den gekochten Teekuchen, den geschlagenen Pulvertee und den gebrühten Blättertee.
Der Autor bringt uns die Ursprünge und Philosophie des Tees und der Teezeremonie näher sowie die typischen Merkmale eines Teehauses. Interessant fand ich den Vergleich mit westlichen Interieurs, in denen es üblich ist, an mit Blumen geschmückten, reich dekorierten Tischen üppig zu speisen, während sich Motive von Blumen und Essen in Gemälden wiederfinden. Solch eine Wiederholung würde man in Teehäusern tunlichst meiden.
Zwischendurch schweift Okakura vom Tee ab, beschreibt die Entwicklung vom Taoismus zur Zen-Lehre und geht auf Künste ein, die die japanische Kultur ausmachen, wie den Ikebana. Interessanterweise schrieb er das Buch mit dem Originaltitel "The Book of Tea", das 1906 in New York und London erschien, nicht auf Japanisch, sondern auf Englisch, vermutlich weil er der westlichen Welt die japanische Kultur vermitteln wollte. Die Lektüre sollte man auf jeden Fall bei einer guten Tasse Tee genießen.
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Gefährliches Spiel mit Erinnerungen

Schöne Erlebnisse rufen wir uns gern ins Gedächtnis und bedauern es, wenn unsere Erinnerungen verblassen. Doch würden wir so weit gehen, eine Technologie zu nutzen, die uns die kostbaren Momente erneut erleben lässt ? Um diese Frage dreht sich der Thriller „Gestohlene Erinnerung“ von Blake Crouch.
Für die zwei Hauptfiguren spielen Erinnerungen aus unterschiedlichen Gründen eine besondere Rolle. Der New Yorker Detective Barry Sutton wird immer häufiger mit Fällen konfrontiert, in denen Menschen von falschen Erinnerungen gequält und in den Selbstmord getrieben werden. Die Beschreibung der ansteckenden Krankheit wirkt so real, dass ich bei der Lektüre fast Angst hatte, mich anzustecken. Privat ist Barry besessen von bestimmten Erinnerungen an seine verstorbene Tochter. Nostalgie ist für ihn ein Betäubungsmittel wie Alkohol, das sein Leben erträglich macht.
Im zweiten Erzählstrang entwickelt die Hirnforscherin Helena Smith eine Technologie, mit der sich Erinnerungen konservieren lassen, um Alzheimer-Patienten wie ihrer Mutter zu helfen. Wie so oft wird ihre Erfindung jedoch von einem machtgierigen Gegenspieler missbraucht und löst eine Katastrophe aus. Bei der Beschreibung von Helens Arbeit lässt Crouch viel Hintergrundwissen einfließen und regt zum Nachdenken an, woran wir im Alltag die Realität festmachen.
Es gibt viele Geschichten, in denen zwei Handlungen auf unterschiedlichen Zeitebenen parallel erzählt werden und aufeinander zulaufen. In diesem Thriller ist es jedoch weitaus komplizierter. Den Einstieg fand ich unheimlich stark, doch zum Ende hin wurde es mir vor lauter Zeitreisen und dem Wechsel zwischen realen und falschen Erinnerungen etwas zu konfus.
Nichtsdestotrotz schreibt Blake Crouch sehr fesselnd und behandelt ein brisantes Thema: Wie weit würden wir gehen, um mit Hilfe von Technologien unser Leben und das Weltgeschehen zu steuern? Ein Szenario, in dem Menschen in den Lauf der Dinge eingreifen und ihr Schicksal selbst lenken, ist beängstigend.
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Zwei Geschwister – zwei Wege

Die Protagonisten in "Half a world away" von Mike Gayle könnten unterschiedlicher nicht sein. Kerry ist alleinerziehende Mutter und arbeitet als Putzfrau in privaten Haushalten. Sie ist temperamentvoll, offen, mutig und hat eine Schwäche für Glitzer und schrille Farben. Noah dagegen ist ein eher verschlossener Typ, Anwalt und steckt in einer Ehekrise.
Was die beiden verbindet? Sie sind Geschwister. Dies erfährt Noah jedoch erst, als es seiner acht Jahre älteren Schwester gelingt, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Ihr Wiedersehen nach 30 Jahren in einem Café gehören zu den bewegendsten Szenen des Romans.
Während Kerry ihr ganzes Leben darauf gewartet hat, ihren geliebten Bruder wiederzusehen, dem sie seit ihrem 18. Lebensjahr regelmäßig Briefe schrieb, lehnte Noah es ab, sich mit seiner Vergangenheit und seiner Adoption zu beschäftigen. Die Begegnung mit Kerry zwingt ihn jedoch dazu und macht ihm bewusst, dass er sich mit dem Thema auseinandersetzen muss, um gesunde soziale Bindungen eingehen zu können und damit auch seine Ehe zu retten. Kerry ihrerseits möchte ihrem kleinen Sohn die Qualen ersparen, die sie als Kind erleiden musste und setzt ihre ganze Energie darauf, eine gute Mutter zu sein.
Mit sehr feinem Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen beschreibt Mike Gayle gegensätzliche Temperamente, die aufeinanderprallen, der Wunsch nach einer intakten Familie und die Bedeutung von Fürsorge und Verantwortungsbewusstsein. Es war fast ein Quäntchen zuviel an Schicksalsschlägen und überwältigenden Emotionen. Nichtsdestotrotz hat mich die Geschichte sehr gefesselt.
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Eine Reise durch den menschlichen Körper

Kann man die Wunder des menschlichen Körpers in ein einziges Buch packen? Bill Bryson schafft es in seinem jüngsten Werk „Eine kurze Geschichte des menschlichen Körpers“. Er nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise durch den menschlichen Organismus, von Kopf bis Fuß, vom Primaten bis zum Homo sapiens, von der Geburt bis zum Tod.
Zu Beginn präsentiert Bryson uns Zahlen, die sich schlicht unserer Vorstellungskraft entziehen wie die Zahl der chemischen Elemente, die in unserem Körper vorkommen, die Länge der Blutgefäße oder der DNA und führt uns vor Augen, wie selten wir einen Gedanken an die Vorgänge, die uns am Leben erhalten, verschwenden.
Ich fühlte mich in den Biologieunterricht zurückversetzt, mit dem Unterschied, dass mich die Lehrbücher damals lang nicht so gefesselt haben wie Brysons Beschreibungen und treffende Metaphern, wenn es um die Atmung, den aufrechten Gang oder die Verdauung geht. Er erklärt nicht nur die Funktionen und faszinierenden Leistungen unserer Körperteile, sondern stellt auch fest, dass manche keinen evolutionären Nutzen haben oder bis heute noch nicht genügend erforscht sind.
Die Forschung nimmt überhaupt einen großen Raum in diesem umfangreich recherchierten Buch ein. Man staunt, wie bedeutend kleine Zufallsentdeckungen für den medizinischen Fortschritt waren, wie oft die Lorbeeren genialer Wissenschaftler von anderen eingeheimst wurden und welchen kuriosen Beschäftigungen einige nachgingen, zum Beispiel ein Arzt, der sich eine Sammlung von 2374 verschluckten Gegenständen anlegte.
Ich wünschte, Wissen würde immer so spannend, anschaulich und mit einer Prise Humor vermittelt werden, wie es Bill Bryson in diesem Buch gelingt.
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Zu Recht ein Klassiker

"Sorge dich nicht – lebe!" Der Titel des Bestsellers von Dale Carnegie mag für manche in der aktuellen Krise wie ein schlechter Witz klingen. Das Buch richtet sich jedoch nicht nur an diejenigen, die ohne Grund in ständiger Sorge leben, sondern macht auch Menschen, die sich tatsächlich in existenzieller Not und scheinbar ausweglosen Lage befinden, Mut.
Der 1955 verstorbene Kommunikations- und Motivationstrainer wuchs als Sohn einer Farmer-Familie in ärmlichen Verhältnissen auf, arbeitete sich langsam empor und bot Kurse in freier Rede an. Gleich am Anfang weist er darauf hin, dass er in seinem Buch keine neuen Erkenntnisse präsentiert, sondern uns einen Anstoß geben will, sie in die Praxis umzusetzen.
Eine davon ist überaus simpel und trotzdem wende ich sie selten an: Erst alle Fakten zu sammeln und auszuwerten, bevor man versucht, ein Problem zu lösen. Wie bin ich das letzte Mal vorgegangen, als mich ein Konflikt bis in meinen Schlaf verfolgte? Ich bin natürlich gleich zu Phase drei gesprungen und suchte fieberhaft nach einer Lösung. 
Der Tipp, sich die schlimmste Konsequenz einer misslichen Lage vorzustellen und sich dafür bereits eine Lösung zu überlegen, klingt ebenfalls einleuchtend – obwohl mich der Gedanke, mich so eingehend mit dem Worst Case zu beschäftigen, etwas abschreckt. Wenn ich ihn mir vorher schon so genau ausmale, tritt er dann nicht erst recht ein? Andererseits wäre ich den quälenden Gedanken, dass ich dem Problem hilflos ausgeliefert bin, schnell los.
Ich war erstaunt, wie gründlich sich Dale Carnegie mit dem Thema Sorgen und Ängste beschäftigt hat. Er nennt zahlreiche Beispiele, wie es prominenten Unternehmern, Politikern und Schriftstellern gelang, Trübsinn zu heilen, Schicksalsschläge zu bewältigen, Zuversicht und Selbstvertrauen zu gewinnen oder mit der Kritik anderer fertig zu werden. Er hat Recht: Die Grundsätze sind nicht neu und wurden teilweise schon von Denkern wie Aristoteles oder Marc Aurel vermittelt. Doch die Art und Weise, wie Carnegie diese Erkenntnissen in konkrete Empfehlungen umwandelt und sie mit anschaulichen Beispielen und persönlichen Erfahrungen bereichert, sorgt für eine sehr lehrreiche, inspirierende und unterhaltsame Lektüre. Das Buch erschien 1948, hat jedoch nichts von seiner Aktualität eingebüßt.
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Sensibler oder Martini-Schläfer?

Es ist paradox: Gerade dadurch, dass wir uns zu viele Gedanken darüber machen und uns unter Druck setzen, bekommen wir ihn oftmals nicht: den tiefen und erholsamen Schlaf. Das bestätigt auch Dr. Nerina Ramlakhan in "Das kleine Hörbuch vom guten Schlaf". Dabei sei es etwas ganz Natürliches, dass wir um zwei oder drei Uhr nachts aufwachen. Schon unsere Vorfahren waren an zwei geteilten Schlafblöcken, den segmentierten Schlaf, gewöhnt. Sie erinnert uns auch daran, dass wir unsere Energie nicht allein aus dem Schlaf, sondern auch aus Nahrung und Bewegung gewinnen.
Diese und viele weitere interessanten Fakten präsentiert die Schlaftherapeutin in diesem kleinen, aber feinen Hörbuch. Obwohl es nur etwas über eine Stunde geht, beleuchtet sie das Thema aus vielen verschiedenen Blickwinkeln. Sie erläutert, was guten Schlaf ausmacht und welche positiven Auswirkungen er auf unseren Alltag hat. Sie erklärt verschiedenen Schlafphasen, mögliche Ursachen von Schlafstörungen und gibt praktische Tipps, wie wir durch bestimmte Gewohnheiten abends besser zur Ruhe kommen. 
Besonders interessant fand ich, wie Nerina Ramlakhan die westliche Schlafforschung mit östlicher Heilkunst wie die Traditionelle Chinesische Medizin und Ayurveda verbindet und von ihrer Laufbahn und ihren persönlichen Erfahrungen berichtet. Angetrieben durch ihre eigenen Schlafprobleme tauchte sie immer tiefer in die Thematik ein und konnte in ihrer über 20-jährigen Arbeit mit verschiedenen Klienten zwei Schlaftypen ausmachen: den sensiblen Schläfer und den Martini-Schläfer, der überall schlafen kann. Gelesen wird das Hörbuch von Daniela Hoffmann, die eine sehr angenehme sanfte Stimme und einen aufmunternden Ton hat. Sehr nützlich sind die zehn Schritte zu 'großartigem Schlaf' und die Atem- und Meditationsübungen. Deren Wirkung lässt sich kaum leugnen, denn während der Übungen bin ich einige Male eingedöst und musste zurückspulen. 
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Selbsterkenntnis durch Gedankenlesen

Unter Mindmapping verstand ich bisher die Methode, Gedanken, Ideen und Assoziationen visuell darzustellen. Es gibt jedoch auch das neurobiologische Mindmapping, das Dr. David Schnarch in seinem Buch „Brain Talk“ detailliert vorstellt. Gemeint ist damit, im Geist einer anderen Person zu lesen und eine mentale Landkarte zu entwerfen. Für den US-amerikanischen Psychologen ist es ein wertvolles Werkzeug, um uns selbst besser zu begreifen und unsere Beziehungen zu anderen zu verbessern.
Erst war ich skeptisch, was so besonders daran ist, die Gedanken anderer zu lesen. Ist es nicht etwas, was wir ganz automatisch tun, damit wir uns im Alltag angemessen verhalten? Während der Lektüre war ich dann doch mehr und mehr beeindruckt, wie viele Facetten das Mindmapping hat, wie steigerungsfähig es ist und und wie man dadurch Lücken in seinen Erinnerungen füllen und mitunter die Bedeutung seiner Lebensgeschichte verändern kann. Der Autor schildert sehr spannend und eindringlich, welche Dramen sich in unseren Köpfen abspielen, wenn wir ein, zwar Schritte vorausdenken und was für raffinierte und berechnende Wesen wir Menschen sind.
Besonders ausführlich beschäftigt sich Dr. Schnarch mit dem traumatischen Mindmapping und nennt viele typische Beispiele, die wir uns möglichst bildhaft vorstellen sollen. Zart besaitet darf man nicht sein, denn der Autor verschont uns Leser ebenso wenig wie seine Klienten mit sehr deutlichen Worten und schockierenden Erklärungen. Er entlarvt jeden Versuch, grausame Absichten von nahestehenden Personen zu verleugnen oder schönzureden. Aktuelle tiefliegende Probleme mit den eigenen Eltern oder dem Partner lassen sich so auf verdrängte traumatische Erlebnisse oder verfälschte Erinnerungen zurückführen. 
Wie man mit Mindmapping auch positive Erlebnisse gestalten kann, erwähnt der Autor leider erst am Ende in einem kurzen Kapitel. Dabei hätte mich persönlich sehr interessiert, wie man die Methode nicht nur zur Selbstheilung nach traumatischen Erlebnissen, sondern auch im täglichen Umgang beispielsweise mit Kollegen gewinnbringend nutzen kann.
Trotz der komplexen Thematik und der tiefen Abgründe menschlicher Natur, die der Autor enthüllt, liest sich sein Buch sehr flüssig und spannend dank seinem lebendigen und humorvollen Stil. Gelungen finde ich auch, dass er vertiefende Informationen zu Themen wie antisozialer Empathie oder Neuroplastizität des Gehirns aus dem Hauptteil herausgenommen hat und separat im Anhang ausführt.
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Die Zeit danach

Ich bin gespannt, ob sich unser Freizeitverhalten nachdem die Corona-Krise überstanden ist, verändern wird. Ist unser Nachholbedarf so groß, dass wir uns Hals über Kopf in Aktivitäten stürzen und wieder auf große Veranstaltungen und auf Reisen gehen? Oder haben wir während der Zeit der Einschränkungen festgestellt, dass der Konsumverzicht zu einer Bereicherung auf anderen Gebieten geführt hat, uns zu innerer Ruhe, einem entschleunigten Leben und zu einer intensiveren Erfahrung von einfachen Dingen wie einem Spaziergang oder einem gemeinsamen Essen mit der Familie verholfen hat?
Wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass wir in Zukunft einige Dinge, die uns bisher selbstverständlich erschienen sind, nicht mehr uneingeschränkt tun können. Ein Buch wie "100 Dinge, die man im Leben gemacht haben sollte" lese ich zum Beispiel jetzt mit etwas anderen Augen als zuvor. Till Gauwald gibt darin viele nette Anregungen, welche Erlebnisse man sich nicht entgehen lassen sollte. Da gibt es Sachen, denen ich nicht viel abgewinnen kann wie Elefanten- und Kamelreiten, Fallschirmspringen oder Bungeejumping. In einem Schlosshotel übernachten, Polarlichter in Skandinavien erleben oder einen Baum pflanzen dagegen finde ich durchaus reizvoll. Wichtig erscheint mir auf jeden Fall, eine eigene Bucket List zu erstellen und die Dinge, die ich schon immer einmal machen wollte ohne Aufschub anzugehen, solange es noch möglich ist.
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Mythen und Fakten

Deutschen wird oft nachgesagt, dass sie viel jammern und zu Pessimismus neigen. Dabei geben sich über die Hälfte der Deutschen bei der Frage, ob sie zufrieden mit ihrem Leben sind, 80 und mehr von 100 Punkten. Diese und noch viele weitere überraschende Erkenntnisse präsentiert Martin Schröder in seinem Buch "Wann sind wir wirklich zufrieden?". Dafür hat der Soziologie-Professor eine Langzeitstudie mit über 600.000 Befragungen zu Themen wie Familie, Arbeit, Freizeit und Gesundheit detailliert ausgewertet und die Daten zusammengefasst.
Manches Ergebnis ist ziemlich ernüchternd, zum Beispiel, dass Enkel, Kinder und Großeltern kaum zur Lebenszufriedenheit beitragen oder dass Väter zufriedener sind, je länger sie arbeiten. Andere Vermutungen haben sich für mich bestätigt, beispielsweise dass Gesundheit und soziale Kontakte einen hohen Stellenwert einnehmen. Manche Zahlen machten wir deutlich, dass die Medien mir ein verfälschtes Bild vermitteln, zum Beispiel dass Pendeln unglücklich mache.
Ich war nicht nur über viele Ergebnisse erstaunt, sondern auch fasziniert, wie akkurat Martin Schröder bei der Auswertung vorging und mögliche Störfaktoren heraus rechnete, die die Effekte beeinflussen könnten. Da ich kein Zahlenmensch bin, war ich dankbar, dass er die zahlreichen Grafiken textlich erläutert und das Wesentliche zusammenfasst. Mit Beispielen aus seinem eigenen Bekanntenkreis lockert er seinen Text auf und schreibt witzig und selbstironisch, an manchen Stellen nicht ganz flüssig. 
Am Anfang war ich skeptisch, ob sich so etwas wie Zufriedenheit und Glück in reinen Zahlen ausdrücken lässt und ob es dem Leben nicht jeglichen Zauber nimmt. Doch genau darum geht es in dem Buch: Glauben von Irrglauben zu unterscheiden und mit weit verbreiteten Mythen aufzuräumen. So war einer der größten Aha-Effekte für mich, dass wir Menschen uns oft nicht so sehen, wie wir wirklich sind, sondern wie wir uns sehen wollen, weil wir es für wünschenswert oder moralisch richtig halten. Inmitten einer Flut von teils widersprüchlichen Ratgebern, die ein glücklicheres Leben versprechen, gibt Martin Schröder einen interessanten Einblick, was die Menschen in Deutschland tatsächlich zufrieden macht. 
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Reise in den eigenen vier Wänden

Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis wir wieder verreisen können. Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel an Xavier de Maistre nehmen und eine Reise in meinen eigenen vier Wänden unternehmen. Nach einem verbotenen Duell im Jahr 1790 wurde der französische Offizier in Turin zu 42 Tagen Stubenarrest  verurteilt und nutzte diese Zeit für eine Entdeckungsreise quer durch sein Zimmer.
Die Tour beginnt am Sessel vor dem Kamin und führt ihn im Zickzack-Kurs zu seinem Bett, Schauplatz von Leiden und Glückseligkeit. Auf dem Weg zum Schreibtisch bleibt sein Blick an zahlreichen Stichen und Gemälden hängen, die sentimentale Erinnerungen hervorrufen. Während seiner Beobachtungen und Entdeckungen verliert er sich immer wieder in ausschweifenden Gedanken über Körper und Seele des Menschen, die Kunst, Literatur, Philosophie und Naturwissenschaften. Ebenso sinniert er über seinen Diener Joannetti oder seinen Hund Rosine.
Xavier de Maistre versäumt es nicht, die Vorzüge der Zimmerreise hervorzuheben, zum Beispiel dass sie weniger Risiken birgt, vom Wetter unabhängig ist und nichts kostet. Mit seinem Buch möchte er nicht nur seine interessanten Beobachtungen teilen, sondern hofft auch auf viele Nachahmer. Tatsächlich wurden „Zimmerromane“ en vogue und inspirierten Schriftsteller wie Oscar Wilde oder Marcel Proust. Uns ist solch eine Reise vielleicht zu fad, aber den Autor lesend oder in einem Hörspiel zu begleiten, ist ein unterhaltsames Vergnügen.
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Memoiren eines Kleinstaatsfeinds

Über das Land Liechtenstein wusste ich bisher nur sehr wenig. Seit der Lektüre von "Für immer die Alpen" hat sich das schlagartig geändert. Benjamin Quaderer bringt uns in diesem Schelmenroman nicht nur die Berg- und Dorflandschaften seiner Heimat näher, sondern weiht uns auch in die Gesellschaft des Kleinstaats, das Fürstentum und in finanzielle Machenschaften von Steuersündern ein.
Schon der Einstieg zieht den Leser in den Bann: Weshalb lebt der Erzähler, der früher Johann Kaiser hieß, im Zeugenschutzprogramm mit neuer Identität und gilt als Datendieb und Landesverräter? Um uns ins Bild zu setzen, holt der 54-Jährige weit aus, erzählt von seiner Geburt in Vaduz, seinen Eltern und grausamen Zwillingsschwestern, seinem Leben in einem Kinderheim und in einer Eliteschule und seiner steilen Karriere als Lügner, Hochstapler und Betrüger. 
Dass ihm von klein auf ständig Ungerechtigkeiten widerfahren, die mit fortschreitendem Alter exponentiell zunehmen und ihn zu einem Getriebenen machen, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Gerechtigkeit bedeutet Johann ebenso viel wie wahre Freundschaft und echte Zuneigung, die er für seine Mutter, seinen Kumpel Gian-Andrin sowie zur Fürstin Gina von Liechtenstein empfindet, die ihn protegiert.
Ich habe die knapp 600 Seiten Seiten verschlungen und das trotz der erzählerischen und grafischen Spielereien, die das Lesen teilweise erschweren. So gibt der Weltenbummler seine Erlebnisse in Australien, die er mangels Notizen anhand seiner Erinnerungen rekonstruiert, in seitenfüllenden Fußzeilen wieder und zitiert sich auch gern selbst. Der Wechsel der Erzählperspektive erfordert ebenfalls häufiges Vor- und Zurückblättern. Viel Fantasie und Ideenreichtum beweist Quaderer auch in seinen Beschreibungen und Formulierungen. Selten habe ich in einem Buch so viele Sätze markiert, die mir gefielen, wie zum Beispiel "... ich konnte das Wort in ihren Stirnfalten liegen sehen...". Ein literarischer und satirischer Leckerbissen, der obendrein auf realen Begebenheiten beruht.
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Zeit für neue Projekte

Die Coronakrise zwingt die meisten von uns, mehr Zeit zu Hause zu verbringen, als ihnen lieb ist. Ich kann wirklich dankbar sein, dass dies bisher der einzige Einschnitt in meinen Alltag ist, während andere Menschen um ihre Gesundheit oder Existenz bangen müssen.
So gern ich auch wieder mal in der Stadt bummeln, im Fitness-Studio trainieren oder mich mit Freunden zum Essen verabreden würde, stelle ich fest, dass mir zu Hause die Beschäftigungen keineswegs ausgehen. Klar: Bücher lesen und besprechen, Kulturdokus und Netflix-Serien ansehen, Podcasts hören und in der Wohnung herumkruschen standen schon vorher auf der Tagesordnung. Jetzt habe ich aber endlich einmal Zeit, zum Hörer zu greifen und ausgiebig mit Freundinnen zu telefonieren. Oder mich näher mit Medizin und Forschung, Politik und Journalismus zu beschäftigen. Noch nie war ich so gut über das Zeitgeschehen informiert wie heute. Erstaunlich für jemanden, der sonst so gut wie gar keine Nachrichten liest und sich lieber in ein gutes Buch vertieft.
Außerdem ist jetzt der beste Zeitpunkt, mir das Buch "50 Ways To Draw Your Beautiful Ordinary Life" wieder vorzuknöpfen und an meinen 'Zeichenkünsten' zu arbeiten. Irene Smit und Astrid van der Hulst, Mitgründerinnen und Kreativdirektorinnen des FLOW Magazins, zeigen darin vielfältige Tricks, wie man Alltagsgegenstände zeichnet. Bisher habe ich nicht einmal eines der vier Kapitel Home, Garden, Style, Nature geschafft. Es erwarten mich noch jede Menge Illustrationsvorlagen, die ich an der FLOW so liebe, Schritt-für-Schritt Anleitungen und Papier-Extras. Eine gute Gelegenheit, die Dinge, die mich tagtäglich umgeben und mir gute Dienste leisten, mal näher zu betrachten und zu würdigen.
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Jede Mahlzeit hat ihre eigene Geschichte

Die Tage werden länger, die Kraft der Sonnenstrahlen stärker - alle Klein- und Hobbygärtner stehen in den Startlöchern. Ein richtig großes Gartenprojekt nahm sich Meike Winnemuth vor, als sie eine kleine Holzhütte auf einer 800 Quadratmeter großen Grünfläche an der Ostsee kaufte. In ihrem grafisch wunderschön gestalteten Buch "Bin im Garten – Ein Jahr wachsen und wachsen lassen" berichtet sie von ihrem Gartenjahr 2018 in Tagebuchform.
Für eine Journalistin, die zuvor ein Jahr lang durch die Welt gereist ist, muss es eine große Umstellung gewesen sein. Doch genau das war ihr Ziel: Zum einen etwas völlig anderes und neues aufzuprobieren, zum anderen ein Zuhause, eine Heimat für sich zu schaffen, die sie während ihrer Reise vermisste. 
Mit großem Vergnügen habe ich die "Vollzeitgärtnerin" dabei begleitet wie sie Saatkataloge studiert, ihre Wohnung mit Saatschalen und improvisierten Gewächshäusern vollstellt, gräbt, schuftet, pflanzt, ihre ersten Kräutersaitlinge und Radieschen erntet und voller Stolz ihren Eltern und Freunden eine schmackhafte Mahlzeit zubereitet. 'Jede Mahlzeit hat ihre eigene Geschichte' schreibt sie, und genau diese persönlichen Geschichten, die die Autorin wieder humorvoll mit uns teilt, machen das Buch so lesenswert. Es geht nicht um die besten Gartentipps und Pflanztechniken, sondern um das Gelingen und Scheitern und ihre wechselnden Empfindungen wie Begeisterung, Erschöpfung, Frust und Glückseligkeit.
Die zahlreichen Farbbilder weckten bei mir die Lust, mich selbst mit verschiedenen Blumen- und Gemüsesorten zu beschäftigen wie zum Beispiel Tomaten, die so klanghafte Namen haben wie Green Zebra, Brandywine Sherry oder Banana Legs. Interessant für mich war jedoch nicht nur der Einblick in die Vielfalt der Natur, sondern auch in einen Alltag, der hauptsächlich von Außentemperatur, Niederschlagsmenge und wetterfester Kleidung bestimmt wird und viel Geduld und Durchhaltevermögen erfordert. Schon in ihrem Buch "Das große Los" gefiel mir ihr Motto 'Einfach machen und sehen, was passiert'. Einige Ideen werde ich dieses Jahr auch in meinem Garten umsetzen und sehen, was passiert. 
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Tanzen macht schlau

Ich tanze leidenschaftlich gern. Dass Tanzen glücklich macht, braucht man mir daher nicht zu erklären. Doch macht es auch intelligent? Das behauptet zumindest Lucy Vincent in ihrem Buch "Tanzen macht nicht nur glücklich, sondern auch schlau". Die Neurobiologin bezeichnet Tanzen als 'machtvolle Demonstration der Körperintelligenz' und erläutert, wie körperliche Aktivität nicht nur Endorphine freisetzt, sondern auch die Funktionen des Gehirns optimiert.
Ihren Fokus legt sie auf die Bedeutung des Kleinhirns als Schnittstelle von Körper und Denken. Während der Lektüre wurde mir erst richtig bewusst, wie viele Informationen ständig zwischen Gehirn und Körper fließen und welche positiven Wirkungen zum Beispiel bei einem Bürojob selbst kleine Bewegungseinheiten zwischendurch haben können.
Beim Tanzen, so wird deutlich, kommen gleich mehrere Faktoren zusammen, die das Gehirn stimulieren, zum Beispiel die Ausführung verschiedener Körperhaltungen, die Koordinierung komplexer Bewegungen und der freie Selbstausdruck. Die Autorin zeigt dies am Beispiel unterschiedlicher Tanzformen wie Rock, Salsa oder Tango. Sehr hilfreich sind die Links zu zahlreichen YouTube-Videos, die die Schrittfolgen zeigen. Den Tanz der Maori 'Haka' und den Sonnentanz habe ich gleich selbst ausprobiert und hatte viel Spaß dabei.
Lucy Vincent hebt auch die soziale Bedeutung des Tanzes hervor und beschreibt, wie ein Gefühl der Zugehörigkeit entsteht, ganz gleich ob man sich frei in der Gruppe oder synchron mit anderen Tänzern bewegt. Ob der Tanz sich eines Tages als Paartherapie oder Teambuilding in Firmen etabliert, wird sich noch zeigen. Gründe und Anregungen dafür findet man in diesem Büchlein jedenfalls reichlich.
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12 Monate – 12 Städte

Ich frage mich, warum ich das Buch "Das große Los" von Meike Winnemuth nicht schon viel früher gelesen habe. Eine Journalistin, die bei "Wer wird Millionär" eine halbe Million gewinnt, auf Weltreise geht und darüber berichtet - spannend könnte eine Geschichte doch kaum sein. Hinzu kommt, dass sie sich zwölf Großstädte ausgesucht hat, in der sie jeweils einen Monat verbringt.
Eine Stadt wie Sydney macht ihr den Einstieg leicht, ebenso San Francisco. Mit Mumbai dagegen steht sie lange Zeit auf Kriegsfuß, bis sie auch dort die schönen Aspekte entdeckt. Was ihrem Reisebericht eine besondere Würze verleiht, sind die vielen originellen Einfälle. Sie schildert zum Beispiel ihre Reise in Briefform an zwölf verschiedene Personen aus ihrer Familie und ihrem Bekanntenkreis. Zudem erledigt sie kleine Aufträge für die Leser ihres Reiseblogs, die zu ganz ungewöhnlichen Bekanntschaften und Entdeckungen führen.
Der Autorin geht es nicht darum, möglichst viele Sehenswürdigkeiten abzuhaken, sondern vielmehr zu erfahren, was die Stadt mit ihr macht und welche Gefühle, Eigenschaften und Unternehmungen sie aus ihr herauskitzeln. Einerseits genießt sie die Freiheit und den Luxus, Dinge, auf die sie gerade Lust hat, ausprobieren zu können wie Ukulele zu spielen oder einen Tauchkurs zu machen; andererseits sehnt sie sich nach Nähe und Zugehörigkeit.
Während der Lektüre habe ich eine besondere Verbindung zu Meike Winnemuth gespürt. Ich teile ihr Lebensmotto "Love it, change it or leave it" und ihre Einstellung, möglichst viele Dinge auszuprobieren und seine Überzeugungen immer wieder zu hinterfragen. Dieser wunderbar bebilderte Reise- und Selbsterfahrungsbericht hat meinen Horizont in vielerlei Hinsicht erweitert.
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Chancen und Risiken einer digitalen Gesellschaft

Angesichts der Macht von Konzernen wie Google oder Amazon gibt man sich schnell dem Lauf der Dinge hin und nimmt eine fatalistische Haltung ein, nach dem Motto, die Digitalisierung ist ohnehin nicht aufzuhalten. Genau hier setzt Richard David Precht mit seinem Buch "Jäger, Hirten, Kritiker" an und stellt mögliche Konzepte vor, wie wir digitale Technologien sinnvoll für ein menschenwürdigeres Leben und zum Schutz der Umwelt nutzen können, ohne unsere Autonomie zu verlieren.
Im ersten Teil beschreibt der Philosoph, wie unsere Welt auf eine vierte industrielle Revolution zusteuert. Menschen werden in ihrem Verhalten immer transparenter und kalkulierbarer, gleichzeitig aber auch abhängiger und manipulierbar und verlieren damit zunehmend ihre Freiheit und Selbstständigkeit. Mehrmals fühlte ich mich ertappt, zum Beispiel wie offenherzig ich persönliche Daten zugänglich mache, um den Komfort von verschiedenen Dienstleistungen im Alltag genießen zu können. Der Autor trifft genau den Punkt, wenn er schreibt, dass das Eindringen in die Privatsphäre und die Ausweitung der Macht von IT-Konzernen in kleinen Schritten und so schleichend vor sich geht, dass man deren Auswirkungen unterschätzt.
Möchte ich in einer Welt leben, in der alle Angebote auf mein Konsumverhalten zugeschnitten und alle Erfahrungen vorhersehbar und frei von Überraschungen ist? Die Dystopie, die Precht beschreibt, ist so verstörend, dass ich bei der Lektüre immer ungeduldiger wurde zu erfahren, worin er denn nun genau eine Chance sieht. Für einen notwendigen Schritt hält der Autor unter anderem ein bedingungsloses Grundeinkommen. Klingt einleuchtend, wenn man bedenkt, wie viele Berufe wie Fahrlehrer oder Versicherungsberater in naher Zukunft wegfallen werden.
Ich kann mir noch nicht genau vorstellen, wie Menschen mit der Möglichkeit, ihr Leben freier zu gestalten ohne auf Erwerbsarbeit angewiesen zu sein, umgehen würden. Umso wichtiger erscheint mir Prechts Appell an die Politiker und Bürger, eine Arbeitswelt und Gesellschaft anzustreben, die nicht allein auf Effizienzsteigerung, Perfektionierung und Komfortmaximierung ausgerichtet ist, sondern die menschliche Urteilskraft und Handlungskompetenz fördert und die nötigen Rahmenbedingungen für eine kreative Entfaltung und unkonventionelle Denkweisen schafft. Precht bereichert seine Ausführungen durch Zitate und Ideen von Philosophen und Ökonomen aus verschiedenen Epochen und beschert uns eine sehr lehrreiche und anregende Lektüre.
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Wie Kreative Geld verdienen

Bohemien und Unternehmer - Das klingt zunächst nach zwei gegensätzlichen Welten. Eines haben sie jedoch gemeinsam, wie Tom Hodgkinson in seinem Buch "Business for Bohemiens" ("Business für Bohemiens") feststellt: Beide streben nach größtmöglicher Freiheit und Selbstbestimmung.
Wenn es darum geht, den Lebensstil eines Bohemiens mit den Gepflogenheiten der Geschäftswelt unter einen Hut zu bringen, kann Hodgkinson aus einem reichen Erfahrungsschatz berichten. Im März 2011 gründete er mit seiner Partnerin Victoria in London die Idler Academy - eine Kombination aus Buchhandlung, Coffee Shop und Bildungsstätte, die z.B. Kurse in Geschichte, Philosophie oder Ukulele anbietet. Welche Hindernisse und Schwierigkeiten er dabei zu bewältigen hatte, schildert er in zahlreichen Anekdoten und gibt zugleich konkrete Tipps, zum Beispiel für welche Aktionen man seine Mailingliste nutzen kann oder worauf zu achten ist, wenn man Mitarbeiter einstellt.
So besonders unterscheidet sich der Inhalt nicht von anderen Ratgebern für Kleinunternehmer, da der Weg an gewissen Aufgaben, die Bohemiens zuwider sein dürften, wie einen Business Plan zu erstellen oder ein Mission Statement zu formulieren nicht vorbeiführt. Zwei Aspekte gefielen mir ganz besonders: Zum einen das Konzept der Idler Academy, das auch ich mir als erfüllende Tätigkeit gut vorstellen könnte; Zum anderen gibt der Autor viele persönliche Einblicke, zum Beispiel, was es bedeutet, mit seinem Lebenspartner ein Business zu führen, dass er viel lieber schreibt als den Kunden Kaffee zu servieren, seine kritische Einstellung zu sozialen Medien oder wie viele tolle Ideen er verwerfen musste, weil sie nicht praktizierbar waren.
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Raffiniert komponiert

Ein Mord, ein Ermittlerduo und Bella Italia als Schauplatz - Diese Kombi ist wahrlich nicht neu. Die Krimis der Schriftstellerin und Violinsolistin Natasha Korsakova haben allerding noch ein weiteres Markenzeichen: Sie spielen in der Welt der klassischen Musik.
In "Römisches Finale", dem zweiten Fall von Commissario Di Bernardo wird der weltberühmte Pianist Emile Gallois tot und mit zertrümmerter Hand aufgefunden. Angesichts seiner undurchsichtigen Liebesbeziehungen liegt ein Mord aus Eifersucht nahe. So sind der Kommissar und sein Kollege Roberto in der ersten Hälfte des Buches hauptsächlich mit Befragungen beschäftigt, um sich ein klareres Bild seines privaten Umfelds zu machen.
Als ein weiterer Mord geschieht und das Augenmerk auf Emiles Vergangenheit gelenkt wird, kommt die Handlung richtig in Fahrt. Es macht Spaß, das Duo quer durch Rom zu begleiten: Di Bernardo, der sich über das fehlende Mosaiksteinchen den Kopf zerbricht, während Roberto sich keine Gelegenheit der Nahrungsaufnahme entgehen lässt. Die Autorin erweckt dabei bekannte und weniger bekannte Viertel Roms mit ihren architektonischen Besonderheiten zum Leben.
Neben dem Schauplatz spielt ein gewisses Stück von Rachmaninow eine zentrale Rolle, in das ich während der Lektüre hineingehört habe. Als Insider kann Korsakova die Marotten exzentrischer Künstler, ihren Hang zur Theatralik und den extrem hohen Erfolgsdruck in der Musikwelt, der zu Neid und Missgunst führt, sehr authentisch vermitteln.
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Bewegende Nachrichten

In Zeiten, wo viel Wert darauf gelegt wird, ständig erreichbar zu sein, ist die Kommunikation nur über Anrufbeantworter eher befremdlich. Genau das tun jedoch die vier Protagonistinnen in dem Roman "Alles, was geschieht, hat seinen Grund" von Arantza Portables. Sie hinterlassen Nachrichten und reflektieren dabei über ihr Leben. Marina macht ihrem Ehemann, der sie verlassen hat, Vorwürfe; Carmela, die an Krebs erkrankt ist, verabschiedet sich von ihrem Sohn, der in der Ferne als Arzt arbeitet; Sara macht eine Psychotherapie via Anrufbeantworter und Viviana enthüllt ein Familiengeheimnis.
Je weiter man liest, desto mehr zeigt sich, wie gut diese Erzählform zu der Geschichte passt. Zum einen möchte jede der vier Frauen etwas loswerden, sich von der Seele reden ohne eine sofortige Reaktion oder Erwiderung befürchten zu müssen. Auf diese Weise meiden sie zu viel Nähe, und ihre einseitigen Botschaften bleiben vorerst ohne Folgen. Zum anderen wird man als Leser dazu angeregt, über die Kommunikation als solche nachzudenken, wie schwer sich Menschen damit tun und wieviel im Leben unausgesprochen bleibt.
Das Besondere an Portables Sprache ist, wieviel Kraft und Emotionen in den knappen, teilweise nüchternen Sätzen stecken. Aus den zahlreichen Nachrichten und Fragmenten entsteht allmählich ein immer klareres Bild von vier sehr unterschiedlichen Charakteren und Lebenswegen, die sich teilweise kreuzen. Man erlebt sowohl verstörende Enthüllungen als auch tief berührende Gesten. Ein starkes Buch über die Liebe, Ehe, Freiheit und Selbstständigkeit.
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Kreativ und pleite

Bleiben die Aufträge aus, so hat man als freiberufliche Journalistin auf einmal viel Zeit – und zu wenig Geld auf dem Konto. Bei Sophie, Ich-Erzählerin des Romans "Quand le diable sortit de la salle de bain" ("Als der Teufel aus dem Badezimmer kam"), sind es gerade einmal 17,70 EUR, mit dem sie auskommen muss. Da überlegt sie schon sehr genau, welche Lebensmittel in den Einkaufswagen wandern. Sophie zählt sehr häufig auf: was sie einkauft, was sie isst, was sie tun könnte, wenn sie Geld hätte... Entspringen die Aufzählungen, die teilweise über mehrere Seiten gehen, ihrer überbordenden Fantasie, übt sie sich in Sprachakrobatik oder ist es lediglich Zeitvertreib? Das muss der Leser selbst entscheiden. 
Ihre Fantasie kennt ebenso keine Grenzen, wenn es darum geht, was sie in ihrem Haushalt zu Geld machen könnte. Viel passiert in diesem Roman nicht, außer dass sich die Erzählerin regelmäßig mit der Bürokratie herumärgern muss oder von ihrem Dämon heimgesucht wird. Interessant ist jedoch, in welchem Kontrast der permanente Notstand und der Mangel an materiellen Dingen zu den ausufernden geistigen Ergüssen, Wortneuschöpfungen, literarischen Bezügen und fantasievollen typographischen Gebilden steht, die teils amüsant, teils etwas anstrengend sind. Sophie Divry gibt auf sehr experimentelle und anspruchsvolle Weise Einblick in ein gesellschaftlich isoliertes Leben am Existenzminimum und regt zum Nachdenken an.
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Grenzen sprengen

Ich muss gestehen, ich kenne nur wenige der Frauen, die Cristina de Stefano in ihrem Buch "Skandalös - Das Leben freier Frauen" vorstellt. Niki de Saint Phalle zum Beispiel, die durch ihre voluminösen Nana Skulpturen berühmt wurde. Oder Nina Simone mit ihrem unvergesslichen Song "My Baby Just Cares For Me". Doch auch über diese Künstlerinnen lernte ich völlig neue Seiten kennen, die deutlich machen, warum sie in diesem Buch aufgenommen wurden.
Frauen wie Mina Loy, Else Laske-Schüler oder Louise Bourgeois haben eines gemeinsam: Sie verwandelten ihren tiefen Schmerz aus traumatischen Kindheitserlebnissen in Energie und unglaubliche Schaffenskraft. Manche verarbeiteten ihre Wut textlich und veröffentlichten skandalöse Gedichte oder Romane, andere in Form von provozierenden Fotografien oder Skulpturen.
Mir gefiel, dass Cristina de Stefano in jedem Kurzporträt jeweils auf die Herkunft und das Umfeld eingeht, in dem die Frauen aufwuchsen. Dabei stellt sie prägende Beziehungen und einschneidende Erlebnisse heraus, die erklären, warum sie einen so unkonventionellen Weg eingeschlagen haben. Manche Frauen bewunderte ich für ihren Mut, ihre Kreativität und Produktivität, andere fand ich ein wenig furchteinflößend, da sie auch vor exzessivem Alkoholkonsum, Gewalt und kriminellen Taten nicht zurückschreckten, um zu rebellieren und zu schockieren. Schön, dass jedes Kapitel mit einer ganzseitigen Schwarzweißfotografie beginnt, so dass man jeder Person ein Gesicht zuordnen und sie in verschiedenste Länder wie Frankreich, Finnland, Kuba, Mexiko oder Vietnam begleiten kann.
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Philosophie für den Krisenfall

Wer daran zweifelt, dass philosophische Anschauungen praxistauglich sind, sollte das Buch "Auf einen Kaffee mit Kant" lesen. Marie Robert beschreibt höchst anschaulich 12 typische Krisensituationen, die dem Leser mal mehr, mal weniger bekannt vorkommen dürften. Doch statt aus eigenen Erfahrungen zu schöpfen und selbst Hilfestellung zu bieten, holt sich die Autorin Rat von berühmten Philosophen wie Kant, Heidegger oder Spinoza. Was würde Aristoteles dazu sagen, wenn Sie sich fest vorgenommen haben, auf Parties nicht mehr über die Stränge zu schlagen und doch wieder in alte Muster verfallen? Was würde Mill dazu sagen, wenn Sie ehrlich zu Ihrer Freundin sein möchten ohne sie zu verletzen?
Selten wurde der Unterschied zwischen aktivem und passivem Nihilismus nach Nietzsche, Levinas altruistische Ethik oder Wittgensteins Auffassung von Kultur so verständlich auf den Punkt gebracht und lebensnah vermittelt. Und selten so unterhaltsam! Mehrmals musste ich laut auflachen, zum Beispiel als ein Kulturclash beim ersten Treffen mit den Schwiegereltern beschrieben wird. Die Texte sprühen nur so vor geistreicher Ironie und Situationskomik. Ich war erstaunt, wie viele philosophische Themen zeitlos sind und sich auf unsere heutige Lebenslage genauso übertragen lassen wie auf den Alltag in der Antike. 
Ob verzweifelte Eltern, trauernde Singles oder enttäuschte Start-Up Unternehmer - eine sehr breite Zielgruppe könnte in diesem Büchlein Trost und aufmunternde Worte finden und Lust bekommen, sich mit dem einen oder anderen großen Denker näher zu beschäftigen.
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Waghalsiges Filmprojekt

Der Tonfilm – für uns das Selbstverständlichste der Welt, in den 1920er Jahren eine Erfindung, die als revolutionär gefeiert wurde. In seinem Roman "Im Licht der Zeit" schildert Edgar Rai die Entstehung des ersten großen deutschen Tonfilms "Der Blaue Engel", der mit dem Oscar-Preisträger und Egomanen Emil Jannings und der noch völlig unbekannten Marlene Dietrich verfilmt werden soll. Bis dahin ist es für die Revue-Sängerin, die ihre Laufbahn als Geigenspielerin begann und vergeblich auf einen Durchbruch als Schauspielerin wartete, ein weiter Weg.
Von Anfang an faszinierte mich die Figur der Marlene, die Rai in all ihren Facetten zum Leben erweckt: Einerseits ist sie eine verführerische und vergnügungssüchtige Frau, die sich ohne jede Scheu nimmt, was sie begehrt; andererseits eine unglückliche und schuldbewusste Mutter, die unter der Kühle ihrer Tochter leidet; in jedem Fall aber eine schlagfertige und selbstbewusste Frau, die ihre Stärken zu ihren Gunsten einzusetzen weiß.
Ihre Wandlung von einer unbedeutenden Revuenummer zum Publikumsliebling vollzieht sich inmitten eines quirligen Settings, in dem für jeden Beteiligten, vom Darsteller über den Drehbuchautor und Regisseur bis hin zum Ufa-Boss, alles auf dem Spiel steht und die menschlichen Reibereien und kochenden Emotionen in jeder Zeile zu spüren sind. Der Autor gibt nicht nur jeder Figur genügend Raum zur Entfaltung, sondern zeichnet uns auch ein üppiges Bild der Berliner Künstlerszene, die durch Unterhaltung, Zerstreuung, Leichtfertigkeit und Zügellosigkeit geprägt war. Für Cineasten und Fans der Goldenen Zwanziger ein wahrer Lesegenuss!
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Es geschah in einer kalten Winternacht

Die Lycée internationale Saint-Exupéry in Antibes, Schauplatz des Romans "La jeune fille et la nuit" ("Die junge Frau und die Nacht") feiert ihr fünfzigjähriges Jubiläum und lädt ehemalige Schüler und Lehrer zu einem großen Fest ein. Ein Grund zum Feiern und zur Freude könnte man meinen, doch nicht für die ehemaligen Schüler Thomas, Maxime und Fanny. Der geplante Abriss der alten Sporthalle würde ein düsteres Geheminis ans Licht bringen, das die drei Freunde seit 25 Jahren mit sich tragen. Und das alles 'nur', weil der Ich-Erzähler und Schriftsteller Thomas sich damals in eine unerwiderte Liebe zu der Mitschülerin Vinca hineingesteigert hatte, die seit der Zeit als vermisst gilt.
Guillaume Musso schildert abwechselnd die Geschehnisse im Jahr 1992 und 2017 und enthüllt auf beiden Zeitachsen Stück für Stück neue Details, die für überraschende Wendungen sorgen. Seine psychologischen Analysen lesen sich wahnsinnig spannend, zum Beispiel als Thomas sich vom unscheinbaren Schüler zum entschlossenen Kämpfer verwandelt. Was die Bandbreite der Emotionen betrifft, schöpft Musso aus dem Vollen: von Leidenschaft und Eifersucht über Besessenheit und Wut bis hin zu Schuldgefühlen und Todesängsten. 
Immer mehr festigt sich der Verdacht, dass keiner die Frau Vinca wirklich gekannt hat, auch nicht Thomas, der blind vor Liebe und beeinflusst von der übermäßigen Lektüre von Romanen einem Ideal nachjagte. Dies ist mein erstes Buch von Guillaume Musso und ganz sicher nicht mein letztes. Er schreibt nicht nur fesselnd auf hohem literarischen Niveau, sondern entfaltet auch ein detailreiches Bild der Côte d'Azur und seiner Heimatstadt Antibes.
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Selbstfindung im Exil

Zweimal kam ich letztes Jahr mit der griechischen Mythologie in Berührung: In "Mythos. Was uns die Götter sagen" von Stephen Fry und "Eine Odyssee" von Daniel Mendelsohn. Nun hatte ich Gelegenheit, die Sagen aus einer weiblichen Perspektive zu 'erleben', und zwar aus der Sicht von "Circe" ("Ich bin Circe") im gleichnamigen Roman von Madeline Miller.
Die Tochter des Sonnengottes Helios und der Nymphe Perse fühlt sich den Menschen näher als den Göttern und leidet unter der Demütigung und Zurückweisung durch ihre Familie. Als sie ihre magischen Kräfte entdeckt und sie nicht gerade im Sinne der Götter einsetzt, wird sie auf die Insel Aiaia verbannt. Das Exil entpuppt sich als Glücksfall für die Magierin, die sich nun intensiv mit der Tier- und Pflanzenwelt beschäftigt, allerlei Zaubertränke braut und ihre Kenntnisse immer mehr vertieft.
Für Abwechslung sorgen die wechselnden Besucher der Insel wie der Götterbote Hermes, der sie mit aktuellen Neuigkeiten auf dem Laufenden hält, das Ungeheuer Scylla, Daidalos, Medea und schließlich Odysseus. Auf die Weise kommen Circe verschiedene Rollen zuteil, manche unfreiwillig wie die der strengen Gouvernante. Väter schicken gern ihre ungehorsamen Tochter zu ihr, um ihnen ihre Grenzen aufzuzeigen. Als sie sich auf eine Beziehung mit Odysseus einlässt und einen Sohn gebärt, verwandelt sich die leidenschaftliche Liebhaberin in eine überfürsorgliche Mutter. Dieser Abschnitt ist für meinen Geschmack etwas zu lang geraten. An manch anderen Stellen wiederum wurde so viel mythologischer Stoff hineingepackt, dass man den Bezug zu Circe ein wenig verliert. Trotz allem bietet der Roman durch Millers starke Ausdruckskraft eine unterhaltsame und lehrreiche Lektüre.
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Das Leben als gemalte Wirklichkeit

Schon in seinem Jahreszeiten-Zyklus beschäftigte sich der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård mit dem Thema Kunst und bereicherte seine Romane durch Illustrationen von Anna Bjerger und Aquarelle von Anselm Kiefer. Mit diesen Künstlern gibt es in seinem jüngsten Buch "So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche" ein Wiedersehen, doch im Mittelpunkt steht ein anderer Maler: Edvard Munch, dessen Ausstellung er vor zwei Jahren in Oslo kuratierte und die seit 12. Oktober in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen im K20 zu sehen ist.
Der Autor bringt uns in seinem Buch den eigenbrötlerischen Künstler näher, der zahlreiche persönliche Verluste erleiden musste und stellt eine Verbindung zwischen den tragischen Erlebnissen und den stark emotional aufgeladenen Bildern her. Er erläutert die verschiedenen Schaffensperioden, aus denen nur ein Bruchteil, darunter "Der Schrei", bekannt wurde. Gerade den unbekannteren Bildern will sich der Schriftsteller nähern, fährt zu Orten, an denen Munch lebte, und tauscht sich mit Kunstexperten und -kritikern aus. Wenn er das Bild "Asche" von Munch mit "Echo Lake" von Peter Doig vergleicht, stellt er sehr detailliert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Am liebsten möchte man beide Bilder vor sich sehen, doch das hätte den Rahmen des Buches gesprengt. Immerhin enthält es 14 Reproduktionen von bedeutenden Werken. 
Der Schriftsteller schreibt über die allgemeine Rezeption von Munchs Werken, vor allem aber über seine eigene Beziehung zu dem Künstler und versucht zu ergründen, warum ein Bild wie "Kohlacker" derart starke Gefühle in ihm auslöst. Dies führt ihn wiederum zu der nächsten Frage, was Kunst eigentlich für uns Menschen bedeutet und warum wir sie brauchen. Bei dem Versuch, Munch zu verstehen, zieht er auch Vergleiche mit Künstlern aus Film, Fotografie und Literatur wie Fjodor Dostojewski oder Knut Hamsun. 
In dieser sehr vielschichtigen Lektüre lernen wir nicht nur Munch und Knausgård näher kennen, sondern werden auch mit philosophischen Gedanken konfrontiert, zum Beispiel welche Rolle Wissen bei unserer Wahrnehmung und Empfindung spielt oder was die kreative Tätigkeit ausmacht. Interessant ist ebenso zu erfahren, wie Knausgård bei den Vorbereitungen der Munch-Ausstellung vorging und welche Unsicherheiten und Zweifel ihn bei der Auswahl der Gemälde und Druckgrafiken plagten. Ich kann es kaum erwarten, am kommenden Sonntag die aktuelle Ausstellung in Düsseldorf zu besuchen und die Sammlung sowohl mit Knausgårds als auch mit eigenen Augen zu sehen.
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Flaniermeilen rund um den Globus

Denkt man an Städte wie London, Berlin oder New York, kommen einem ganz bestimmte Flaniermeilen und Plätze in den Sinn. Insgesamt sechzehn stellt der Band "In den Straßen der Welt" von Frauke Berchtig vor. Schlägt man eine Doppelseite auf, taucht man gleich in das Geschehen ein, zum einen weil der Fluchtpunkt der Straßen eine Sogwirkung ausübt, zum anderen, weil die Zeichnungen von Agusti Sousa so farbenfroh und lebendig sind. 
Trotz der eher skizzenhaften Darstellung wird die Stimmung und Gesamtatmosphäre sehr gut eingefangen. So habe ich die Rambla in Barcelona genauso in Erinnerung wie in der Zeichnung von Sousa. Die typischen Eigenheiten wie der Doppeldeckerbus in London, die Radfahrer und Hausboote in Amsterdam oder die Gondeln in Venedig, die das jeweilige Stadtbild prägen, werden in Szene gesetzt. 
Kurze Texte erläutern, wie die Straße zu ihrem Namen kam, wie sie sich historisch verändert oder welche Bedeutung sie heute hat. Wer wie ich eine Schwäche für gelungene Illustrationen und Wimmelbilder hat, wird sich sicher nicht sattsehen können an den vielen Details. Worüber unterhält sich wohl das Paar, das an einem Brunnen auf dem Platz Rynok im ukrainischen Lwiw steht? Und was für einen Ausflug plant die Familie mit Rucksäcken, die auf die Lombard Street in San Francisco zusteuert? Sowohl Kinder als auch Erwachsene werden Spaß an den Bildern haben. Sie regen die Fantasie an, inspirieren Autor/innen zu neuen Geschichten und wecken die Lust, den nächsten Städtetrip zu planen.
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Eine musikalische Entdeckungsreise

Selten hat mich die Einleitung eines Buches so angesprochen wie in "Ein Jahr voller Wunder". Clemency Burton-Hill beschreibt darin die Idee zu ihrem Musikkalender und ihr persönliches Anliegen, klassische Musik jedermann zugänglich zu machen, ganz gleich, wie viel man davon versteht. Sie ist überzeugt, dass Musik Kulturen verbindet und Grenzen überwindet. Der lockere Ton, der Humor und die Leidenschaft, die in ihren Worten mitschwingt, macht die Violinistin, Radio- und Fernsehmoderation sehr sympathisch.
Sie präsentiert 365 Stücke ihrer Wahl aus tausend Jahren Musikgeschichte, ordnet sie zeitlich ein und erläutert ihre Entstehungsgeschichte. Ich begann meine Lektüre im November. Neben bekannten Komponisten, von denen ich als Kind schon mehrere Stücke auf Klavier gespielt habe, wie Edvard Grieg oder Manuel de Falla, lernte ich eine Reihe neuer Musiker kennen. Besonders begeistert haben mich die Entdeckungen "La Nuit et l'Amour" von Augusta Holmès und "For Now I am Winter" von Ólafur Arnalds. Letzterer ist ein sehr vielseitiger isländischer Künstler und produziert Musik für Film- und Fernsehproduktionen sowie Auftragsarbeiten für Konzerthallen. Komponisten wie Heitor Villa-Lobos versuchten, ihr Interesse für europäische klassische Musik mit Klängen und Themen ihrer Heimat, in seinem Fall, Brasilien, zu verbinden. Ich kann immer mehr nachvollziehen, warum die Autorin Labels wie Klassik oder Popmusik als einschränkend empfindet. 
Ich lerne nicht nur viele mir bisher unbekannte Musiker kennen, sondern lese auch über tragische Schicksale wie die von Fanny Mendelssohn, die mehr als 450 Stücke schrieb, doch nur einen einzigen öffentlichen Auftritt hatte. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe und persönlichen Lebensgeschichten sind so spannend zu lesen, dass es mir schwerfällt, mich täglich auf ein Musikstück zu beschränken. Das liegt zum einen an dem wunderbaren Schreibstil der Autorin, die den Leser augenzwinkernd direkt anspricht, sondern auch daran, dass viele Emotionen im Spiel sind – schließlich geht es um Musik! Wir erfahren nicht nur, welche Gefühle wie Liebeskummer einen Künstler inspirierten, ein Musikstück zu schreiben, sondern auch, welche persönliche Bedeutung das eine oder andere Stück für die Autorin hat und welche Stimmung oder Emotionen es bei ihr auslöst.
Allein die Musikauswahl und Texte im November haben mir das Tor zu einer spannenden, reichen Musikwelt geöffnet, auch wenn mir nicht alle gleichermaßen gefallen. Ich freue mich auf eine spannende Entdeckungsreise im kommenden Jahr!
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Achtsam durch das Jahr

Von Thich Nhat Hanh habe ich schon so manch inspirierendes Zitat gelesen, doch noch kein Buch. Die Neuausgabe seines Jahresbuchs "Sei liebevoll umarmt" war daher eine willkommene Gelegenheit, mich näher mit dem Zen-Meister und Friedenaktivisten zu beschäftigen. 1982 gründete er "Plum Village", eine buddhistische Gemeinschaft in Südfrankreich und mittlerweile ein internationales Retreatzentrum mit etwa 200 dort lebenden und praktizierenden Mönchen und Nonnen.
Das Buch ist als Begleiter durch ein ganzes Jahr konzipiert und bietet jede Woche die Möglichkeit, eine spirituelle Weisheit näher zu vertiefen. Die Atmung spielt dabei immer wieder eine zentrale Rolle, um sich dem gegenwärtigen Moment zu öffnen und die Einheit zwischen Körper und Geist wiederherzustellen. 
Bemerkenswert ist, dass sich im Alltag genügend Gelegenheiten ergeben, seine Anregungen in die Praxis umzusetzen, zum Beispiel wenn man wieder einmal von Einschlafproblemen gequält wird, sich mit seinem Partner streitet oder einen Wutausbruch hat. Es wird schnell deutlich, dass sich kleine Veränderungen in der eigenen Wahrnehmung oder im Verhalten auch auf größere Dimensionen übertragen lassen und jeder Einzelne zu einer friedlicheren Welt beitragen könnte.
Dinge, die ich im Alltag oft erlebe oder beobachte, beschreibt Thich Nhat Hanh sehr treffend, zum Beispiel dass in unserer Gesellschaft eine Gewohnheitsenergie entstanden ist, die uns ständig antreibt. Nicht nur die klugen Worte, sondern auch die farbenfrohen Landschaftsfotografien und Detailaufnahmen der Natur animieren dazu, unsere Umgebung und die Schönheit unserer Erde bewusst wahrzunehmen und zu schätzen. 
Der Autor zeigt, dass wir durch die Praxis der Achtsamkeit nicht nur mit unseren individuellen Sorgen und Ängsten besser umgehen, sondern unsere Gesellschaft und Zukunft verändern und positiv beeinflussen können. 
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Flucht vor der Familie

Die ersten zwei Teile der Trilogie von Terézia Mora muss man nicht gelesen haben, um in den dritten Band "Auf dem Seil" einzusteigen. Am Anfang des Romans erfährt man in kurzen Rückblicken, was dem Protagonisten Darius Kopp auf seiner langen Reise bisher widerfahren ist. Nun ist er auf Sizilien gelandet, hat endlich einen angemessenen Platz für die Asche seiner verstorbenen Frau gefunden und hält sich in Catania als Pizzabäcker über Wasser. Ungewöhnlich an dem Roman ist, dass die Autorin mitten im Kapitel die Erzählperspektive mehrfach wechselt. So bekommen wir einen tiefen Einblick in Darius' Gedankengänge, der trotz erfüllter Mission immer noch orientierungslos wirkt.
Als unerwartet seine Nichte Lorelei auftaucht, ist Darius einerseits gezwungen, sich erneut mit den Konflikten in seiner Familie auseinanderzusetzen, vor der er geflohen ist. Andererseits lenkt ihn der Teenager von seinen eigenen Problemen ab. Er willigt ein, die 17-Jährige für einige Zeit aufzunehmen und steckt seine ganze Energie in ihr Wohlergehen, da sie schwanger ist und unter permanenten Brechanfällen leidet. Bis dahin zog mich die Geschichte sehr in den Bann. Als die beiden jedoch nach Berlin reisen, verlor ich immer mehr das Interesse an der Handlung. Vielleicht lag es daran, dass auf einmal so viele Personen aus Darius' Vergangenheit auf der Bildfläche erscheinen, die ich nicht einordnen konnte. Hier wäre es vielleicht hilfreich gewesen, die ersten zwei Bände zu kennen. 
Fasziniert hat mich Moras experimenteller Sprachstil, der auf originelle Weise die Innenwelten der verschiedenen Figuren beleuchtet. Für den Protagonisten, der ständig in das Leben anderer hineingerissen wird, statt selbst Fuß zu fassen, entwickelt man ein gewisses Mitgefühl. Meine hohen Erwartungen hat die Autorin des großartigen Erzählbands "Die Liebe unter Aliens" dennoch nicht erfüllen können.
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Von Stalkern, Bürgerpflichten und Kartoffelchips

Stärken und Schwächen – ein interessanter Gegensatz, den Peter Coon in seinem dritten Kurzgeschichten-Band "Mama hält mich fest, wenn ich lache" als zentrales Thema gewählt hat. Interessant deshalb, weil gerade die vermeintlich Schwachen oftmals ungeahnte Stärken entwickeln können, wie die Kurzgeschichte "Stark sein ist Bürgerpflicht" zeigt. Die Protagonistin Helen, die sich an ihrem Geburtstag erneut dem Willen ihres Partners gebeugt hat und mit dem Wagen auf den nahegelegenen Berg gefahren ist, statt zu Fuß zu gehen, fasst auf dem Gipfel den Entschluss, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihren eigenen Weg zu gehen. Ich war beeindruckt, wie gut sich der Autor in die Gefühle einer Frau hineinversetzen und sie so eindringlich beschreiben kann.
Mir gefallen seine starken Metaphern: In der genannten Geschichte ist es die Gebirgswelt, auf die Helens Lebenssituation projiziert wird; In einer anderen sind es zwei Einkaufswägen in einem Supermarkt mit völlig unterschiedlichen Inhalten, die die Wahl zwischen aufregendem Nervenkitzel und solider Partnerschaft symbolisieren. Neben Beziehungen knöpft sich Peter Coon auch brisante Themen vor. In "Tor der Tränen" beschreibt er eine qualvolle Befragung, die ein Flüchtling erleiden muss und entwirft in "Kartoffelchips" ein Zukunftsszenario, in dem Bäume und Gräser zu einer Rarität geworden sind. 
Sein Erzählton ist sehr vielseitig – mal witzig und frech, mal satirisch und bissig, mitunter auch einfühlsam und warmherzig, wie in der titelgebenden Story, die mich sehr berührt hat. Mit wenigen Ausnahmen haben mir die abwechslungsreichen Erzählungen großes Lesevergnügen bereitet. Am kommenden Freitag, den 22. November um 20 Uhr, stellt Peter Coon sein Buch in der EFG Oberdorf in Witten vor.
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Hommage an die Grand Central Station

Der Titel war es nicht, der meine Neugier auf den Roman "Wege ihrer Sehnsucht" weckte. Vielmehr reizte mich der Mix aus Themen und Schauplätzen, die mich alle gleichermaßen ansprachen: New York in den 1920er und 1970er Jahren, die Grand Central Station, eine Kunstschule und zwei starke Frauenfiguren. 
Wie so oft spielt auch diese Geschichte auf zwei Zeitachsen, die sich aufeinander zubewegen. Im Jahr 1928 unterrichtet Clara Dayden Illustration in Grand Central School of Art im Grand Central Station und ist fest entschlossen, als Illustratorin Karriere zu machen. 46 Jahre später verirrt sich Virginia Clay, die seit kurzem am Informationsschalter des Grand Central Terminals arbeitet, in die ehemaligen Räume der Kunstschule und entdeckt ein Aquarell, dessen Herkunft nicht eindeutig ist. Das Bild übt eine magische Wirkung auf sie aus und gibt ihr so viel Kraft, um ihre aktuelle Lebenskrise zu bewältigen, dass sie Nachforschungen anstellt. Die Spur führt zu der einst gefeierten Künstlerin Clara Dayden, die seit einem Zugunglück im Jahr 1931 als verschollen gilt.
Die Autorin baut auf diese Weise einen Spannungsbogen auf und stellt dabei immer wieder die Charaktere, Schicksale und frappierenden Gemeinsamkeiten der beiden Protagonistinnen gegenüber. Trotz der tiefen Demütigungen, die beide Frauen erlitten haben, und der schwierigen Lebensumstände, zeigen sie eine enorme Willenskraft und Wagemut. 
Mit großem Interesse habe ich die Diskussionen über Kunst versus Gebrauchsgrafik, den steilen Aufstieg und plötzlichen Absturz von Künstlerkarrieren und die Machenschaften im Kunsthandel verfolgt. Das rasante Erzähltempo, die Dramaturgie und das erzählerische Talent von Fiona Davis, die sich von wahren Begebenheiten zu der Geschichte inspirieren ließ, machen das Buch zu einem wahren Pageturner. Der Roman ist zugleich eine Hommage an die Kunst und an den Grand Central Station, dessen einstiger Glanz und besondere Bedeutung und Atmosphäre zum Leben erweckt werden.
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Friends with benefits

Nachdem mich „Gespräche mit Freunden“ so begeistert hat, war ich sehr gespannt auf den zweiten Roman „Normal People“ von Sally Rooney, der noch nicht auf Deutsch erschienen ist. Auch wenn die Geschichte diesmal in einer Schule in Galway, später im Trinity College in Dublin spielt, bestehen gewisse Ähnlichkeiten zwischen den zwei Romanen.
Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen den Schülern Marianne und Connell, die aus unterschiedlichen Klassen stammen. Man weiß nicht so recht, wie man dieses Verhältnis definieren soll: Sind sie nur 'Friends with Benefits' oder steckt mehr dahinter? Obwohl sie sehr viel Zeit miteinander verbringen und viel miteinander reden, sind sie nicht in der Lage, ihre wahren Gefühle zu zeigen und offen miteinander umzugehen. Meistens ist es Connell, der sich auf seine unbedarfte Art zu unüberlegten Handlungen verleiten lässt und dadurch Mariannes Gefühle verletzt. Sie zieht sich daraufhin zurück und einige Monate später ist wieder alles beim Alten. Dieses Muster wiederholt sich mehrmals, so dass man im Gegensatz zu Rooneys ersten Buch nicht von einem Entwicklungsroman sprechen kann.
Ich war enttäuscht, dass die Geschichte mehr oder weniger dahinplätschert. Auch die Figuren und ihr paradoxes Verhalten konnten mich nicht überzeugen. Gefallen haben mir dagegen Rooneys treffende Formulierungen und einfallsreichen Metaphern.
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Künstlerbriefe aus fünf Jahrhunderten

Im Zeitalter von WhatsApp und Twitter sind sie ziemlich in Vergessenheit geraten: hand- oder maschinengeschriebene Briefe. Knapp hundert dieser raren Exemplare kann man sich in dem Band "Letters of art" von Michael Bird zu Gemüte führen. Sie stammen allesamt von Künstlern und wurden zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert verfasst. Der Originalbrief wird jeweils auf der linken Seite als Reproduktion gezeigt und auf der gegenüberliegenden Seite durch einen Kommentar zeitlich eingeordnet und erläutert. Besonders für die Transkription kann man sehr dankbar sein, da so manche Handschrift kaum zu entziffern ist. 
Es ist erstaunlich, wieviel Themen ein kurzer Brief anreißen kann, wie das Beispiel von Dalí zeigt. Im September 1939 lud der Maler seinen Freund Paul Éluard und dessen Frau in eine gemietete Villa in Arcachon ein. In den wenigen Zeilen erfahren wir, dass er die Küstenstadt im Südwesten Frankreichs nach Ausbuch des Krieges nicht nur für den idealen Zufluchtsort hielt, sondern auch wegen der köstlichen Austern schätzte und es kaum abwarten konnte, sich mit Éluard fachlich auszutauschen.
Andere Briefe verraten Hintergründe über das künstlerische Schaffen des Verfassers, zum Beispiel über die Entstehungsgeschichte der Peter Rabbit Bilderbuchserie von Beatrix Potter oder der Serie "Nine Discourses on Commodus" von Cy Twombly. Der Briefwechsel zwischen Pablo Picasso und Jean Cocteau macht Lust, mehr über ihre gemeinsame Theatergeschichte und die Ballets Russes zu erfahren. 
Die Tonalität der Briefe ist so unterschiedlich wie die Themen, um die es in den Briefen geht: Finanzielle Nöte, Kollegialität und Rivalität, Freundschaft und Liebe. Die Inhalte reichen von eher belanglosen Beschreibungen körperlichen Befindens über existenzielle Krisen und Liebeserklärungen bis hin zum feministischen Manifest. Studiert man die Handschrift und die Art des gewählten Papiers genauer, fühlt man sich dem Künstler sehr nahe und hat fast das Gefühl, in seine Privatsphäre einzudringen. Besonders gefallen haben mir die Skizzen und hübschen Illustrationen, die manche Briefe zieren.
Das Konzept dieses Buches finde ich sehr originell, doch ganz einfach war die Lektüre nicht. Zum einen ist der Text in sehr kleiner Schrift gedruckt, zum anderen fiel es mir schwer, immer wieder in eine andere Epoche, ein anderes Genre und Setting hineinzufinden und von einer Momentaufnahme zur nächsten zu wechseln. Statt es chronologisch zu lesen wie ich es getan habe, empfiehlt sich wohl eher, nach Lust und Laune darin zu schmökern und sich genügend Zeit für die Lektüre zu nehmen.
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Das Leben danach

Wer dem Tode nahe war, sieht seine verbleibende Lebenszeit mit ganz neuen Augen. So ergeht es Jim Byrd, Held des Romans „The Afterlives“ („Die Leben danach“) von Thomas Pierce, der in einer vergreisten Kleinstadt in den Südstaaten lebt. Mit 33 erleidet der Kreditberater einen kurzzeitigen Herzstillstand und bekommt ein HeartNet, einen hoch entwickelten Defibrillator, implantiert. Einerseits ist er dankbar für die zweite Chance auf ein Leben, andererseits ständig in Angst, dass das Gerät explodieren könnte. Regelmäßig checkt er auf seiner Handy-App, ob sein Herz noch schlägt.
Als Jim geschäftlich das Restaurant Su Casa Siempre aufsucht, tritt eine weitere zweite Chance in Erscheinung – in Form von Annie, seiner Jugendliebe. Auch Annie macht sich viele Gedanken über das Leben und den Tod, zumal sie ihrem Mann Anthony auf tragische Weise verloren hat. Als Jim und Annie von der Restaurantbesitzerin erfahren, dass es neben der Wendeltreppe spukt, stellen sie auf eigene Faust Nachforschungen und kommen sich dabei näher.
Was passiert, wenn man einen geliebten Menchen verliert? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Um diese Fragen kreist diese Geschichte und konfrontiert uns nicht nur mit philosophischen und religiösen Gedanken, sondern auch mit möglichen Zukunftsszenarien. Wird Annie eine High-Tech-Maschine nutzen, um ihren verstorbenen Mann wiederzusehen? Welche Auswirkungen wird dies auf ihr Leben haben? Über der ganzen Handlung schwebt immanent die Frage, ob Jim all diese Dinge tatsächlich erlebt oder sich nur einbildet. Leider hat der Roman im Mittelteil einige Längen, doch insgesamt hat er mich dank dem Humor von Thomas Pierce gut unterhalten und zum Nachdenken angeregt.
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Fatale Freundschaft

Nachdem mich der Roman „Martini für drei“ von Suzanne Rindell so begeistert hat, musste ich unbedingt ihren Vorgängerroman „The Other Typist“ („Die Frau an der Schreibmaschine“) lesen. Auch diese Geschichte spielt in New York, jedoch nicht in den 1950er, sondern 1920er Jahren, als in den USA die Prohibition herrschte.
Ich-Erzählerin Rose Baker arbeitet als Stenotypistin im New York City Police Department, tippt gewissenhaft Augenzeugenberichte und Geständnisse und führt ein geregeltes, unspektakuläres Leben. Alles ändert sich, als eine neue Schreibkraft eingestellt wird. Odalie Lazarett ist das komplette Gegenteil von Rose: glanzvoll, aufreizend, vergnügungssüchtig und mysteriös. Rose ist so fasziniert von ihr, dass sie heimlich ihre Aktivitäten notiert. Es dauert eine Weile, bis sie sich anfreunden, doch dann werden sie unzertrennlich. Rose zieht zu Odalie, die in einem luxuriösen Hotel wohnt, und wird in das aufregende Nachtleben in Clubs und illegalen Flüsterkneipen eingeführt.
Besonders interessant fand ich, wie Rose durch die Begegnung mit Odalie ihre Identität und Moralvorstellungen immer mehr in Frage stellt. Durch ihre neue Freundin lernt sie völlig neue Frauentypen und Lebensformen kennen und gerät immer stärker in ihren Bann. Da Rose die Geschichte rückblickend erzählt, macht sie immer wieder Andeutungen, die einen fatalen Ausgang erahnen lassen. Mir gefiel die Art und Weise, wie sie den Leser ins Vertrauen zieht, ihr Verhalten reflektiert und versucht, es zu rechtfertigen. 
Die Handlung fand ich nicht ganz konsistent und auch die Spannung kommt nicht an ihr aktuelles Buch heran. Die gelungene Charakterisierung der verschiedenen Frauenfiguren und Rindells sprachliche Finesse machen den Roman trotzdem lesenswert. 
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Ein Fußmarsch ins Nichts

Das Schöne an Büchern ist, dass man Dinge 'erleben' kann, die einem im realen Leben zu gefährlich, zu verrückt oder zu strapaziös sind. Letzteres trifft sicher auf den Erfahrungsbericht "Meine Suche nach dem Nichts" zu. Die Journalistin, Japanologin und Japankennerin Lena Schnabl schildert darin ihren über tausend Kilometer langen Marsch auf dem japanischen Pilgerweg rund um die Insel Shikoku.
Auslöser war eine längere Krankheit, die sie zu Beginn sehr ausführlich schildert, so dass ich schon ein wenig ungeduldig wurde, wann die Pilgerreise endlich beginnt. Eine Strecke, die an 88 Tempeln vorbeiführt, stellte ich mir sehr idyllisch und naturnah vor, doch schnell wurde ich eines Besseren belehrt. Ein Großteil der Strecke ist asphaltiert und führt mitunter durch stickige Tunnel, wo die Pilgerin vorbeirauschenden LKWs ausweichen muss. Auch die Begegnungen mit Einheimischen und anderen Pilgern ist nicht immer angenehm, besonders wenn man in eine Unterkunft gerät, die es auf allein reisende Frauen abgesehen hat. 
Von romantischer Verklärung also keine Spur, dafür lässt uns Lena Schnabl den Marsch durch verlassene Gegenden bei sengender Hitze, den mühsamen Auf- und Abstieg von Bergen, die entspannenden Momente in einem Onsen oder den Genuss verschiedenster Snacks aus den Convenience Stores, den Combinis, hautnah miterleben. Sie gibt auch Einblick in typisch japanische Eigenschaften wie die Koketterie, erläutert sprachliche Eigenheiten und verschiedenen Legenden wie die über Winkekatzen, so dass nicht nur Pilger-, sondern auch Japaninteressierte auf ihre Kosten kommen. 
Spannend fand ich nicht nur ihre Eindrücke und Erlebnisse während der einzelnen Etappen, die sie auch fotografisch festgehalten hat, sondern auch ihre philosophischen Gedanken über das Leben und über sich selbst und ihre Veränderung. Die permanenten körperlichen Schmerzen und Erschöpfungszustände zwingen sie, ihren Körper neu kennenzulernen und ihre Grenzen auszuloten. Eine wertvolle Erkenntnis, die ich aus diesem Buch gewonnen habe, lautet: Es gibt kein Erreichen. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass man ständig Dinge, ob Routineaufgaben oder große Projekte, zum Abschluss bringen möchte, und allmählich begreift, dass man sich in einem ewigen Kreislauf befindet, in dem nur der gegenwärtige Moment von Bedeutung ist – ähnlich wie dieser Pilgerweg, der in Tokushima von neuem beginnt.
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Grenzen überwinden

Wer die letzten Romane von Jan-Philipp Sendker gelesen hat, weiß, dass Burma und die Magie des Geschichtenerzählens bei ihm eine zentrale Rolle spielen. So ist auch sein jüngster Roman "Das Gedächtnis des Herzens" eine Erzählung in einer Erzählung, die in Burma spielt. Der zwölfjährige Ko Bo Bo, der bei seinem Onkel U Ba in dem Dorf Kalaw lebt, lässt sich von ihm eine Geschichte erzählen, die nicht nur von der Macht der Liebe handelt, sondern auch ein Familiengeheimnis lüftet.
Nicht nur der Junge, auch als Leser brennt man darauf, mehr über seine Mutter Julia zu erfahren – eine Halbburmesin, die dem stressigen Leben als Anwältin in New York entfloh und, ihren familiären Wurzeln folgend, ein Kloster in Hsipaw aufsuchte. Dorte lernt sie den Mönch Thar Thar kennen und lieben. Beide kommen in die Lage, sich auf eine völlig andere Welt einzulassen: zunächst Julia im Kloster, wo Thar Thar zahlreiche hilfsbedürftige Kinder in seine Obhut genommen hat; später Thar Thar, der ihr nach New York folgt und einen Kulturschock erlebt.
Ihre gegenseitige Liebe scheint stark genug zu sein, um die massiven Unterschiede in ihren Sichtweisen und Gewohnheiten zu überwinden. Was ihrer Liebe vielmehr im Weg steht, sind ihre Ängste. Während Thar Thar in ständiger Angst lebt, er könne Julia verlieren, fürchtet sie sich vor der Unwägbarkeiten im burmesischen Alltag. 
Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive des Jungen und des Onkels erzählt und bringt damit einen interessanten Kontrast hinein zwischen der kindlichen Neugier und dem Unverständnis gegenüber dem Verhalten der Erwachsenen einerseits und den Weisheiten des Onkels andererseits. Jan-Philipp Sendker beschäftigt sich vor allem mit der Frage, inwieweit die Liebe zwischen zwei Menschen Grenzen überwinden kann und gibt gleichzeitig einen interessanten Einblick in die burmesische Kultur und politischen Konflikte.
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Ausbruch aus dem goldenen Käfig

"Was für ein Typ Frau bin ich?" Diese Frage stellte man sich im 19. Jahrhundert nicht. Edna Pontellier, Heldin des Romans "Das Erwachen" von Kate Chopin, tut es dennoch. Auf Grand Isle, einem Badeort in Louisiana, wo sie mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und wohlhabenden Familien aus New Orleans die Ferien verbringt, spürt sie mehr denn je, dass sie anders ist als die übrigen Frauen, die sich nur über die Rolle der Mutter, Ehefrau und Gastgeberin definieren. Verstärkt werden ihre Selbstzweifel durch den Sohn der Pensionswirtin Robert Lebrun, der in ihr zum ersten Mal das Gefühl des Begehrens weckt. 
Edna erkennt immer deutlicher ihre Beziehung als Individuum zur Welt und wird empfänglicher für Impulse außerhalb ihres Heims. Sie legt ihre stillschweigende Unterwürfigkeit gegenüber ihrem Mann ab, sagt offen, was sie denkt, verstößt gegen gesellschaftliche Regeln und gibt sich immer mehr dem Rausch des Lebens hin. Die Art und Weise, wie ihre Selbstfindung geschildert wird, ist ein literarisches und dramaturgisches Kunstwerk. Kate Chopin verwendet viele doppeldeutigen Symbole, die Ednas Innenleben nach außen spiegeln. Auf Grand Isle lernt sie schwimmen, ein Bild für ihr Freiheitsgefühl und ihre Unabhängigkeit; später wird sie gewarnt, dass sie starke Flügel braucht, um dem goldenen Käfig zu entfliehen.
Interessant fand ich den Kontrast zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung und die der anderen: Sie spürt, wie sie immer mehr sie selbst wird, während ihr Mann klagt, dass sie nicht mehr sie selbst ist. Edna scheint das zu tun, was manch andere Frau sich insgeheim wünscht, aber nicht einmal traut, es auszusprechen, geschweige denn, es in die Tat umzusetzen. Ganz typisch reagiert der Arzt der Familie, der Ednas anstößiges Verhalten als vorübergehende Laune abtut. 
So vieles an dieser Geschichte hat mich im Innersten berührt: die Figur der mutigen Edna und ihre Versuche, sich von gesellschaftlichen Verpflichtungen zu befreien und sich ein eigenes Leben als Malerin aufzubauen, Kate Chopins zauberhafte Sprache und die authentische Schilderung der Gepflogenheiten in der feinen kreolischen Gesellschaft. Ich wünsche diesem Klassiker, der in überarbeiteter Übersetzung und einer edlen Neuausgabe erschienen ist, viele Leserinnen und Leser. 
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Vier Brüder und ein Vermächtnis

"Die Vergangenheit soll man ruhen lassen." Diesen Spruch bekommen Johannes, Philipp, Jakob und Simon oft von ihrem Großvater zu hören. Klar, dass die vier Brüder und Helden des Romans "Dreck am Stecken" nun erst recht wissen wollen, was ihr Opa zu verbergen hat. Als dieser stirbt und ihnen eine Kiste mit Dokumenten, Fotos und einem Tagebuch hinterlässt, bringt er die Geschichte erst richtig ins Rollen.
Die Autorin erzählt abwechselnd auf zwei Zeitebenen, die sich aufeinander zubewegen. Auf einer Ebene erfahren wir, wie die vier Jungs in Hamburg aufwachsen und allerlei Unfug anstellen, auf der anderen, wie sie gemeinsam ihrer Familiengeschichte auf den Grund gehen. Die Spur führt nach San Miguel de Tucumán in Mexiko, wo sich ihre Großmutter abgesetzt hat und mit ihren Enkelkindern nichts zu tun haben will.
Alexander Fröhlich erzählt die Geschichte aus der Sicht des ältesten Bruders Johannes und in einer herrlich schnodderigen Sprache. Wie die vier Brüder trotz ihrer völlig unterschiedlichen Charaktere und ständigen Auseinandersetzungen zusammenhalten und auf diesem Roadtrip enger zusammenwachsen, ist fast berührend. Der Roman ist ein Mix aus Familiengeschichte und Tragikomödie, hinter dem sich ernste Themen wie schwierige Kindheit, Demenz, ein dunkles Kapitel der Geschichte, Schuld und Verantwortung verbergen. Trotz einiger Klischees und Stereotypen eine insgesamt unterhaltsame Lektüre. 
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Stimmen und Klänge einer Stadt

Ich war noch nie in Oslo, doch nach der Lektüre von "Die Spuren der Stadt" kommt es mir so vor, als hätte ich einige Wochen dort verbracht – und das obwohl die Geschichte in der Nachkriegszeit spielt. Dabei lernte ich die Stadt auf eine besondere Weise kennen, und zwar aus der Sicht verschiedener Charaktere. Dazu zählt beispielsweise der siebenjährige Jesper Kristoffersen, der sich mit dem schwerhörigen Sohn des Schlachters anfreundet und Klavierstunden nimmt. Seine Mutter engagiert sich beim Roten Kreuz, während sein Vater an einer Ausstellung zum 900-jährigen Stadtjubiläum arbeitet.
Wir lernen die Sehnsüchte und Sorgen weiterer Bewohner kennen wie die eines Pianisten, eines Arztes oder einer Witwe, deren Wege sich in dem Roman kreuzen. Dabei gelingt es Lars Saabye Christensen, fließend von der Perspektive einer Figur zur nächsten zu wechseln und uns durch ihre Schicksale zu navigieren, wobei der Fokus auf den hochsensiblen Jesper liegt. Er ist buchstäblich so nah an den Figuren, dass man das Gefühl hat, man begleite sie auf dem Weg zur Schule, zur Kirche oder in den Park. Dabei nutzt der Autor jede Gelegenheit, um Straßen, Plätze, Geschäfte oder Lokale genauestens wiederzugeben, selbst die wechselnden Stimmungen in der jeweiligen Jahreszeit. Nicht nur Bilder, sondern auch Geräusche und Töne spielen eine wichtige Rolle.
Nach leichten Anlaufschwierigkeiten tauchte ich immer mehr in diesen Kosmos ein, den Christensen mal melancholisch, mal poetisch, mal äußerst humorvoll beschreibt. Sehr amüsant fand ich die Szene, in der die Familie Kristoffersen ganz aus dem Häuschen ist, weil sie ihr langersehntes Telefon bekommen und angestrengt überlegen, wen sie als erstes anrufen könnten. Jedes Kapitel endet mit dem Protokoll einer Sitzung des Roten Kreuzes, was einen guten Einblick in die Nöte der Stadt gibt, mit der Zeit aber auch etwas ermüdend ist. 
Man sollte sich Zeit nehmen für die knapp fünfhundert Seiten, auf denen sich zwar nicht viel ereignet, die uns jedoch dank Christensens besonderer Ausdruckskraft und scharfer Beobachtungsgabe eine interessante Milieustudie und eine lohnenswerte Lektüre beschert.
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Marketers are farmers, not hunters

Wie hat sich doch die Art des Marketings seit den 1960er Jahren verändert. Wie die beliebte Serie „Mad Men“ zeigt, assoziierte man damals den Begriff Marketing mit riesigen Werbeetats. Es galt, ein möglichst großes Publikum für ein neues Produkt zu begeistern und zum Kauf zu animieren. 
Heute bedeutet Marketing etwas ganz anderes, erklärt Seth Godin in seinem aktuellen Buch „This Is Marketing“. Das Ziel sei eine positive Veränderung, die man in fünf Schritten erreicht. Vereinfacht lassen sich die Schritte folgendermaßen beschreiben: 
1) Ein Produkt erfinden, das einen nennenswerten Beitrag für die Menschen leistet
2) Es so designen, dass zunächst eine kleine Zielgruppe besonderen Nutzen davon hat
3) Eine Geschichte zu dem Produkt erzählen, die die Träume dieser Gruppe zum Ausdruck bringt
4) Immer mehr Menschen für das Produkt bzw. die Idee begeistern und eine Community schaffen
5) Dranbleiben und das Vertrauen und Verbundenheitsgefühl dieser Community festigen
Früher ging es vor allem darum, Bedürfnisse zu schaffen; Heute ist es wichtiger, Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen, sei es Sicherheit, Zugehörigkeit, Bequemlichkeit, Status oder Abenteuerlust. Das Produkt oder die Dienstleistung soll dem Menschen helfen, seinen Traum zu verwirklichen. Unter diesem Blickwinkel sehe ich doch Gemeinsamkeiten zwischen der Werbung früher und heute: Man vermittelt dem Nutzer das Gefühl, das er durch das spezielle Produkt oder eine Dienstleistung zu der Person werden kann, die er sein möchte.
Der wesentliche Unterschied, so betont auch der Autor, liegt darin, dass man heutzutage bereits mit einer kleinen Gruppe, auf die die Geschäftsidee speziell zugeschnitten ist, beginnen kann. Wenn es einem gelingt, diese „tribe“ so zu begeistern, dass sie das Produkt weiterempfiehlt, immer mehr Interessenten anzieht und Anhänger findet, kann man von einem erfolgreichen Marketing sprechen. 
Von Seth Godin habe ich schon mehrere Bücher gelesen, so dass manche Inhalte für mich nicht neu waren. Trotzdem hat sich die Lektüre für mich gelohnt, weil das Buch die Essenz wiedergibt, was der Autor unter erfolgreichem Marketing versteht und welche konkreten Schritte dafür notwendig sind.
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Wunderbar illustrierter Streifzug durch Japan

Ein Japan-Guide aus der Feder eines italienischen Duos ist ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher ist die Art und Weise, wie uns Marco Reggiani, der in Tokio Architektur studierte und sich dort mit urbanen Räumen beschäftigt, das Land näher bringt. In dem Band "Japan. Der illustrierte Guide" hat er hundert Schlüsselthemen, gegliedert in sieben Kapiteln, zusammengestellt und von Sabrina Ferrero illustrieren lassen.
Die Lektüre erlebt man wie eine abenteuerliche Reise, die in Tokio beginnt, quer durch Japan führt und uns nicht nur verschiedene Sehenswürdigkeiten, sondern auch japanische Gepflogenheiten, Kultur, Küche, Produkte und Feste vorstellt. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, kenne aber das Land durch meine Eltern, Verwandten und regelmäßigen Reisen sehr gut. In den Illustrationen erkannte ich so viele Stadtviertel und Details wieder, hatte das Gefühl erneut durch die Straßen zu streifen und die Menschenmengen, Geräusche und Gerüche zu spüren. Nicht nur Menschen, Städte und typische japanische Gerichte, auch Naturlandschaften wie die Bambushaine von Kyoto, der von Kirschbäumen gesäumte Philosophenweg oder der Biwa-See sind so lebendig gezeichnet, dass sie Lust machen, dorthin zu reisen. 
Die Themensammlung und die Kommentare zeigen tiefe Kenntnisse, da Marco Reggiani auch auf Aspekte wie die Rolle von Berufskleidung, Schutzmaßnahmen vor Erdbeben oder das Verhalten in U-Bahnen eingeht. Er gibt damit nicht nur Einblick in die traditionellen Sitten und Alltagsbräuche, sondern auch ein sehr treffendes Bild, wie die Japaner ticken und was ihnen wichtig ist. Die Kombination von Kurztexten und doppelseitigen Illustrationen sowie die grafische Umsetzung sind so gelungen, dass es ein wahres Vergnügen ist, in dem Band zu schmökern. Dass die Texte sprachlich sehr einfach gehalten sind, hat mich kaum gestört. Leider haben sich mehrere grammatikalische Fehler eingeschlichen.
Tokio wird nächstes Jahr als Austragungsort der Olympischen Spiele viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wer sich im Vorfeld mit dem Land vertraut machen möchte, dem ich kann ich dieses Buch wärmstens empfehlen. 
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Auf den Spuren der Fontane-Frauen

Anlässlich seines 200. Geburtstages rückt der Schriftsteller Theodor Fontane dieses Jahr stärker ins Blickfeld. Während in seinen Romanen Frauen eine zentrale Rolle spielen, sind sie in seiner Chronik „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ eher Randfiguren. Die Fontane-Forscher Gabriele Radecke und Robert Rauh wollten der Sache auf den Grund gehen und haben in ihrem Auswahlband „Wundersame Frauen“ elf Frauenporträts aus diesem Werk zusammengestellt und sie durch einführende Kommentare und Hintergrundinformationen ergänzt.
Sie stellen fest, dass wir manche Porträts in erster Linie Fontanes Interesse für die männlichen Zeitgenossen zu verdanken haben, zum Beispiel das der Gutsherrin Karoline de La Roche-Aymon, deren karitatives Engagement und Katholizismus der Dichter besonders hervorhebt. Bei Helene Charlotte von Friedland, die als Vorreiterin einer modernen und nachhaltigen rationellen Land- und Betriebswirtschaft galt, vermissen sie eine angemessene Würdigung ihrer Erfolge und Verdienste. Die Einführungstexte der Herausgeber gaben mir nicht nur Einblick in die Entstehungsgeschichte, sondern regten auch dazu an, mich mit kritischem Blick Fontanes Texten anzunähern.
Ich fragte mich, warum der Chronist Königin Luise von Preußen nicht porträtierte, ihrem Denkmal jedoch ein Unterkapitel widmete, und las schmunzelnd, wie es Julie von Voß, die Mätresse Friedrich Wilhelms II., von einer Fußnote in den Haupttext schaffte. In diesem Band lernte ich nicht nur einen illustren Reigen von Schauspielerinnen, Mätressen und Kaffeehausbetreiberinnen, sondern auch ihre Wirkungsstätten und zentralem Schauplätze wie die Pfaueninsel, die Ruppiner Schweiz oder Köpernitz kennen, so dass ich Fontanes Reisestationen und dortigen Begebenheiten bildlich vor Augen hatte.
Das Buch stellt sehr unterschiedliche Frauenschicksale vor und macht Lust, über einige Persönlichkeiten wie die exzentrische Schauspielerin Élisa Rachel Félix oder die Inselwirtin Elisabeth Friedrich mehr zu erfahren.
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Mut zum Abenteuer

Manchmal braucht es nur einen kleinen Schubs, um seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Bei Anika Landsteiner war es der unerwartete Anruf einer fremden Frau. Die 84-jährige Emma bat sie, ihre Lebensgeschichte zu Papier zu bringen. Daraus entwickelte sich nicht nur eine Freundschaft, sondern inspirierte die Schriftstellerin auch, über ihr eigenes Leben nachzudenken und ihre langgehegten Wünsche und Ängste aufzulisten.
Sieben Herausforderungen pickte sie sich schließlich heraus und schildert in ihrem Buch „Leben wird aus Mut gemacht“, wie sie diese in einem Jahr bewältigte. Sie erforschte zum Beispiel ihre Ahnen und erstellte einen Familienstammbaum, reiste nach Indonesien, um ihre tiefsitzenden Ängste vor dem Tod zu verlieren und besuchte das Festival ‚Burning Man’ in den Wüsten Nevadas. Wie schwer es ihr dabei fiel, als Reisebloggerin und Instagram-Fan dem Drang zu widerstehen, ihre Erlebnisse zu dokumentieren und zu fotografieren, konnte ich nur zu gut nachempfinden.
Eine interessante Dynamik entsteht dadurch, dass sie zwischendurch Emma zu Wort kommen und ihre Lebenserfahrungen und Ansichten zu den verschiedenen Themen einfließen lässt. Das gibt ihrem eigenen Erfahrungsbericht einen neuen Blickwinkel und zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch persönliche und generationsbedingte Unterschiede.
Mir gefiel nicht nur der flüssige Schreibstil der Autorin, sondern auch, wie offen sie ihre Gefühle schildert, mal euphorisch, mal staunend, mal selbstkritisch. Der Aufenthalt in einem Ashram zum Beispiel lehrte sie, dass man sich nicht einfach zurücklehnen und darauf warten kann, dass etwas Magisches passiert, sondern dass für eine bereichernde Lebenserfahrung viel Eigenleistung erforderlich ist. Bewundert habe ich ihren Entschluss, eine Brieffreundschaft mit einem zum Tode verurteilten Mann zu führen. Mut ist ein Thema, an dem ich selbst noch stark arbeiten möchte - umso mehr haben mich die sieben Abenteuer von Anika Landsteiner inspiriert und gezeigt, wie gestärkt man aus solchen Erfahrungen hervorgeht.
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Freiheit ist nie umsonst

Deborah Levy ist sicher nicht die erste, die über eine zerbrochene Ehe schreibt, doch sie tut es auf eine ganz besondere Art. Es geht um ihre eigene Trennung, die sie mit Anfang 50 durchlebt hat und im zweiten Teil ihrer Memoiren "The Cost of Living" ("Was das Leben kostet") beschreibt. 
Ihre Trauer ist allgegenwärtig. Während sie darüber nachdenkt, warum ihre Ehe gescheitert ist, schweifen ihre Gedanken zu allgemeinen Themen wie die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Ein Bild, das sie mehrmals heraufbeschwört, ist das Zuhause, in das sie all die Jahre viel Arbeit und Energie hineingesteckt hat, damit sich die Familie darin wohlfühlt. Umso schmerzvoller ist es für sie, ein einst funktionierende Zuhause aufzulösen – so als würde sie eine Küchenuhr aufbrechen, die Zeuge so vieler Familiengeschichten war. 
Ihre Schilderungen sind sehr pointiert und voller Metaphern. Das neue E-Bike, mit dem sie durch London düst, dient dazu, ihre Wut zu kanalisieren. Der Druck, für ihre beiden Töchter ein neues Leben aufbauen zu müssen, setzt ungeahnte Kräfte in ihr frei. Ihre Energie und ihre Erkenntnis, dass sich alles, was passiert, allmählich richtig anfühlt, übertragt sich auch auf den Leser. Nebenbei erzählt sie von seltsamen Männern, die ihre Frau nie namentlich nennen oder sich mit ihnen unterhalten, ohne ihnen in die Augen zu sehen. Allerdings tut Deborah Levy das völlig wertfrei und überlässt den Lesern, sich eine eigene Meinung zu bilden. Die äußerst sympathische und talentierte Schriftstellerin ist für mich eine tolle Neuentdeckung.
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Schreiben ist Alchemie

Ich staune immer wieder, wieviele in meinem Freundeskreis, die sich gern kreativ und künstlerisch betätigen, das Buch „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron gelesen haben. Weniger bekannt scheint ihr Werk „The Right To Write“ zu sein. Auch hier hat Cameron wieder einen ganzheitlichen Blick und wendet sich nicht nur an Hobby- und professionelle Schriftsteller, sondern an alle, die durch das Schreiben ihr Leben bereichern wollen.
Allen, die davor zurückschrecken, weil sie glauben, ihnen fehle die Zeit oder das Talent, rät sie gleich zu Beginn „Keep writing casual“. Man solle keine große Sache daraus machen, sondern einfach regelmäßig schreiben aus schierer Freude daran und nicht, weil man jemanden beeindrucken oder ein Buch veröffentlichen will. Neu für mich war die Ansicht, dass harte Disziplin gar nicht vonnöten ist – im Gegenteil, sie könne zu viel Druck erzeugen und die Fantasie hemmen.
Besonders gut gefiel mir ihr Rat, seine geschriebenen Texte mit einem geliebten Partner zu vergleichen, der seine guten und schlechten Tage hat, der einen mal enttäuscht, mal völlig überrascht und begeistert. An einer anderen Stelle vergleicht sie das Schreiben mit einer Liebesaffäre, die man so lange wie möglich genießt, aber auch jederzeit beenden kann. Solange wir regelmäßig schreiben, kann unsere Schreiberei auf kleiner Flamme vor sich hin köcheln, immer mehr reifen und an Würze und Geschmack gewinnen. Ehrlichkeit, Beobachtungsgabe und Fantasie zählt Cameron dabei zu den wichtigsten Zutaten. 
Sie stellt außerdem ein Paradox fest: Je persönlicher, genauer und fokussierter wir schreiben, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Resonanz bei den Lesern auslösen, weil Menschen ähnliche universelle Erfahrungen machen. Jedes Kapitel endet mit einer praktischen Schreibübung, so dass man sich von den zahlreichen Ideen und Anregungen nicht nur inspirieren lassen, sondern sie gleich in die Praxis umsetzen kann.
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Die geheime Choreografie des Lebens

Je älter man wird, desto mehr interessiert einen doch die Frage, ob es tiefere Zusammenhänge in seinem Leben gibt. Mit diesem Thema beschäftigt sich auch Susanne Hofmeister, Ärztin mit Schwerpunkt Anthroposophische Medizin und Biographischer Coach. In ihrem Buch „Mein Lebenshaus hat viele Räume" stellt sie ihre eigene Methode der Biografiearbeit vor, die die einzelnen Lebensabschnitte als Jahrsiebte betrachtet und sie in ihrer Aufgabe für das Leben beschreibt. 
Anschaulich wird das Ganze durch das Bild des Lebenshauses, in dem jedes Jahrsiebt einen Raum einnimmt – vom Erdgeschoss über die Beletage bis zum Dachatelier und schließlich zur Dachgaube. Kapitel für Kapitel nimmt uns Susanne Hofmeister mit auf eine Reise durch die einzelnen Räume, fordert uns auf, Erinnerungen aus dem jeweiligen Lebensabschnitt wachzurufen, mögliche Ressourcen, die uns heute nützen können, zu erkennen und Selbstannahmesätze zu formulieren. Zum besseren Verständnis schildert sie viele persönliche Erfahrungen sowie die ihrer Klienten. 
Ich staunte immer wieder, wie treffend und authentisch sie typische Phasen im Leben beschreibt und wie ähnlich wir Menschen uns doch in unserer Entwicklung sind. Ich erlebte auch so manche Aha-Momente, zum Beispiel als mir klar wurde, dass die natürliche Entwicklung ohne eigenes Zutun in den 30ern endet oder bei der Gegenüberstellung vom vergangenheitsorienterten Ego und dem offenen Zukunfts-Ich. Die Autorin vermittelt ihr Wissen mit viel Feingefühl, einer Prise Humor und sprachlich sehr gewandt in eindrucksvollen Bildern.
Ihr Buch weckt nicht nur die Neugier und Lust, seine einst bewohnten Räume erneut aufzusuchen und eine geheime Choreografie aufzuspüren, sondern ermutigt uns auch dazu, das volle Potenzial des Älterwerdens zu erkennen und die Gestaltung unseres verbleibenden Lebens aktiv und mit großer Lebensfreude in die Hand zu nehmen.
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Spinnen – Sinnen – Pinnen

Mich hat es schon länger gereizt, ein Moodboard zu entwerfen, doch bisher ist es bei digitalen Collagen geblieben. Nun wollte ich doch genauer wissen, was es mit dieser Kreativtechnik auf sich hat, die so häufig in der Innenarchitektur, Mode, Filmbranche oder im Coaching eingesetzt wird, und wurde auf das Buch „Moodboards“ aufmerksam. Marianne Salentin-Träger und Anja Jahn beschreiben darin, wie man mithilfe dieses Tools seine Projekte, Ziele oder Wünsche bildlich umsetzen und durch die Kraft des Visualisierens verwirklichen kann.
Das Buch ist sehr gut aufgebaut. Nach einer kurzen Erklärung des Begriffs, erläutern die Autorinnen, welche drei Elemente dem Moodboard sein besonderes Potenzial verleihen: die Kraft der Bilder, die Macht der Gedanken und die Relevanz der Gefühle. Die Gestaltung des Buches spiegeln diese drei Aspekte sehr gut wider: Großgedruckte Zitate wechseln sich ab mit farbig hervorgehobenen Textstellen, Grafiken und Abbildungen von verschiedenen Moodboards. Besonders angesprochen haben mich die gelungenen Porträtfotos der vorgestellten Personen, die darüber berichten, wie sie mit Hilfe von Moodboards berufliche oder private Ziele verwirklicht haben. 
Mit der Visualisierung von Zielen habe ich selbst schon viele positive Erfahrungen gemacht. Statt digitale Collagen zu layouten, hat das Buch jedoch bei mir große Lust geweckt, zu Pappe, Schere und Klebstoff zu greifen und drauflos zu schnipseln, ganz nach dem Motto der Autorinnen ‚Erst spinnen, dann sinnen und pinnen“. Ich könnte mir vorstellen, dass die haptische Beschäftigung die Fantasie noch stärker anregt. Marianne Salentin-Träger und Anja Jahn vermitteln auf sehr ermutigende und inspirierende Weise wie ein Moodboard helfen kann, in der heutigen Welt, die so viele Optionen und Ablenkung bietet, seine Träume visuell zu konkretisieren, sich täglich darauf zu fokussieren und sich Schritt für Schritt seinem Ziel zu nähern.
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Starker Debütroman

Der Buchtitel "Gespräche mit Freunden" klingt so harmlos, dass man kaum erahnen kann, auf welch komplexe Beziehungsgeschichte man sich einlässt. Tatsächlich wird in dem Roman von Sally Rooney sehr viel gesprochen und geschrieben, doch es geht nicht nur darum, was gesagt wird, sondern welche Auswirkungen die Worte haben, sowohl die gesprochenen als auch unausgesprochenen.
Die Sprache ist ein Metier, in dem sich die Hauptfiguren auskennen. Ich-Erzählerin Frances studiert Literatur in Dublin und führt mit ihrer besten Freundin und Ex-Liebhaberin Bobbi Spoken-Word-Gedichte auf. Bei einer Poetry Night lernen sie die Fotojournalistin Melissa, einige Tage später ihren Ehemann und Schauspieler Nick kennen und fühlen sich stark zu dem Paar hingezogen; Bobbi zu Melissa und Frances zu dem gutaussehenden Nick.
Als Frances eine Affäre mit Nick beginnt, gerät man immer stärker in den Sog der Geschichte. Wie lange wird das noch gutgehen? Nutzen sie sich gegenseitig aus oder sind wahre Gefühle im Spiel? Nach außen hin gibt sich Frances cool, unnahbar, gefällt sich in der Rolle der intellektuell Überlegenen, doch innerlich wird sie von Selbstzweifel und Emotionen förmlich zerrissen und sehnt sich in Wirklichkeit nach Aufmerksamkeit und Intimität. Sie reflektiert nicht nur ständig über sich selbst und andere, sondern studiert auch ihr Aussehen im Spiegel, auf Fotos und betrachtet sich durch die Augen der anderen.
Spannend ist, wie die unterschiedlichen Charaktere erst langsam an Schärfe gewinnen. In ihren Gesprächen, E-Mails und Briefen entlarven sie sich selbst oder gegenseitig. Auch durch ihre jeweilige Vorgeschichte, die Stück für Stück enthüllt wird, vervollständigt sich das Bild zunehmend.
Scharfsinnig, provokant und ironisch analysiert Sally Rooney Machtverhältnisse in Beziehungen, Geschlechterrollen, Klassenunterschiede und Ängste vor Kontrollverlust. Sie überrascht durch unerwartete Wendungen und ungewöhnliche Metaphern. Ich bin immer noch leicht benommen von der Geschichte und kann es kaum erwarten, ihren zweiten Roman zu lesen.
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Das wahre Leben draußen

Viele Menschen, die von der Konsumgesellschaft und vom modernen Stadtleben die Nase voll haben, zieht es in die Natur, doch nur wenige wagen einen so radikalen Schritt wie Andrea Hejlskov. In ihrem Buch „Wir hier draußen – Eine Familie zieht in den Wald“ erzählt sie, wie sie mit ihrem Mann Jeppe und ihren fünf Kindern der Zivilisation den Rücken kehrte und lernte, in der Natur zu leben.
Sie ziehen zunächst in eine 16 Quadratmeter große Hütte in einem Waldstück in Schweden und verbringen mit Hilfe eines walderfahrenen Einheimischen Tag für Tag damit, ein Blockhaus zu bauen. „So habe ich mir das nicht vorgestellt." Diesen Satz wiederholt die Autorin und Bloggerin sehr häufig. Sie war auf ein hartes Leben gefasst, doch die Realität übertrifft all ihre Befürchtungen. An Romantik, Idylle und Freiheitsgefühl ist nicht zu denken. 
Interessant ist, wie unterschiedlich die Familienmitglieder auf die Lebensumstellung reagieren. Während das Selbstbewusstsein und die Tatkraft ihres Mannes stetig wachsen, fühlt sie sich immer unsicherer und schwächer. Sie leidet nicht nur unter der körperlichen Erschöpfung, sondern auch unter den 'niederen' Arbeiten wie Kochen, Waschen und Putzen, die ihr zugeteilt werden. Zudem plagen sie unentwegt Zweifel, Zukunfts- und Existenzängste, die ihre Ehe auf eine harte Probe stellen.
Doch es gibt sie auch: die kurzen Glücksmomente, die ihr deutlich machen, dass sie nicht mehr in ihr altes Leben zurückkehren will. Noch nie hatte die Familie die Gelegenheit, so viel Zeit miteinander zu verbringen und wahre Nähe zu spüren. Andrea Heijskov findet dabei eine ausgewogene Balance zwischen den Schilderungen der inneren und äußeren Welt. Während sie schonungslos ihre Gefühle offenbart und sehr hart mit sich selbst ins Gericht geht, beschreibt sie im nächsten Moment nahezu poetisch jedes einzelne Geräusch im Wald und lässt uns so an der Schönheit der Natur teilhaben.
Wer jemals mit dem Gedanken spielte, ein Leben im Wald zu führen, wird es sich nach der Lektüre zweimal überlegen. Für alle anderen ist dieser Erfahrungsbericht in jeder Hinsicht eine Bereicherung und ein ganz besonderes Leseerlebnis.
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Wenn Liebe blind macht

Bücher erlauben es uns, nicht nur in vielfältige Rollen zu schlüpfen, sondern auch in verschiedenste Berufe hineinzuschnuppern. Das ist eine besonders große Bereicherung, wenn die Details so gut recherchiert werden wie von William Boyd. Nach "Die Fotografin" war "Love is Blind" ("Blinde Liebe") mein zweiter Roman des schottischen Schriftstellers.
Wieder staunte ich, mit wieviel Expertise er seine Hauptfigur ausstattet und den Leser daran teilhaben lässt. Brodie Moncur arbeitet Ende des 19. Jahrhunderts als Klavierstimmer beim Instrumentenhersteller Channon & Co. in Edinburgh. Eines Tages erhält er von seinem Chef die Chance, in einer Filiale in Paris zu arbeiten. Die Geschäfte laufen zunächst nicht gut – bis Brodie auf die Idee kommt, Verträge mit berühmten Pianisten zu schließen, die auf ihren Tourneen Werbung für Channon Flügel machen. Sie engagieren John Kilbarron, der als „irischer Liszt“ gefeiert wird und die Umsätze in die Höhe schnellen lässt.
Es hätte die Geschichte einer erfolgreichen Laufbahn werden können, doch Brodie verliebt sich in Kilbarrons Geliebte Lika und damit nimmt sein Leben einen schicksalhaften Lauf. Ab da macht der Roman seinem Titel "Love is Blind" alle Ehre. Wir begleiten das Paar auf der Flucht quer durch Europa von St. Petersburg nach Biarritz, Edinburgh und Nizza. William Boyd versteht es, Liebe und Leidenschaft sowie Hass und Aggression so stark zu dramatisieren, dass man sich vorkommt wie in einem russischen Literaturklassiker. Ehrgeiz, Stolz, Liebe und Abhängigkeiten sind die treibenden Kräfte, die die Figuren immer mehr ins Unglück stürzen. Schade fand ich, dass sich die zweite Hälfte des Romans fast nur noch um die etwas langatmige Liebesgeschichte dreht und Brodies musikalisches Talent an Bedeutung verliert.
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Mörderjagd in der Stadt des Zorns

Schauplatz des Romans ist erneut Wien in der Nachkriegszeit. „Der dunkle Bote“, der dem dritten Krimi von Alex Beer den Titel gibt, treibt diesmal sein Unwesen und hinterlässt grausam zugerichtete Leichen. Kriminalkommissar August Emmerich und sein Assistent Ferdinand Winter tun sich schwer, einen Zusammenhang zwischen den ermordeten Personen herzustellen. Ein interner Wettkampf treibt die beiden zusätzlich an, den Fall möglichst zügig zu lösen. Dabei hat Emmerich eigentlich ganz andere Sorgen: Er muss seine Lebensgefährtin finden, die vom totgeglaubten brutalen Xaver Koch entführt wurde. 
Die Autorin schwört wieder eine so authentische Atmosphäre herauf, dass man das Gefühl hat, man befinde sich selbst mitten im Chaos und Elend der Stadt, die von Hunger und Not, von Aggression und Verbrechen geprägt ist. Sie entführt uns an reale Schauplätze wie den zentralen Friedhof, das Schweineschlachthaus oder den Tandelmarkt. Brutale Jugendgangs, die sogenannten Platten, sowie Geldschmuggler kommen ins Spiel. Alex Beer macht außerdem deutlich, wie Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden und um ihre Rechte kämpften. Die Stadt des Elends hat sich in eine Stadt des Zorns verwandelt, in der Feindbilder geschaffen werden, um seine eigene Haut zu retten und über die Runden zu kommen.
Dass die Ermittler auf die Hilfe des Verbrechers Veit Kolja zurückgreifen müssen, sagt viel über ihre verzweifelte Lage aus. Doch schon in ihren vergangenen Fällen haben sie bewiesen, dass man mitunter unkonventionelle Wege gehen muss, um den Täter zu überlisten. Alex Beer ist wieder einmal eine spannend konstruierte Geschichte in einem überzeugenden Setting gelungen, auch wenn die Handlung nicht ganz so fesselnd war wie in den beiden Vorgängern.
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Ein Kunstschmied geht auf Reisen

Der Roman „Blumenspiel“ von Hajo Steinert beginnt mit einer Reise, und zwar einer äußerst strapaziösen, die wir uns sicher nicht freiwillig antun würden. Der Kunstschmied Heinrich Karthaus verlässt im Jahr 1908 seine Heimat Engelskirchen und begibt sich zu Fuß nach Köln, um seine Berufung zu finden. Dort wohnt er zur Untermiete bei der fürsorglichen Else Römer, die sich mehr für ihn interessiert als er für sie. Sein Interesse gilt einzig und allein der Näherin Hedwig, die er schon lange in der Nähstube beobachtet und bei einem Treffen des Deutschen Lärmschutzverbands unerwartet trifft und kennen- und lieben lernt.
Neben den genannten drei Figuren spielt in dieser Geschichte vor allem der Schauplatz eine tragende Rolle. Wir erleben die Stadt Köln im Wandel und das mit all unseren Sinnen. Kenntnisreich erzählt der Autor, wie die Stadt vom Baufieber erfasst wurde, beschreibt Brücken, Parks, edle Kaufhäusern, aber auch gefährlichen´ Gassen und den zunehmenden Lärm, gegen den sich der Lärmschutzverband mit verschiedenen Aktionen auflehnt.
Doch nicht nur die Stadt, auch Heinrich macht einen Wandel durch. Um seine Chancen bei der Arbeitssuche zu erhöhen, hat er sich längst den eleganten Namen Henri Cartouse zugelegt, trägt einen schicken Anzug und sieht, blind vor Liebe für Hedwig, die Stadt, die er anfangs noch bedrohlich und abstoßend fand, auf einmal mit ganz anderen Augen. 
Der Roman ist eine wunderbar geschriebene, gut recherchierte Milieustudie, die ich an einem Tag verschlungen habe. Mit großem Vergnügen tauchte ich in die damalige Zeit und die verschiedenen Schauplätze ein und begleitete das Liebespaar bis zum Monte Verità mitten hinein in die Reformbewegungen.
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Reise zurück ins Leben

Wenn man erfährt, dass jemand, dem man ein Tag zuvor begegnet ist, versucht hat, sich umzubringen, kann einen das ziemlich aus der Fassung bringen. Genau das passiert dem Protagonisten Lukas Gsell in dem Roman "Die letzten 150 Tage von Markus Morgart" von Ulrich Ritzel. Während eines abendlichen Spaziergangs mit dem Hund des Nachbarn, den er regelmäßig ausführt, sieht er einen fremden Mann auf einer Bank sitzen, wechselt ein paar Worte mit ihm und erfährt am nächsten Tag, dass dieser seinen Kopfschuss überlebt hat, jedoch unter Amnesie leidet.
Gsell lässt dieser Fall nicht los, zumal ihm sein Nachbar, ein ehemaliger Rektor, erzählt, dass er Markus Morgart als Schüler gekannt hat, bis dieser mit seiner Mutter ganz plötzlich Bruggfelden verließ. Zuerst dachte ich, es ist journalistische Neugier, die ihn antreibt, doch er scheint sich vielmehr Morgart gegenüber in der Pflicht zu fühlen und sucht ihn gemeinsam mit Morgarts früherer Mitschülerin Claudia in der Klinik auf.
Gespannt wartet der Leser darauf, mehr über Morgarts Vergangenheit als erfolgreicher Investor und vor allem den Grund seines versuchten Selbstmords zu erfahren, doch die Geschichte entwickelt sich anders als erwartet. Sie handelt mehr davon, wie Gsell Morgart dabei hilft, in sein Leben zurückzufinden. Dazu reisen sie unter anderem nach Paris und Sète, stets Morgarts Adressbüchlein zur Hand, um vergangene Kontakte aufzuspüren.
Da der Autor nicht nur die Perspektive, sondern auch die Erzählform zwischen Bericht, Dialog und Briefform wechselt, tat ich mich schwer, in die Handlung und Figuren hineinzufinden. Ich hatte oft das Gefühl, außen vor zu sein und begriff auch nicht so recht, warum Claudia über Baudelaires oder Paul Valérys Verse sinniert oder Geschichten aus der griechischen Mythologie zitiert werden. Gefallen hat mir, wie bild- und detailreich der Autor den Ausgangsort Bruggfelden und die verschiedenen Stationen der Reise beschreibt, so dass man die Schauplätze sehr lebendig vor Augen hat.
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Bankerin trifft Aussteiger

Es gibt Momente im Leben, da stellt man alles, was man bisher erreicht hat, in Frage. Annabelle, Hauptfigur des Romans „L‘Odeur de l‘herbe après la pluie“ („Der Duft von Gras nach dem Regen“) von Patrick Jacquemin erlebt diesen Moment an einem Sonntag im Juni. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau in der Finanzwelt und hätte allen Grund, zufrieden zu sein. Als sie beim Essen mit Freunden auf ihr Privatleben zu sprechen kommen, stellt sie nicht nur fest, dass sie keines hat, sondern dass sie völlig ausgebrannt ist und fällt in ein emotionales Tief. Nach einem heftigen Gefühlsausbruch in ihrem Auto beschließt sie kurzerhand, alles hinter sich zu lassen und in ihren Heimatort Langres zu fahren.
Unterwegs durch malerische Landschaften hat Annabelle nicht nur ein intensives Naturerlebnis, sondern lernt auch den Bauern Georges Lesage kennen, der allein einen kleinen Hof bewirtschaftet. Gegensätzlicher könnten ihre Lebensstile nicht sein: Der Siebzigjährige besitzt weder einen Traktor noch ein Handy, nicht einmal ein Telefon und lebt in völligem Einklang mit der Natur und seinen Büchern. Annabelles Frage, ob ein Traktor nicht viel höhere Erträge erzielen würde als seine Ochsen, lässt ihn völlig unbeeindruckt. Wie zu erwarten nähern sich die beiden durch tiefgründige Gespräche allmählich an. 
Annabelle ist einerseits fasziniert vom einfachen und naturverbundenem Leben, kann sich andererseits von ihrem Umfeld in Paris nicht ganz lösen. Auch wenn die Handlung wenig Überraschungen bietet und die Geschichte nicht ganz meine Erwartungen erfüllt hat, haben mich Georges Lebensweise und seine philosophische Gedanken zum Nachdenken gebracht. Man muss nicht gleich zum Einsiedler werden, doch selbst als Stadtmensch kann man der Schönheit der Natur mehr Aufmerksamkeit schenken, achtsamer mit der Tier- und Pflanzenwelt umgehen und sich bewusst machen, dass wir Menschen genauso wie die Natur Teil dieses Universums sind. 
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Scham ist keine Lösung

“Ja, schämst du dich denn überhaupt nicht?“ Nicht selten bekommen Kinder diesen Satz zu hören, wenn sie etwas angestellt oder sich daneben benommen haben. Aber wozu schämt sich der Mensch überhaupt und welchen Einfluss hat es auf unser Fühlen, Denken und die körperliche Gesundheit? Antworten darauf gibt das Buch „Nie mehr schämen“ von Stephan Konrad Niederwieser. 
Bei Säuglingen und Kleinkindern, so erklärt der Heilpraktiker, erfüllt der Scham-Affekt tatsächlich wichtige Aufgaben. Er ist ein wichtiges Bindeglied zur Bezugsperson und wirkt sich auf die Entwicklung des Selbstbildes aus. Wird Scham jedoch chronisch, kann sie uns ausgrenzen und unser geistiges und emotionales Wachstum hemmen. 
Ich war überrascht, wieviele praktische Übungen der Ratgeber enthält. Der Autor lädt uns zunächst ein, unsere eigenen Scham-Themen zu benennen und die Ergebnisse der Übungen und die Veränderungen, die wir dabei erleben, in einem Scham-Tagebuch zu notieren. Viele Anleitungen zielen darauf ab, unsere automatischen Scham-Reaktionen im Körper zu erforschen, indem wir auf unseren Atem, die Körperspannung und Empfindungen achten. Eine interessante Erfahrung für mich war beispielsweise, meine negativen Selbsturteile in Gedanken einem engen Vertrauten vorzuwerfen und festzustellen, wie sich das anfühlt.
Auch die vielfältigen Fallbeispiele und anschaulichen Diagramme helfen zu begreifen, auf welche Weise ein schambesetztes Selbstbild entstehen und wie gefährlich es sich entwickeln kann, wenn es nicht reguliert wird. Der Autor stellt die Scham auch ähnlichen Emotionen wie Schuld, Angst oder Wut gegenüber und zeigt sowohl Parallelen als auch Unterschiede. Betroffene werden sich sicher an der einen oder anderen Stelle wiedererkennen, wenn Niederwieser ganz typische Strategien beschreibt, wie wir uns vor Scham schützen. Was wir stattdessen tun können, um uns von diesem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit zu befreien und unsere Lebensfreude und -energie voll zu entfalten, zeigt uns der Autor abschließend anhand von zahlreichen Übungen. 
Das Buch hilft nicht nur, diesem oft nicht ganz greifbaren, unangenehmen Schamgefühl auf den Grund zu gehen und ihn klar zu benennen, sondern auch verschiedenste Methoden der Selbsterfahrung auszuprobieren, um sich Stück für Stück davon zu befreien.
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Träume, Schuld und Verrat

Drei junge Menschen, die in New York ihre Träume verwirklichen wollen und deren Wege sich kreuzen – davon handelt der Roman „Three-Martini Lunch“ ("Martini für drei") von Suzanne Rindell, der in den Fünfziger Jahren spielt. Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive der Hauptfiguren. 
Cliff ist entschlossen, Schriftsteller zu werden und stellt sich bereits die überschwänglichen Rezensionen vor, noch bevor er seinen ersten Roman geschrieben hat. Die typischen Phasen, die er immer wieder durchlebt wie Ideensuche, Schreibblockade und kurzzeitiger Flow wird jeder Autor gut nachfühlen können. Eden träumt davon, Redakteurin zu werden und lässt sich eifrig auf Verlagsparties blicken, um nützliche Kontakte zu knüpfen. Voller Dankbarkeit, eine Stelle als Sekretärin in einem Verlag ergattert zu haben, scheut sie keine Überstunden und erlebt einen herben Rückschlag. Schriftsteller Miles reist nach Kalifornien, um einer Spur zu folgen, die zum Tagebuch seines verstorbenen Vaters führt.
Von Anfang an übt der Roman eine Sogwirkung aus. Sofort taucht der Leser in das lebhafte Stadtviertel Greenwich Village und in die Kreise der aufstrebenden Künstler ein. Mit viel psychologischem Gespür zeichnet Suzanne Rindell auch die Innenwelten der Figuren, was sie antreibt, was sie bewegt, ihre emotionalen Höhen und Tiefen. Man merkt, wie stark sie durch ihre Herkunft und ihr Elternhaus geprägt sind und sich dadurch oft selbst im Weg stehen. Auch die Nebenfiguren wie die intrigante Lektorin Miss Everett, Edens Freundin Judy, die lediglich eine gute Partie machen will oder Miles' leidenschaftlicher Freund Joey werden sehr gut charakterisiert. Zudem wird deutlich, wie schwer es die Frauen hatten, sich in der von Männern dominierten Verlagswelt zu behaupten und ihrer Willkür ausgeliefert waren. 
Während am Anfang die Träume und Beziehungen der Figuren im Vordergrund stehen, nimmt die Handlung immer mehr Fahrt auf und entwickelt sich zu einem regelrechten Psychothriller. Rassismus, Homophobie und Antisemitismus lassen die Konflikte eskalieren. Erwartet hatte ich eine unterhaltsame Urlaubslektüre – Stattdessen entpuppte sich der Roman über Lebensträume, Liebe und Verrat als echter Pageturner und eines meiner Lesehighlights des Jahres.
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Ein sehr persönlicher Stadtführer

„Dublin was never my Dublin, which made it all the more alluring“. So beginnt das aktuelle Buch von John Banville mit dem Titel „Time Pieces“ („Spaziergänge durch Dublin“). Der irische Schriftsteller ist in Wexford geboren und aufgewachsen. Seine Sehnsucht nach Dublin wurde erstmals geweckt, als er mit sieben Jahren seine Tante Nan dort besuchte. Elf Jahre später zieht er dorthin und geht auf Entdeckungstour, um seine Faszination zu ergründen. Scheinbar unbedeutende Momente, die er mit bestimmten Straßen, Plätzen und Gebäuden verbindet, prägen sich dabei ein. Seine Erinnerungen verwoben mit viel Wissenswertem beschreibt er in diesem sehr persönlichen Stadtführer.
Zuvor erfahren wir viel über sein Verhältnis zu Wexford und seinen Eltern. Rückblickend bereut er fast, dass er sich so wenig für seine Heimatstadt interessiert hat. Zu den besonderen Orten, die er uns in Dublin vorstellt, zählt die Baggott Street und die Wasserlandschaft am Grand Canal entlang, sein „privates Paradis“, wo er mehrere Jahre lang wohnte. Auch der Park Iveagh Gardens ist mit zarten Erinnerungen an Rendezvous und unerfüllte Liebe verbunden. Als er seine 16-jährige Tochter dorthin führt, stellt sich heraus, dass auch sie viel Zeit mit ihrem Freund in diesem Park verbringt. Banville ist fasziniert, wie zeitlos manche Schauplätze sind und über Generationen hinweg wechselhafte Geschichten zu erzählen haben.
Leser, die Dublin bereits kennen, können die Stadt nochmals durch die Augen des Schriftstellers erleben und ihre Erinnerungen auffrischen. Neulingen wie mir wecken seine Streifzüge, die zahlreichen Fotos und kenntnisreichen Beschreibungen Neugier und Reiselust. 
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Die heilende Kraft der Schönheit

Ein Beruf, den ich mir schon immer als ziemlich langweilig vorgestellt habe, ist der des Museumswärters, und das obwohl ich mich für Kunst interessiere. Genau auf diese Tätigkeit hat es jedoch Antoine Durin, Held des Romans „Die Frau im Musée d‘Orsay“ abgesehen. Völlig überstürzt verlässt er seinen Posten als Professor an der Hochschule der Schönen Künste in Lyon, um in Paris einen Neuanfang zu wagen. 
David Foenkinos zeichnet einen Mann, der gesellschaftlichen Zwängen entkommen, sich unsichtbar machen und einfach nur von schönen Gemälden umgeben sein will – bis er Mathilde Mattel, die Personalchefin des Museums, näher kennenlernt. Ihre Begegnungen und Verabredungen schildert der Autor voller Poesie. Gerade durch das Unausgesprochene entfaltet sich eine besondere Atmosphäre und Magie zwischen ihnen.
Ich ertappte mich dabei, wie ich mehrmals wunderbare Sätze unterstrich wie „Die Schönheit war immer noch das beste Mittel gegen den Zweifel“ oder „Das Absurde ist immer ein guter Freund brennender Sehnsucht“. Natürlich endet die Geschichte nicht einfach mit einem Happy End, denn da ist ja noch die Vergangenheit von Antoine, die ihn noch immer quält, aber über die er partout nicht sprechen will. Erst durch Mathilde gelingt es ihm, sich einem tragischen Ereignis zu stellen, über das der Leser im dritten Teil endlich mehr erfährt. 
Das Besondere an diesem leise erzählten Roman ist nicht nur die ungewöhnliche Konstruktion, sondern auch die feinen Nuancen. Ganz plötzlich schlägt eine Stimmung voller Leichtigkeit und Lebensfreude um in Enttäuschung, Düsterheit oder unfassbares Leid. Foenkinos zeigt einerseits, wie zerbrechlich das Glück ist und andererseits wie die Schönen Künste Trost spenden, den Schmerz lindern und im besten Fall sogar neue Hoffnung und Lebensfreude wecken können.
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Eine exzentrische Familie wandert aus

Den autobiografischen Roman „My Family And Other Animals“ ("Meine Familie und andere Tiere") hätte ich letztes Jahr vor meiner Korfu-Reise zur Einstimmung lesen sollen, auch wenn die Hauptfigur für mich nicht allzu viel Identifikationspotenzial bietet. Im ersten Teil des Romans ist der Ich-Erzähler zehn Jahre alt und stellt uns seine Familie und andere Tiere vor. Der originelle Titel und der Schauplatz waren Grund genug für mich, zu dem Buch zu greifen.
Geralds Familie macht im Jahr 1935 etwas wahr, wovon viele Engländer nur träumen: Sie ziehen für fünf Jahre nach Korfu, um dem schlechten heimischen Klima zu entfliehen. Die Suche nach einer geeigneten Wohnung gestaltet sich für die fünfköpfige Familie schwieriger als gedacht, denn Badezimmer gehören offensichtlich nicht zur Standardausstattung. Zum Glück finden sie in Spiro einen cleveren Einheimischen, der ihnen die Akklimatisierung in vielerlei Hinsicht erleichtert. 
Wie der Titel verspricht, kommt neben vielen amüsanten und turbulenten Geschichten über die exzentrische Familie, ihren illustren Gästen und Inselbewohnern auch die Tierwelt nicht zu kurz, was wir Geralds größter Leidenschaft zu verdanken haben. Er begeistert sich für alles, was kreucht und fleucht und schildert unterhaltsam und detailverliebt wundersame Phänomene und Eigenarten von Insekten, Vögeln und Vierbeinern, die er gern auch mal ins Haus mitnimmt und für viel Trubel sorgt. Sein kindlicher Entdeckerdrang hat etwas Faszinierendes und auch Nostalgisches, weil er zur Seltenheit geworden ist. Die ausführlichen Naturbeschreibungen und Sinneseindrücke haben so manche Urlaubserinnerungen in mir wachgerufen. Der in Vergessenheit geratene Klassiker wurde nun in einer neuen deutschen Übersetzung von Andree Hesse herausgebracht.
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Sehnsuchtsziel Gelassenheit

Wenn ich mich total gestresst fühle, neige ich zu zwei Dingen: Entweder, ich suche einen Weg, den Stress zu reduzieren. Oder ich kaufe mir einen Ratgeber, der mir hilft, mit dem Stress besser umzugehen. Diese Woche entschied ich mich für Letzteres.
Zuvor fragte ich mich natürlich, ob ich nicht schon ein geeignetes Exemplar in meinem Bücherregal stehen habe. Titel wie „Slow – Die Entscheidung für ein entschleunigtes Leben“ oder "Empower Yourself" fielen mir ins Auge, trafen aber nicht ganz mein akutes Anliegen und so begab ich mich online auf die Suche. Meine Wahl fiel schließlich auf „Der Weg zur Gelassenheit – Positiv mit Stress und Druck umgehen“ von Gabi Pörner.
Überzeugt hatte mich vor allem der Einstieg. Die Trainerin und Business Coach beschrieb einen Alltag, in dem ich mich exakt wiedererkannte: durch den Tag hetzen und den Aufgaben hinterher hecheln, viel zu viel Zeit für Zeitoptimierung verschwenden und obendrein das Gefühl haben, den eigenen Ansprüchen und den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden. Wie konnte ich diesem Wahnsinn entfliehen?
Gleich zu Beginn erläutert die Autorin, wie Stress überhaupt entsteht und was hinter dem Gefühl des Getriebenseins steckt. Unser konditionierte Verstand überlagert unsere Lebensfreude und Lebendigkeit, schreibt sie. 'Loslassen' ist das Zauberwort, das ich in dem Zusammenhang schon oft gehört habe und was mir immer besser gelingt, doch die Autorin nennt noch weitere wie Zulassen, Sein Lassen und Einlassen. Klingt für mich einleuchtend.
Ihre vielzähligen Beispiele für typische Verhaltensmuster im Beruf und Beziehungen machen deutlich, wieviel man wider Erwarten selbst in der Hand hat. Manchmal habe ich das Gefühl, nur noch funktionieren zu müssen und komme mir ein Zombie vor, aber es geht auch anders. Im Kapitel über Glaubenssätze, die maßgeblich unsere Gedanken und unser Verhalten prägen, zeigt sie den Weg von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung.
Auch wenn ich mich schon viel mit dem Thema beschäftigt habe, konnte ich in diesem Ratgeber neue Einsichten und wertvolle Anregungen gewinnen. Meinen bevorstehenden Urlaub werde ich nicht nur zur Entspannung, sondern auch dazu nutzen, die vielen praktischen Übungen auszuprobieren, damit meine Erholung möglichst lange anhält. 
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Packendes Psychogramm

Schauplatz des Romans „Drei Tage und ein Leben“ von Pierre Lemaitre ist Beauval, ein Ort in Nordfrankreich, in dem selten etwas Spektakuläres passiert. Im Dezember 1999 kommt es jedoch zur Verkettung gleich mehrerer dramatischer Ereignisse, in dem der zwölfjährige Antoine und das Verschwinden des sechsjährigen Nachbarsjungen Rémi im Mittelpunkt stehen.
Wäre alles anders gekommen, wenn Antoine mit seinen Freunden PlayStation gespielt hätte statt sich in den Wald von Saint-Eustache zurückzuziehen oder sein Nachbarshund nicht überfahren und vom Besitzer erschossen worden wäre? Fakt ist, dass er immer mehr in die Einsamkeit und zu einer äußerst aggressiven und folgenschweren Tat getrieben wird.
Lemaitre beschreibt mit viel Sensibilität, was im Kopf des Teenagers vorgeht, auf den eine irrsinnige Bürde lastet. Gezwungen, alle Entscheidungen selbst zu treffen, da er sich keinem anvertrauen kann, malt Antoine sich mit grenzenloser Fantasie die Konsequenzen seiner Tat aus und spielt alle möglichen Szenarien durch, eins qualvoller als das andere.
Während es in Antoines Innerem brodelt, sind auch die Dorfbewohner in heller Aufruhr und starten eine Suchaktion nach dem vermissten Jungen. Mit feiner Beobachtungsgabe und stellenweise einer Portion Sarkasmus beschreibt der Autor, wie angestaute Aggressionen, persönliche Fehden und Rachsucht unter den Bewohnern in dem tragischen Vorfall ein Ventil finden. Schon bald wird das Ereignis jedoch durch eine neue Katastrophe abgelöst, als ein schweres Unwetter über das Dorf hereinbricht.
Gemeinsam mit den Figuren durchleben wir ihre Schicksale, die geprägt sind durch Missgunst, Lügen, Geheimnissen und Schuld. Lemaitres außergewöhnlicher Schreibstil und die raffinierte Dramaturgie mit vielen Wendungen hat mich bis zum Schluss gefesselt.
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Läuterungsreise quer durch die Staaten

Schon der erste Absatz des Romans „Willkommen in Lake Success“ von Gary Shteyngart gibt einen guten Vorgeschmack auf das verrückte Abenteuer der Hauptfigur Barry Cohen, auf das wir uns auf über 400 Seiten einlassen werden. Der schwerreiche New Yorker Hedgefonds-Manager steckt ganz offensichtlich in großen familiären und beruflichen Schwierigkeiten und will so schnell wie möglich der Misere entfliehen. Er kauft sich kurzerhand ein Greyhound-Ticket und macht sich auf den Weg nach Richmond zu seiner Jugendliebe Layla.
Es wird eine Selbstfindungs- und Läuterungsreise quer durch die Staaten bis nach San Diego, die in krassem Gegensatz zu seinem gewohnten Lebensstil steht. Auf der Suche nach dem echten Lebensgefühl macht er Bekanntschaft mit den Fahrgästen, darunter Studentinnen, Abgebrannte und Drogensüchtige, und setzt sich allmöglichen demütigenden Situationen aus. Parallel lässt uns der Autor am Leben der Manhattener Elite im Allgemeinen und der verlassenen Ehefrau und seinem autistischen Sohn im Speziellen teilhaben. Seine genauen Beobachtungen und treffsicheren Beschreibungen geben uns ein authentisches Bild der verschiedenen Schichten und politischen Ansichten kurz vor der Trump-Wahl.
Obwohl Barry jenen Typen verkörpert, der glaubt, mit Geld alles im Leben steuern zu können, konnte ich nicht umhin, Mitgefühl für den tragischen Helden zu entwickeln. Er ist keineswegs ein allein von Profitgier angetriebener gefühlskalter Mensch. Im Gegenteil: Er wünscht sich nichts mehr als wahre Freunde, Zuwendung und Nähe  – was sich leider darin äußert, dass er seinen Mitmenschen ständig seine Hilfe als Mentor anbietet. 
Das war mein erstes Buch von Gary Shteyngart und ich bin begeistert von seiner fulminanten Erzählkraft, seinem bissigen und zugleich warmherzigen Humor und der lebensprallen Geschichte. Noch immer sehe ich den verzweifelten Barry auf seiner Odyssee vor mir und die vielen schrägen Figuren, die ich nicht so schnell vergessen werde.
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Konträre Schicksale zweier Freunde

Biografien von bedeutenden Persönlichkeiten zu lesen, kann ungemein bereichern. Einen besonderen Reiz hat das Ganze, wenn sich zwei Lebensläufe verschränken und die Freundschaft und das parallele Wirken im Mittelpunkt stehen. Um solch eine Beziehung geht es in „Zwei Hälften des Lebens“ von Eberhard Rathgeb, und zwar zwischen dem Philosophen Hegel und dem Dichter Hölderlin. 
Beide wurden 1770 geboren, studierten gezwungenermaßen Theologie im Evangelischen Stift Tübingen, obwohl sie der Philosophie viel näher standen und waren von den Werken Rousseaus begeistert. Nach dem Studium trennten sich ihre Wege und kreuzten sich später in Frankfurt am Main, wo sie beide als Hauslehrer tätig waren. In ihrer Weltanschauung entwickelten sie sich unterschiedlich: Während Hegel alles der Vernunft unterwarf, ließ Hölderlin sich von seinen Stimmungen, Sehnsüchten und persönlichen Neigungen leiten und brachte seine Empfindungen dichterisch zu Papier.
Zwischendurch reflektiert der Autor darüber, warum er sich gerade mit diesen beiden Gelehrten so intensiv beschäftigt und wie seine Tochter oder seine Nachbarn darauf reagieren. Wiederholt stellt er die enormen Unterschiede zwischen der damaligen und heutigen Zeit heraus und fragt sich, ob wir wohl jemals ihre Werke gänzlich verstehen werden. Womit ich mit schwer tat, waren die häufigen Abschweifungen. Kaum hatte ich mich ein wenig in die Person von Hölderlin oder Hegel vertieft, wurde ich herausgerissen, weil eine Vielzahl von Zeitgenossen die Bühne betraten und die literarischen, politischen und sozialen Hintergründe detailliert erläutert wurden. So blieb bis zum Schluss eine Distanz zu den Hauptakteuren, ähnlich wie in einem Geschichtsbuch.
Nichtsdestotrotz bekam ich einen interessanten Einblick, wie schwer es damals für Intellektuelle war, ohne Amt oder Auftrag finanziell über die Runden zu kommen und wie sie sich mit Gleichgesinnten verbündeten, um nicht in geistige und soziale Isolation zu geraten. Öffentlich traten sie als Bedienstete auf, im Geheimen folgten sie ihren intellektuellen Ambitionen. Erstaunlich fand ich auch, wie wenig die Geschehnisse im revolutionären Frankreich die beiden Herren berührte. Sie zogen es vor, sich in die Ideale der griechischen Antike zu flüchten. Wer sich eher unbedarft wie ich an die Lektüre dieses fakten- und zitatenreichen Buches wagt, sollte Geduld und Konzentration mitbringen; Hegel- und Hölderlin-Kenner werden sicher einen viel leichteren Zugang zu der Thematik finden.
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Ménage à trois mit Folgen

Der italienische Schriftsteller Andrea de Carlo ist ein Meister darin, die Beziehung zwischen Mann und Frau zu sezieren. In dem Roman „Sie und Er“ hat er das Thema bereits ziemlich auf die Spitze getrieben. Dass das Ganze noch steigerungsfähig ist, zeigt sein jüngstes Buch „Das wilde Herz“.
Es handelt von einem ungleichen Paar, das in Cambridge lebt und die Sommermonate in Ligurien verbringt – oder genauer gesagt von der Reparatur ihres Ferienhauses, nachdem Ehemann und Anthropologe Craig Nolan auf dem morschen Dach herumspaziert und abgestürzt ist. Sowohl der Unfall als auch der Wiederaufbau des Dachs ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman und entwickeln einen stark symbolischen Charakter.
Von Anfang an herrscht eine feindselige Atmosphäre: Craig leidet sowohl unter seinen Verletzungen als auch unter dem Baulärm und beobachtet äußerst misstrauisch die Handwerker – in seinen Augen allesamt unzuverlässige und inkompetente Halsabschneider. Seine Frau Mara, eine erfolgreiche Bildhauerin, fühlt sich nicht nur bei der Arbeit gestört, sondern gerät durch den Handwerker und Aussteiger Ivo Zanovelli emotional auch noch aus dem Gleichgewicht. Craig und Mara fragen sich, ob ihre Ehe bereits vor dem Unfall so schwerbeschädigt und kaum zu retten war wie das baufällige Haus, das sie gemeinsam erworben haben.
Der Autor erzählt aus wechselnden Perspektiven, nimmt auch mal die Rolle des stillen Beobachters und Verhaltensforschers ein, entfaltet die Szenen auf der Baustelle wie ein absurdes Theater und beschreibt, wie sich die Machtverhältnisse zwischen den drei Figuren immer wieder verschieben. Obwohl mich das Thema interessiert, hätte ich damit rechnen müssen, dass mittlerweile gewisse Ermüdungserscheinungen auftreten. Zum einen wiederholt sich Andrea de Carlo in seinen Beziehungsanalysen und bringt keinen Erkenntnisgewinn mehr; zum anderen ist der Ton in diesem Roman fast durchgehend aggressiv und destruktiv. Ein bisschen Humor und Leichtigkeit hätten der Geschichte nicht geschadet.
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Abschluss einer Familiensaga

Sonntags in Trondheim“ ist der vierte und letzte Band der Lügenhaus-Serie von Anne B. Ragde. Da ich die ersten Bände nicht kenne, tat ich mich ziemlich schwer, die vielen Figuren auseinanderzuhalten und mich in die Familiengeschichte, die teils in Trondheim, teils in Kopenhagen spielt, hineinzufinden.
Zu Beginn wird man in den turbulenten Alltag des schwulen Paars Krumme und Erlend und dessen siebenköpfige Familie katapultiert und man fragt sich, welche Verbindung zwischen ihnen und dem einsamen alten Mann Neshov besteht, der im Altersheim nur seine Ruhe haben will. Während bei Krumme und Erlend die Freuden und Sorgen rund um die Geburt der drei Kinder mit einem lesbischen Paar detailreich geschildert und die Freuden des Familienglücks zelebriert werden, schlägt die Geschichte über Torunn Neshov, die einen einst florierenden Schweinezüchter-Hof verließ, melancholische Töne an.
Am meisten berührt hat mich die Figur ihres Onkels Margido, dessen Gedanken sehr häufig um den Tod kreisen und das nicht nur, weil er Bestattungsunternehmer ist. Erst als seine Nichte Torunn ganz plötzlich vor seiner Haustür steht und einen Neuanfang wagt, schöpft er wieder Lebensfreude. Die Art und Weise, wie das Wiedersehen in Margidos Alltag einbricht und auf sanfte Weise sein Leben verändert, ist sehr schön erzählt. 
Geburt und Tod sind die wiederkehrenden Leitmotive dieses Romans. Ebenso geht es um Erwartungen, Sehnsüchte und Enttäuschungen in komplexen Familienbeziehungen. Teilweise fand ich die Themen gut umgesetzt, und es gab einige ergreifende Szenen, doch im Ganzen konnte mich der Roman nicht ganz überzeugen. Die drei Erzählstränge endeten für mich ein wenig lose, zudem war mir die Geschichte zu handlungsarm und enthielt viele langatmige Passagen.
 
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Schützenswert und verhängnisvoll

Ein Geheimnis zu haben, weckt schnell negative Assoziationen. Man verheimlicht etwas, ist nicht ehrlich zu seinen Mitmenschen. Doch ist es wirklich erstrebenswert, auch seine geheimsten Gedanken und Wünsche offenzulegen? Welche Rolle spielen Geheimnisse in unserem Leben? Mit diesem Thema haben sich sechs Schriftsteller/innen in der Kurzgeschichtensammlung "Geheimnis" beschäftigt.
Dass es durchaus seinen Reiz hat, nicht alles zu wissen, zeigt die Geschichte von Root Leeb über ein Mädchen, das Ratespiele liebt. Wie langweilig wäre unsere Welt, wenn es nichts mehr zu enträtseln gebe. In 'Befund' geht eine Mutter nach einer tödlichen Diagnose regelrecht darin auf, heimlich alle Vorbereitungen zu treffen, um ihre Familie nach ihrem Tod zu überraschen. Während manche Geschichten skurril und augenzwinkernd daherkommen, entfaltet Michael Köhlmeier einen märchenhaften Zauber. In 'Der Richtige und der Falsche' führt eine Täuschung unverhofft zu einem glücklichen Leben – zumindest zeitweise. Franz Hohler erweckt eine mystische Atmosphäre in einem Schweizer Restaurant, in dem ein begehrter Ecktisch mit Panoramablick stets reserviert, doch nie belegt ist.
Während der Lektüre wurde mir erst bewusst, wie viele verschiedene Arten von Geheimnissen uns umgeben. Manche Geschichten handeln von persönlichen Geheimnissen und Fantasien, die keinem schaden, solange sie nicht preisgegeben werden. Kommen sie jedoch ans Licht, können sie Menschen nicht nur tief verletzen, sondern ihr ganzes Leben ruinieren. Die subtilen bis hinzu zerstörerischen Auswirkungen eines Geheimnisses werden von den Autoren literarisch gekonnt umgesetzt. Auch der Aberglaube und die Magie kommen nicht zu kurz und machen dem Leser deutlich, dass uns zum Glück selbst in einer hochtechnisierten Welt genügend Mysterien bleiben, die wir nicht erklären können. So soll es auch bleiben. 
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Mut zur Selbstständigkeit

Nicht wenige haben sicher schon einmal darüber nachgedacht, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Seiner Leidenschaft nachgehen und damit Geld verdienen? Eine ganz schön verlockende Vorstellung. Dass dies kein Traum bleiben muss, möchte uns Vera Bartholomay in ihrem Buch „Projekt Sehnsucht“ vermitteln.
Der Titel und vor allem der Untertitel sind sehr treffend gewählt. Es handelt sich hier nämlich nicht um eine praxisorientierte Anleitung, wie man sich selbstständig macht, sondern um ein „Mutmachbuch“. Was wäre der allererste Schritt, um solch ein Vorhaben überhaupt anzugehen? Welche persönliche Einstellung und welche Personen können mir dabei helfen? Was könnte mir im Weg stehen? Im ersten Teil des Buches fordert uns die Autorin auf, diesen und ähnlichen Fragen nachzugehen und unsere Wünsche und Ziele im Leben und Beruf klar zu formulieren.
Auch in den folgenden Kapiteln legt sie ihr Augenmerk darauf, sich Klarheit zu verschaffen, um vage Ideen in konkrete Projekte umwandeln zu können. Der Sprung zwischen den Themen erschien mir manchmal zu groß, zum Beispiel von den vorbereitenden Schritten und der Zeitplanung zur Vermarktung seines Projekts. Vera Bartholomay lässt auch verschiedene Unternehmer/innen zu Wort kommen, die zum Beispiel ein Spielzeuggeschäft betreiben, ein Online-Magazin herausbringen oder eine eigene Pralinenmarke produzieren und so ihr Herzensprojekt verwirklicht haben. Hier hätte ich mir etwas mehr inhaltliche Tiefe gewünscht.
Dafür erläutern sie am Ende des Buches, welche Motivation hinter ihrer Geschäftsidee steckt und was das Besondere in ihrer Tätigkeit ausmacht. Den Part fand ich sehr interessant, ebenso die Anregung der Autorin, darüber nachzudenken, was man im Leben bewirken und den nachfolgenden Generationen hinterlassen möchte. Sie selbst arbeitet in Saarbrücken als Therapeutin und Lehrerin für die Methode „Heilsame Berührung“.
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Funkelnder Kriminal- und Liebesroman

In seinem Roman „Das Diamantenmädchen“ bringt Ewald Arenz so einiges zum Funkeln, und das liegt nicht nur an den Diamanten, die Dreh- und Angelpunkt der Geschichte sind. Zum einen spielt sie im Berlin der Goldenen Zwanziger, wo das Leben pulsiert, die Geschäfte florieren und die glitzernde Abendgarderobe gern zur Schau getragen wird. Zum anderen verdreht die titelgebende Hauptfigur und Journalistin Lilli Kornfeld mit ihrem Charme so manchen Männern den Kopf.
Dazu zählt auch der junge Kommissar Schambacher, der mit seinem Kollegen Togotzes in einem Mordfall ermittelt. Ein schwarzer Mann, der im Besitz eines Rohdiamanten war, wurde ermordet. Zur gleichen Zeit erteilt der Staatssekretär von Schubert Lillis Jugendliebe Paul van der Lahn den geheimen Auftrag, Rohdiamanten zu schleifen. In Rückblicken erfahren wir über die enge Freundschaft zwischen Paul, Lilli und ihrem Bruder Wilhelm in Kindheitstagen und welche Rolle Diamanten dabei spielten.
Während der Kommissar auf eine heiße Spur stößt, schreibt Lilli eine Artikelserie über Diamanten, in der wir interessante Hintergründe über deren Fundorte, Bearbeitung und blutigen Geschäfte erfahren. Doch neben den begehrten Steinen gibt es ein weiteres Thema, das sich wie ein roter Faden durch den historischen Krimi zieht: welches Leid und welche grausamen Spuren der Krieg bei den Menschen hinterlassen hat. So verbirgt sich hinter der glänzenden Fassade eine tiefgründige, wendungsreiche Geschichte, die nicht nur fesselt, sondern auch durch viel Lokalkolorit, sprachlicher Eleganz und einem wunderschönen Buchcover großes Lesevergnügen bereitet.
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Auf den Spuren von Odysseus

Kein Zweifel: "Die Odyssee" von Homer ist Weltliteratur und behandelt die großen Themen der Menschheit wie Familie, Kultur und Heimat. Auch Daniel Mendelsohn, Autor und Ich-Erzähler des autobiografischen Romans „Eine Odyssee“, ist fasziniert von dem Helden der griechischen Mythologie und bringt dessen Abenteuer in einem Uni-Grundkurs seinen Studenten näher. Womit er nicht gerechnet hat: Dass sein 81-jähriger Vater Jay beschließt, ebenfalls an dem Seminar teilzunehmen und – mehr noch – dass der bisher verschlossene und abweisende Mathematiker sich ihm immer mehr öffnet.
Dabei macht er es seinem Sohn nicht leicht, wirft er doch immer wieder ein, dass Odysseus ganz und gar kein Held gewesen sei. Er habe geweint, seine Frau betrogen und sich von anderen Göttern helfen lassen. So entspinnen sich interessante Diskussionen zwischen Vater und Sohn, die von den übrigen Seminarteilnehmern amüsiert verfolgt und kommentiert werden. Sie regen auch den Leser an, über Themen wie das Unterwegssein, das Lernen, die Erziehung oder die Ehe nachzudenken.
Während der Ich-Erzähler den Inhalt, den Aufbau und die Erzähltechnik des Werkes erläutert, erfahren wir immer mehr über die problematische Beziehung zwischen ihm und seinem Vater. Im Anschluss an das Seminar unternehmen sie sogar gemeinsam eine Mittelmeerkreuzfahrt zu den Schauplätzen der Odyssee.
Ich fand es originell und unterhaltend, auf diese Art und Weise Einblick in das homerische Epos zu bekommen. Im Gegensatz zu einem Sachbuch gewinnt die Geschichte durch die Seminarform nicht nur an Dynamik, sondern durch den Bezug zu der Familiengeschichte des Autors auch eine persönliche Komponente. Die Parallelen wirkten manchmal etwas konstruiert, waren im Ganzen aber überzeugend.
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Die Magie der Besitztümer

Jedes Mal, wenn ich meine Mutter in Düsseldorf besuche, wundere ich mich, wieviel Besitz man in seinem Leben anhäufen kann. Deshalb weckte auch die biografische Geschichte "The Life of Stuff" ("Was bleibt: Über die Dinge, die wir zurücklassen") von Susannah Walker meine Neugier. Die Autorin erzählt, wie sie sich durch den Nachlass ihrer Mutter, einer Horterin, kämpfte. Jedes Kapitel ist einem Objekt wie einem roten Glasvogel, einem Serviettenring oder Kochbüchern gewidmet. Anhand dieser Gegenstände versucht sie, ihre Mutter besser kennenzulernen und sie zu verstehen. Keine leichte Aufgabe, denn sie war liebesunfähig, verließ die Familie, als die Tochter acht Jahre alt war, litt unter Depressionen und zunehmender Alkoholsucht. 
Tag für Tag fährt Susannah Walker nach Worcester, säubert die Wohnung, mistet aus und sortiert die hinterlassenen Besitztümer. Es ist fast unheimlich, wie man dabei die Präsenz der verstorbenen Mutter spürt. Ganz gleich, ob sie Fotoalben oder Geschirr beschreibt, werden entweder einige wenige glückliche Momente aus ihrer Kindheit oder auch schmerzvolle Erfahrungen wieder lebendig. Immerhin teilten Mutter und Tochter die Leidenschaft für Gegenstände und begeisterten sich für Kunst und Flohmärkte. Doch während die Mutter wahllos hortete und ihre Wohnung zumüllte, lebt die Tochter ihr Interesse beruflich aus. Sie hat in Museen gearbeitet und schreibt über die Geschichte und die verborgene Bedeutung von Häusern und Gegenständen. 
Die Magie des Ausmistens und Aufräumens liegt ja voll im Trend. Auch Susannah Walker verfolgte mit großem Interesse Fernsehreportagen über das Thema, ahnte aber sicher nicht, welche starken Emotionen dabei ausgelöst werden. Sie schwankt zwischen der Erleichterung, nicht mehr für das Glück ihrer Mutter verantwortlich zu sein, Schuldgefühlen, dass sie so empfindet, Wut und Enttäuschung. Sie trägt Schicht für Schicht ab, in der Hoffnung, nicht nur die Wohnung, sondern auch das verkorkste Leben der Mutter nachträglich wieder in Ordnung bringen zu können, was natürlich ein Trugschluss ist.
Besonders gut gefiel mir, wie sie die Beziehung zwischen Menschen und ihren Besitztümern aus verschiedensten Blickwinkeln analysiert. Sie beschreibt mögliche Gründe, warum bestimmte Objekte mit Bedeutung aufgeladen werden, welche Ausmaße dies beispielsweise auf Auktionen annehmen kann und warum manche von ihnen in Museen enden. Ein sehr persönliches Buch, das emotional aufwühlt und zum Nachdenken anregt. 
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Les Demoiselles en route

Wie kommt eine bodenständige Köchin im Markgräflerland dazu, an einem Street-Food-Wettbewerb in Monaco teilzunehmen? Genau davon erzählt der Roman „Frankreich, wir kommen!“ von Brigitte Guggisberg.
Den Traum, ein kleines Bistro in Südfrankreich zu eröffnen, hegt die Ich-Erzählerin Betty Bauer schon lange und hat sich immerhin ihre Küche in provençalischem Stil eingerichtet. Als sie nicht nur beruflich, sondern auch privat eine herbe Enttäuschung erlebt, hält sie nichts mehr in dem Dorfgasthaus 'Sonne' in Efringen-Kirchen. Gemeinsam mit der gescheiterten Studentin Iva Leonida macht sie sich in einem klapprigen Food Truck auf den Weg Richtung Süden.
In Baume-les-Dames, der ersten Station, bekommt sie einen Crash-Kurs in jurassischer Küche und lernt allerlei Käsespezialitäten kennen. Weiter geht’s in die Gourmethauptstadt Lyon und in die Provence. Mit jeder Etappe und jeder bewältigten Aufgabe wächst Betty aus sich heraus, gewinnt Selbstbewusstsein und ist entschlossen, sich zu beweisen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, wenn die Köchin die frischen Zutaten von den Märkten oder ihre ausgefallenen Kreationen beschrieb und die quirlige Atmosphäre auf den Street-Food-Märkten einfing. 
Für zusätzliche Spannung sorgt ihr Erzrivale Jan, der in einem Airstream Food Truck ebenfalls Richtung Monaco unterwegs und entschlossen ist, Betty und ihr Team zu besiegen. Ganz ohne Klischees kommt der Roman nicht aus, wenn die "Demoiselles en route" an duftenden Lavendelfelder vorbeibrettern, exzentrischen Franzosen begegnen oder sich auf Romanzen einlassen, doch das stört kein bisschen, zumal ich die Begeisterung für die Provence und den französischen Charme mit der Autorin teile. Sie schreibt so mitreißend, sprachgewandt und spritzig, dass ich das Gefühl hatte, die Sinnesfreuden auf dem kulinarischen Road Trip mitzuerleben. Da sich Food Trucks zunehmender Beliebtheit erfreuen und sich zu kleinen Gourmetküchen entwickeln, liegt Brigitte Guggisberg mit ihrem Thema zudem voll im Trend.
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Wander Widow fängt neu an

Der Titel des Buches „Nur über seine Leiche“ lässt einen komödiantischen Krimi vermuten, doch der Untertitel "Wie ich meinen Mann verlor – und verdammt viel übers Leben lernte" verrät, worum es tatsächlich geht. Brenda Strohmaier schildert, wie sie nach dem Verlust ihres Mannes ihre Trauer verarbeitete und ein neues Leben als Witwe begann. 
Auch wenn sich die 44-Jährige während der langwierigen Krebserkrankung ihres Mannes mental auf einen möglichen Tod vorbereiten konnte, fühlt sie sich völlig überfordert. Was ist alles zu organisieren? Wie hat sie sich als Witwe zu verhalten? Wie geht das Leben weiter? Eine ganze Reihe von Fragen drängen sich ihr auf. Wie sie sich einer Aufgabe nach der anderen stellte und dabei ihren Humor nicht verlor, hat sie in 31 Lektionen zusammengefasst.
Sehr schön fand ich, wie in ihrem Erfahrungsbericht das gemeinsame Leben mit ihrem Mann im Rückblick und die gegenwärtige Situation als Witwe miteinander verwoben werden. Manchmal lässt sie Erinnerungen aufleben und nimmt Abschied von gemeinsamen Tätigkeiten wie das feiertägliche Backen von Pfannkuchen. Mit der Trauerarbeit und dem Loslassen geht die Suche nach einer neuen Identität als Witwe und Single einher. Sie verschreibt sich eine Trauer-Reha Deluxe und unternimmt eine knapp sechsmonatige Weltreise von Kalifornien über Japan, Hongkong, Bali, Indonesien bis nach Australien. 
Die inhaltliche Vielfalt und gelungene Balance zwischen praktischen Tipps und persönlicher Geschichte machen das Buch zu einer sehr lesenswerten Lektüre. In manchen Passagen konnte ich mich gut mit ihr identifizieren, zum Beispiel wenn sie einen Exkurs zu spirituellen Weisheiten macht oder ihre Erfahrungen mit der Aufräummethode von Marie Kondo wiedergibt. Man merkt sofort, dass Schreiben ihr Metier und Gesellschaftstrends ihr Spezialgebiet ist. Ihr lockerer, schnoddriger Ton ist wunderbar zu lesen. Nie rutscht sie ins Sentimentale oder Sarkastische ab. 
Das Buch dürfte nicht nur für Witwen, sondern für alle, die nach einer Lebenskrise einen Neuanfang wagen wollen und bereit sind für „posttraumatisches Wachstum“, interessant sein. Über ihre Weltreise hätte ich gern noch viel mehr gelesen. Liebe Frau Strohmeier, wie wäre es mit einem zweiten Buch?
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Freundschaft kennt keine Grenzen

Ich habe in meinem Blog noch nie Kinderbücher besprochen, doch heute mache ich eine Ausnahme. Patricia Furstenberg, in Bukarest geboren und aufgewachsen, ist von Beruf Zahnärztin, schreibt aber auch Jugend- und historische Bücher. Drei ihrer Kinderbücher sind gerade vom Englischen ins Deutsche übersetzt worden. Die herzerwärmenden Geschichten und die schönen Illustrationen haben mir so gut gefallen, dass ich sie Euch vorstellen möchte.
Schon das Coverbild macht Lust auf die Geschichte "Der Elefant und das Lamm". Schauplatz ist ein Naturschutzgebiet in Südafrika. Der sechs Monate alte Elefant Themba, so erfahren wir zu Beginn, ist ein Waisenkind und wurde von einem Schaf namens Albert adoptiert. Wie es dazu kam, erzählt die Autorin in farbenfrohen, lebendigen Bildern.
Während die Tiere sich auf eine Dürreperiode einstellen, grinst die Sonne mit cooler Sonnenbrille von oben herab und schlürft genüsslich einen Cocktail. Albert und Themba begegnen sich an einer kleinen Pfütze neben einem Felsbrocken, teilen sich brüderlich das knappe Wasser und werden so dicke Freunde. Mit der Zeit fragt sich Albert, wie sein Freund es schafft, bei ihren Verabredungen stets vor ihm dazusein. Um dies herauszufinden, trickst er Themba eines Tages aus und erfährt etwas über ihn, das ihn betroffen macht. Doch sogleich hat er eine grandiose Idee, die zu einem Happy End führt. Die Geschichte zeigt, was wahre Freundschaft ausmacht und wird sicher die Herzen vieler Kinder und Eltern erwärmen. Nur der Text in Reimform liest sich teilweise etwas holprig. Ich könnte mir vorstellen, dass hier der Rhythmus und die Pointen durch die Übersetzung aus dem Englischen verloren gehen.
Auch Patricias Buch "Der Gepard und der Hund" beginnt mit dem Vergleich von zwei verschiedenen Tierarten. Da ist einmal Kasi, ein männlicher Gepard und Waisenkind, und Mtani, eine Labradorhündin. Äußerlich sehen sie ganz verschieden aus. Der Gepard hat Flecken und und ist sehr beweglich, die Hündin hat ein goldenes Fell und ist eher rundlich. Das stört die beiden jedoch keine Spur. Sie lieben beide die Jagd in den heißen Ebenen Südafrikas und haben mächtig viel Spaß miteinander. Die lebendigen Illustrationen ihres Alltags strahlen so viel Lebensfreude aus, dass man regelrecht angesteckt wird von ihrer Wonne und ihrer ausgelassenen Stimmung. Als Freunde hat man jedoch nicht nur Spaß miteinander, sondern denkt auch an den anderen und hilft sich in der Notlage. Diese Botschaft hat Patricia Furstenberg wieder in tolle Bilder verpackt. 
In der Geschichte "Der Löwe und der Hund" geht es es um einen behinderten Löwen im Käfig, der ein tristes Dasein führt. Der Dackel Milo wird auf ihn aufmerksam und besucht ihn täglich. Seine Versuche, ihn aufzumuntern, sind jedoch vergeblich. Der Löwe nimmt ihn gar nicht ernst. Doch Milo gibt nicht auf. Ähnlich wie in den anderen Kinderbüchern von Patricia Furstenberg geht es auch hier wieder um zwei Tiere, die auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten haben. Man könnte meinen, dass sie nichts miteinander anfangen können, doch die Autorin belehrt uns eines Besseren. Bei allen drei Geschichten hat sie sich von wahren Begebenheiten inspirieren lassen.
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Vom Philosophieren im Garten

Dass für so manchen Schriftsteller der Garten als Ruheoase oder Inspirationsquelle diente, ist nicht weiter erstaunlich. Verblüffend ist jedoch, was Damon Young in seinem Buch „Warum Jane Austen ohne Flieder nicht leben konnte“ zu diesem Thema zu erzählen hat. Erwartet hatte ich unterhaltsame Anekdoten aus dem Leben von mehreren berühmten Schriftsteller/innen, die eine besondere Beziehung zur Natur haben und darüber philosophieren. Doch es ist weitaus mehr. Anhand dieser Beispiele zeigt der Autor, welche unterschiedlichen Bedeutungen der Garten für einen Menschen haben kann und welche philosophischen Anschauungen sie daraus ableiten. Die Bandbreite reicht vom Sinnieren bei einem gemütlichen Spaziergang durch den Park bis hin zur körperlichen Schwerstarbeit im selbst angelegten Garten.
Für Jane Austen zum Beispiel war der Garten im Chawton Cottage in East Hampshire ein unentbehrlicher Rückzugsort, um ohne Ablenkung ihre zahlreichen Romane zu verfassen. Virginia Woolf fand in der Natur nicht nur das Rohmaterial für ihre Werke, sondern begeisterte sich auch für Blumenbepflanzung im eigenen Garten. Andere erlebten die Natur eher in der Fantasie, so wie Proust, dem drei Bonsai-Bäumchen an seinem Krankenbett dazu verhalfen, sich eine grenzenlose Botanik in seinem Zimmer vorzustellen. Auch Colette erschuf imaginär ihren idealen Garten, der auf ihre Prosa abfärbte.
Dass die Erfahrungen in und mit der Natur keineswegs immer rosig waren, schildert Damon Young am Beispiel von Sartre, Leonard Woolf oder George Orwell. So stellt er bildhaft und facettenreich die gegensätzlichen Emotionen heraus, die die Natur bei den Menschen auslösten – von Entzückung bis zum Ekel.
Obwohl es nur Bruchstücke aus dem Leben von Schriftstellern und Philosophen sind, so schafft es der Autor, ganz prägnante Miniporträts zu erschaffen. Ihre Erfahrungen in der Natur erreichen ganz unterschiedliche Dimensionen: von der Anbetung einer Rose über den Ekel vor einem Kastanienbaum bis hin zur Trauer über den Fall des „edlen Wilden“. Ich habe die Reise zu den verschiedenen botanischen Schauplätzen von England bis Sri Lanka ebenso genossen wie die lehrreichen Exkurse in die Philosophie. Das verständlich vermittelte Wissen, die gut recherchierten Details, die zahlreichen Zitate und Youngs elegante Prosa sorgen für ein wahrhaftes Lesevergnügen.
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Anekdoten eines Pianisten

Der Roman „Selbstbildnis mit russischem Klavier“ von Wolf Wondratschek handelt von einer Begegnung, die man sich in einem Wiener Kaffeehaus gut vorstellen kann: Zwei ältere Herren, ein Schriftsteller und ein einst erfolgreicher russischer Pianist, treffen aufeinander und unterhalten sich über Musik, Kunst und den Sinn des Lebens. „Unterhalten“ trifft es vielleicht nicht ganz – eher handelt es sich um einen Monolog des Pianisten Suvorin, der den Drang verspürt, seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Seine sentimentalen Erinnerungen kreisen vor allem um die Musik und die vergangenen Bühnenauftritte. Dabei beschäftigt Suvorin die Frage, ob und inwieweit die Darbietung dem Publikum gefallen muss und was für den Künstler Erfüllung bedeutet. Dabei wechselt der Autor oft von der dritten in die erste Person, so dass man nicht mehr sicher ist, ob gerade der Schriftsteller oder der Pianist erzählt. Vermutlich ist genau das beabsichtigt, denn die philosophischen Gedanken lassen sich genauso gut auf die Perspektive des Autors und den Literaturbetrieb übertragen.
Weitere zentrale Themen sind Suvorins Ehefrau, die bei einem tragischen Busunglück ums Leben kam, sowie die Hotelbars in San Remo, wo er endlich ohne lästigen Applaus spielen konnte. Das Buch enthält viele kluge Gedanken und poetische Sätze. Ich hätte mir allerdings mehr Interaktion und ein Spannungsfeld zwischen den zwei Protagonisten gewünscht.
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Unerwünschter Besuch

Eine Schwester in meinem Haus“ – Treffender könnte der Titel des Romans von Linda Olsson nicht sein. Er beschreibt nicht nur die Situation, in die die Ich-Erzählerin Maria wider Willen hineingerät, sondern auch wie fremd ihr ihre Schwester Emma ist. Hätte sie doch auf der Beerdigung ihrer Mutter bloß nicht Emma spontan nach Cadaqués eingeladen, einem kleinen Ort an der katalanischen Küste, wo sie zurückgezogen lebt.
Entsprechend qualvoll läuft das Wiedersehen ab. Es ist, als ob sich zwei Unbekannte gegenseitig vorsichtig abtasten und ja nicht zu viel von sich preisgeben. Andererseits spürt man durch ihre Andeutungen, dass viel Unausgesprochenes zwischen ihnen vorgefallen sein muss. So entsteht während ganz einfacher gemeinsamer Tätigkeiten wie beim Frühstück auf der Terrasse oder auf Spaziergängen durch den Ort immer wieder ein Spannungsfeld zwischen den beiden.
Warum Maria der Besuch so unangenehm ist, wurde für mich immer nachvollziehbarer. Zum einen beansprucht sie ihr Terrain ganz für sich allein und will sich auch nicht rechtfertigen müssen, warum sie seit einiger Zeit so plan- und ziellos lebt. Zum anderen sträubt sie sich dagegen, mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. In den Gesprächen mit ihrer Schwester ist sie jedoch über ihre zunehmende Offenheit selbst überrascht.
So haben die zwei Frauen nicht nur die Gelegenheit, verdrängte Erinnerungen ans Licht zu holen und ihre traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten, sondern auch zu erkennen, dass sie sich teilweise über all die Jahre ein falsches Bild des anderen gemacht hatten. Bald ist das Haus nicht nur von den zwei Schwestern, sondern von vielen verstorbenen Seelen bevölkert, die in den Gesprächen zum Leben erweckt werden.
Eine Familiengeschichte auf dieses Art und Weise zu erzählen und sie in das malerische Setting einzubetten, fand ich sehr originell. Die wirklich spannenden Dinge spielen sich allerdings auf psychologischer Ebene ab und stehen zwischen den Zeilen.
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Die erste und einzige Liebe

Der 19-jährige Paul und die 48-jährige Susan verlieben sich ineinander und beginnen eine Beziehung. Aus diesem Plot hätte eine banale Liebesgeschichte werden können. Was der Schriftsteller Julian Barnes in "The Only Story" ("Die einzige Geschichte") aus dem Stoff macht, ist jedoch alles andere als banal.
Ungewöhnlich ist zunächst, dass der Ich-Erzähler Paul den Leser direkt anspricht und deutlich macht, dass er diese eine Geschichte, die in seinem Leben wirklich zählt – daher der Titel – so genau und wahrheitsgetreu wie möglich wiedergeben will. Sie beginnt vor 50 Jahren, als er im Tennisclub eines Londoner Vorortes die verheiratete Susan Mcleod kennen- und lieben lernt. Ihre Liebe, so bekommt man den Eindruck, ist wahrhaftig, stark und lässt keine Zweifel zu.
Interessant ist, wie von diesem gemeinsamen Startpunkt aus sich die Liebe unterschiedlich für die beiden entwickelt. Während für den unbedarften Studenten Susan und das Gelingen der Beziehung zum Lebensinhalt wird, wird diese von ihrer Vergangenheit eingeholt. Welche seelischen Altlasten sie aus ihrer gescheiterten Ehe mit sich herumschleppt, wird erst im zweiten Teil enthüllt. Entsprechend schlägt auch der Ton im zweiten Teil um. Von der leichten und beschwingten Stimmung ist nichts mehr zu spüren. Die Beziehung steuert immer mehr einer Katastrophe zu, die Paul trotz größter Bemühungen nicht abwenden kann.
Jeder junge Mensch muss sich dem Ernst des Lebens stellen und „erwachsen“ werden, doch was Paul zugemutet wird, ist harter Tobak. Mich hat zutiefst bewegt, wie sich seine Zuneigung und sein Verantwortungsgefühl allmählich in Schuldgefühle verwandeln, weil er offensichtlich Susan nicht glücklich machen kann. Er möchte das, was ihn mit ihr verbindet, als etwas Besonderes ansehen und muss feststellen, dass er in ein gängiges Muster hineingeraten ist. Julian Barnes beleuchtet jeden Blickwinkel dieser tragischen Beziehung und die changierenden Gefühlslagen – von Hoffnung bis zur Ohnmacht – so detailliert und lebensnah, dass man sich bis zum Schluss der Sogwirkung nicht entziehen kann.
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Witzig, schräg, verstörend

Was tut man nicht alles, wenn man glaubt, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben! Eleanor Oliphant, Heldin des Romans "Eleanor Oliphant Is Completely Fine" („Ich, Eleanor Oliphant“) von Gail Honeyman nimmt so einiges auf sich, um sich auf ihr erstes Date mit dem Auserkorenen vorzubereiten: Sie kauft sich ein Notebook, um Recherchen über den Sänger einer Rockband anzustellen, geht mit ihrem Kollegen Raymond aus der IT aus, um schon einmal zu üben und arbeitet an ihrer äußeren Verwandlung.
Das Ganze ist umso erstaunlicher, als dass die Buchhalterin ein geregeltes und möglichst unauffälliges Leben führt. Ihre Mutter, mit der sie jeden Mittwoch telefoniert, wirft ihr Gemeinheiten an den Kopf, die nicht nur für sie, sondern auch für den Leser nur schwer zu ertragen sind. Kein Wunder, dass Eleanor den Kontakt zur Außenwelt auf ein Minimum reduziert. Die Schwärmerei für den Sänger erschien mir zu dem Zeitpunkt noch sehr unglaubwürdig.
Es ist weniger ihr neuer Schwarm – der noch nichts von seinem Glück ahnt – sondern vielmehr der Kollege Raymond und die gemeinsamen Erlebnisse, die sie allmählich aus der Reserve locken. Beim Besuch seiner Mutter erfährt sie das erste Mal Wärme und Anteilnahme, ebenso bei der Begegnung mit dem Rentner Sam, dem sie das Leben retten.
Die Geschichte liest sich stellenweise wie eine bissige und herrlich witzige Chick-Lit, teilweise aber auch wie ein Entwicklungsroman, in der eine Frau neue Dinge ausprobiert und sich immer mehr den Möglichkeiten und schönen Seiten des Lebens öffnet. Mit jedem Schritt, den sie aus sich herausgeht, reagiert auch die Außenwelt darauf und bietet ihr neue Chancen wie die Beförderung zur Office Managerin. Im zweiten Teil schlägt der Roman ganz andere Töne an, denn hier wird Eleanors traumatisches Kindheitserlebnis offenbart und verarbeitet – teilweise in etwas langatmigen Passagen. Im Ganzen bietet das Buch gelungene Unterhaltung mit starken Emotionen, Tiefgang und Stoff zum Nachdenken.
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Wie kommt der Film in meinen Kopf?

„Letzte Nacht habe ich ja wieder was total Verrücktes geträumt!“ Nicht selten wundere ich mich morgens über meine überbordende Fantasie und versuche, die wirren nächtlichen Erlebnisse zu rekonstruieren. Oft frage ich mich, warum ausgerechnet Figur x oder y plötzlich in meinem Traum auftaucht, obwohl ich tagsüber keinen Gedanken an sie verschwendet habe. Oder ich versuche, wiederkehrende Motive zu deuten.
Aufschlussreiche Erklärungen fand ich nun in dem Buch „Träume – Eine Reise in die innere Wirklichkeit“ von Stefan Klein. Er erläutert zunächst, welchen großen Stellenwert Träume in der Antike hatten und wie es neugierigen und hartnäckigen Forschern gelungen ist, sie greifbar zu machen. Er weist auf erstaunliche Phänomene hin, zum Beispiel dass Blinde genauso in Bildern träumen wie Menschen mit Augenlicht; oder dass wir in Träumen die absurdesten Dinge kritiklos hinnehmen und Dinge mit uns geschehen lassen statt uns dagegen aufzulehnen.
Der Autor schreibt sehr anschaulich und unterhaltsam, ganz gleich ob er die verschiedenen Schlafphasen und Gehirnaktivitäten erklärt oder typische Traumarten beschreibt. In seinem Text schwingt eine Faszination mit, die ansteckend ist. Ich war zum Beispiel überrascht, wozu Schlafwandler fähig sind – dieser Abschnitt las sich fast wie ein Krimi. Der Wissenschaftsjournalist serviert nicht alle Erkenntnisse gleich auf dem Präsentierteller, sondern baut einen Spannungsbogen auf, vermittelt uns nach und nach die Fortschritte der Traumforschung und lockert den Text mit geschichtlichen Anekdoten oder eigenen Erlebnissen auf.
Anscheinend muss ich mir keine Gedanken machen, dass ich oft von bevorstehenden Abiturprüfungen oder wichtigen Terminen träume, die ich verpasse. Damit stehe ich nicht allein. Laut Klein gleichen wir aktuelle Eindrücke mit gespeicherten Erfahrungen ab, häufig auch aus der Kindheit, wo die Erlebnisse besonders intensiv waren. Wenn ich das nächste Mal wieder etwas Verrücktes träume, koste ich einfach diese „Triumphe der menschlichen Vorstellungskraft“ aus.
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Indienreise statt Seniorenyoga

Der Roman „Nein! Ich geh nicht zum Seniorenyoga!“ von Virginia Ironside beginnt mit einer Silvesterparty im Haus der Hauptfigur Marie Sharp. Freunde und Familie sind versammelt, so dass man als Leser gleich einen guten Überblick über das bunte Ensemble bekommt. Das ist vor allem hilfreich, wenn man so wie ich die vorangegangenen Tagebücher von Marie noch nicht kennt.
Die 69-jährige lebt in London und ist geschieden, hat jedoch die Beziehung zu ihrem Ex wieder aufgewärmt. Die harmonische Eintracht wird jäh gestört, als der spirituell angehauchte Untetmieter Robin bei ihr einzieht. Dieser räuchert die ganze Wohnung, um sie vor Einbrechern zu schützen, vergisst jedoch die Gartentür, was schwerwiegende Folgen hat.
Die Erlebnisse und Gedanken, die Marie in ihrem Tagebuch notiert, decken die ganze Bandbreite ab – von brüllend komisch über turbulent und verrückt bis hin zu schmerzvoll und tragisch. Ich war positiv überrascht, dass sich die Geschichten nicht nur um das Älterwerden und typische Generationskonflikte drehen. Wenn Marie dem Drängen ihres Enkels nachgibt und einen Apple Store aufsucht, um sich ein iPhone zuzulegen, wird der Kauf amüsant und zugleich realistisch geschildert. Sie lebt nach ihren Prinzipien, ist aber auch in der Lage, aus Rücksicht oder Empathie für ihre Mitmenschen nachzugeben.
Ein besonderes Highlight ist Maries Reise mit ihren Freundinnen nach Indien. Es fällt ihr sichtlich schwer, sich vom Diener ihrer Gastgeber von vorne bis hinten bedienen zu lassen. Auch hier wird ihre Figur nuancenreich gezeichnet. Mal lässt sie ihren bissigen Humor aufblitzen, dann wieder überrascht sie durch eine empfindsame und warmherzige Seite. Im Laufe der Geschichte muss Marie noch so manche Rückschläge erleiden und zeigt, wie verletzlich, aber auch stark sie ist. Ihre Lebensfreude ist ansteckend. Zum Schluss ist mir die Figur richtig ans Herz gewachsen.
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Aussichtspunkte im Leben

Jeder hat sie sicher schon erlebt – die Schlüsselmomente, die das Leben in wenigen Sekunden in eine neue Richtung lenken, ausgelöst durch einen Satz, einen Gedanken oder Hinweis. Dorothee Röhrig nennt sie magische Momente und stellt ihre persönlichen fünf in ihrem autobiografischen Sachbuch "Die fünf magischen Momente des Lebens" vor.
Zuvor erläutert sie, warum es sich lohnt, sich diese prägenden Augenblicke in Erinnerung zu rufen. Für sie sind es „Aussichtspunkte auf der Lebensstrecke“, die uns dabei unterstützen, unsere Lebensgeschichte zu verstehen. Mediziner, Hirnforscher, Psychologen und Philosophen kommen ebenfalls zu Wort, so dass wir das Thema in einem größeren Zusammenhang betrachten können.
Die Autorin spannt uns ganz schön auf die Folter, bis sie ihren eigenen ersten magischen Moment enthüllt. Auch mit den übrigen lässt sie sich Zeit und baut so einen Spannungsbogen auf. Sympathisch ist, wie behutsam und offen sie den Leser anspricht und – mal staunend, mal zweifelnd – aus ihrem Leben erzählt. Sie schafft eine so lebendige Atmosphäre, dass man ihre Gefühle und Stimmungen gut nachempfinden kann – zum Beispiel ihre Aufregung bei einem Interview mit Karl Lagerfeld. Sie lässt auch Freunde, Bekannte und Prominente ihre Wendepunkte schildern. Diese sehr persönlichen Erfahrungsberichte waren für mich eine besondere Bereicherung und ein schöner Ausgleich zu den Expertenmeinungen.
Da ich mich viel mit dem Thema Selbsterkenntnis beschäftige, waren mir die meisten Gedanken nicht ganz neu. Manchmal schien mir die Linie zwischen Schlüsselmomenten und ganz allgemeinen Glücksmomenten auch nicht ganz eindeutig. Trotzdem konnte ich wertvolle Anregungen mitnehmen, zum Beispiel im Alltag noch achtsamer und offener für diese magischen Momente zu sein, um die Fülle der Möglichkeiten im Leben voll auszuschöpfen.
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Der Freund des Opfers

Der französische Schriftsteller Jean-Philippe Blondel hat mich immer wieder mit bewegenden Lebensgeschichten und raffinierter Dramaturgie begeistert. Sein jüngster Roman „Ein Winter in Paris“ zählt zu den eher leisen, melancholischen Geschichten. Er lässt sich in zwei Hälften teilen: Alles, was vor und was nach dem Selbstmord von Mathieu Lestaing geschieht. Dabei spielt dieser eher eine Nebenrolle. Vielmehr nimmt sich der französische Autor derer an, die zurückgelassen werden und sich mit seinem Tod auseinandersetzen müssen.
Da wäre zum einen der Ich-Erzähler Victor, der mit 19 Jahren nach Paris gezogen ist, um Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfung an einer Elite-Uni zu belegen. Am Lycée D. findet er kaum Anschluss, lebt einsam und zurückgezogen, bis er in den Raucherpausen Mathieu Lestaing kennenlernt. Es hätte der Anfang einer Freundschaft sein können, doch soweit kommt es nicht: Im Treppenhaus des Lycées stürzt sich Mathieu in den Tod.
Schüler und Lehrer reagieren gleichermaßen betroffen und interessieren sich auf einmal für den „Freund des Opfers“. Besonders der Musterschüler Paul Rialto sucht immer wieder Victors Nähe und verabredet sich mit ihm. Für Patrick Lestaing, den trauernden Vater Mathieus, wird Victor der letzte Anker und fast so etwas wie ein Ersatzsohn. Einerseits genießt es Victor, endlich sichtbar für die anderen zu sein und im Mittelpunkt zu stehen, andererseits plagen ihn Schuldgefühle, da dies auf Kosten des Verstorbenen geschieht. Diese ambivalenten Gefühle beschreibt Blondel mit viel Gespür für feine Nuancen.
Der Roman kreist um Themen wie zwischenmenschliche Beziehungen, Anerkennung, Leistungsdruck und Einsamkeit. Eindringlich beleuchtet der Autor, wie der Selbstmord eines jungen Mannes den Alltag der Hinterbliebenen auf den Kopf stellt und das Leben doch trotz allem irgendwie weitergeht.
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Schicksal einer Bauhausschülerin

„Es ist merkwürdig. In wenigen Minuten werde ich Millionär sein. Vielfacher Millionär.“ Mal ehrlich, wer könnte bei dem Einstieg aufhören zu lesen? Dabei spielt der Glückspilz in dem Roman „Wenn Martha tanzt“ von Tom Saller gar nicht mal die Hauptrolle. Es geht vielmehr um seine Urgroßmutter Martha, deren Notizbuch er entdeckt und für fünfundvierzig Millionen Dollar bei Sotheby’s in New York versteigert.
Im Folgenden erfahren wir nicht nur, warum diese schwarze Kladde so viel wert ist, sondern auch die bewegende Lebensgeschichte der Besitzerin. Der Autor hat ein besonderes Talent, die Handlung in bildreiche Settings zu setzen, die alle Sinne ansprechen: zum Beispiel den Haushalt der Musikerfamilie, in der Martha aufwächst und ihre Begabung, Töne zu sehen, zunächst verkannt wird; später der Studienalltag am Weimarer Bauhaus, wo Martha den Ausdruckstanz für sich entdeckt.
Tom Saller vermittelt nicht nur ein authentisches Bild der künstlerischen Welt und ihren Ideen, sondern schildert auch den zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Druck und die Erschütterungen durch die Machtübernahme der Nazis und den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Der Wechsel zwischen der Handlung in der Gegenwart aus der Sicht des Urenkels und der Vergangenheit und so manch unerwartete Wendungen in Marthas Leben erhöhen die Spannung ungemein, so dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte.
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Haarsträubende Machenschaften

Der Titel lässt vermuten, dass sich der Roman „Die Sache mit Norma“ von Sofi Oksanen um besagte Figur dreht. Eine tragende Rolle spielt aber vor allem ihre Haarpracht, die sie unter einem Turban versteckt. Die Autorin hat Normas Locken regelrecht Leben eingehaucht: Sie wachsen nicht nur extrem schnell, sondern können auch den Gemüts- und Gesundheitszustand anderer Menschen erkennen. Zugleich sind sie Objekt der Begierde und stacheln die Sensations- und Profitgier weltweit agierender Clans an.
Inwiefern das alles mit dem angeblichen Selbstmord ihrer Mutter Anita zusammenhängt, erfährt Norma erst, nachdem sie in deren Wohnung auf enthüllende Videoaufzeichnungen stößt. Allmählich kann sie den zwielichtigen Max Lambert, der sie während der Beerdigung ansprach und sich als guter Freund der Mutter ausgab, einordnen und begreift, in welche Machenschaften und Intrigen diese verwickelt war.
Der Roman ist eine Mischung aus Thriller, Familiendrama und Märchen und lässt sich in keine Schublade stecken. Und genau darin liegt für mich das Problem. Obwohl das Thema rund um den Haarkult, Haarverlängerungen, Schönheitsidealen und mafiösen Geschäften höchst spannend und brisant ist, konnte mich die Geschichte nicht richtig packen. Sie enthält zu viele Figuren, die nur oberflächlich charakterisiert werden, und zu viele Handlungsstränge, denen man nur schwer folgen kann. Auch der Erzählstil war mir zu distanziert und emotionslos. Die auf dem Klappentext angekündigte Dramatik und Magie hat sich für mich trotz vieler interessanter Ansätze leider nicht entfaltet.
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Die Nachtwächterin und der Wolf

Architektin, Journalistin, Anwältin… Das sind die typischen Berufe, in denen Romanheldinnen gerne glänzen, aber Nachtwächterin? Diese doch eher ungewöhnliche Tätigkeit hat sich die Ich-Erzählerin des Romans „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari ausgesucht, und das auch noch in einer Verpackungsfabrik, die kurz vor der Schließung steht.
Langweilig wird es ihr immerhin nicht, denn ein Wolf wurde auf dem Fabriksgelände gesichtet. So drehen sich die Gespräche unter der verbliebenen Belegschaft nur noch um diese latente Bedrohung und wie man sich durch Zäune und Fallgruben vor dem Tier schützen kann. Das meiste in dieser Geschichte passiert jedoch in der Fantasie der Nachtwächterin. Wann und wo wird der Wolf auftauchen? Wird er allein kommen oder im Rudel?
Als sie eines Tages von einem Vorfall erfährt, bei dem ein Mann von einem Flugzeug abstürzte, lässt sie diese Geschichte nicht mehr los. Sie kann es nicht fassen, dass man seine Identität nicht feststellen konnte, als hätte er auf dieser Welt gar nicht existiert. Ähnlich wie beim Wolf geht es auch hier wieder um die Frage der Existenz, der Identität und die Bedeutung des Einzelnen im Universum.
Der Anfang des Romans klang für mich sehr vielversprechend. Auch die kurze und prägnante Sprache der Schweizer Autorin hat etwas Faszinierendes, doch als der Mann, der vom Himmel fiel, den Großteil der Geschichte einnahm, verlor ich allmählich das Interesse. Die Botschaft, die ich mitgenommen habe, ist, dass Menschen, Fabriken und Arbeitsplätze jederzeit verschwinden können und es nicht möglich ist, sich vor Veränderungen oder Bedrohungen zu schützen. Dort, wo Dinge verschwinden, ist dafür Platz, Neues zu erschaffen und „noch alles möglich“.
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Zeit für einen Neuanfang

Der Roman "Weich unter meinen Füßen" von Cinzia Tanzella beginnt mit einer Situation, die einigen Frauen bekannt vorkommen dürfte: Viivi wird von einem Tag auf den anderen von ihrem Freund Lukas verlassen. Kein Wunder, dass sie aus allen Wolken fällt und an nichts anderes denken kann. Besonders schmerzhaft ist ja, dass der Ex-Partner einen anscheinend gar nicht vermisst, während man selber vor Sehnsucht umkommt und bereit wäre, ihn sofort wieder mit offenen Armen aufzunehmen. Dieses Gefühl konnte ich gut nachvollziehen. Allerdings fragte ich mich, wie es zu der Trennung kam und ob es schon vorher Anzeichen einer Krise gab. Die Erklärung folgt erst einige Kapitel später.
Viivi mag keine langen Telefonate und hat ständig mit Problemen im Haushalt zu kämpfen. Auch darin konnte ich mich gut mir ihr identifizieren. Sie geht zu einer Kartenlegerin und nimmt Salsastunden, um auf andere Gedanken zu kommen. Aus meiner Sicht wurde es jedoch allmählich Zeit für eine grundlegende Veränderung in ihrem Leben, sei es beruflich oder durch ein erfüllendes Hobby. Tatsächlich entdeckt sie eine neue Beschäftigung: die Fotografie. Doch so richtig glücklich kam mir Viivi immer noch nicht vor. Die Einsamkeit bleibt bis zum Schluss. Nicht mal auf der Vernissage, wo sie Grund hätte, ihren Erfolg zu feiern, fühlt sie sich unwohl in der Gesellschaft.
Dramaturgisch hätte ich mir mehr Wendungen gewünscht. So ist der Plot ziemlich geradlinig. Die Protagonistin bleibt bis zum Schluss sehr selbstbezogen und entwickelt sich kaum weiter. Sprachlich gefielen mir die Stellen, in denen Viivi ihre Empfindungen beschreibt, besonders beim Fotografieren in der Natur. Die Geschichte hinterließ bei mir eine melancholische und traurige Stimmung. Es geht um eine verlassene und enttäuschte Frau, die auf eigene Faust ihr Glück im Leben sucht. Dazu hätte sie jedoch etwas mehr an sich und ihrer Einstellung zu ihren Mitmenschen arbeiten müssen.
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Literarische Schnitzeljagd

Für die einen wäre es DER Traum, für die anderen eine große Last: Miranda Brooks, Heldin der Erzählung „The Book Shop of Yesterdays“ („Ein Himmel voller Bücher“) von Amy Meyerson erbt von ihrem Onkel Billy seine Buchhandlung. Zumindest dachte sie bis zu seinem Tod, dass er der Besitzer war. Die Verwirrung ist groß, als sie erfährt, dass „Prospero Books“ seiner Frau Evelyn gehörte – zumal sie nicht einmal wusste, dass Billy verheiratet war.
Diese Erkenntnis bringt das Leben der Geschichtslehrerin ganz schön durcheinander. Billy, zu der Miranda bis zu ihrem zwölften Lebensjahr eine sehr enge Beziehung hatte, hinterlässt ihr nicht nur einen Laden in Los Angeles, der kurz vor dem Bankrott steht, sondern schickt sie post mortem auf eine Schnitzeljagd. Offensichtlich lag ihm viel daran, dass seine Nichte ein großes Familiengeheimnis aufdeckt und versteht, warum er vor 16 Jahren plötzlich den Kontakt zu ihr abbrach.
Literaturbegeisterte werden ihre Freude daran haben, Miranda auf der Spurensuche zu begleiten und Billys Botschaften zu enträtseln, die in die Welt der großen Klassiker führen. Dieser Plot wird mit einem zweiten Handlungsstrang verwoben, die sich um die Rettung der Buchhandlung dreht. Man kann gut nachfühlen, dass sich die Protagonistin von ihrer Familie und den Kollegen in der Buchhandlung ausgeschlossen fühlt. Alle scheinen etwas vor ihr zu verheimlichen, sogar ihre Mutter. Trotz allem war mir dieser Part besonders zum Ende hin zu langatmig. Amy Meyerson schreibt flüssig und bildreich, hätte aber ruhig auf ein paar Nebenhandlungen verzichten und die Erzählung straffen können.
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Ein Wort sucht seine Bestimmung

Habt Ihr Euch schon mal gefragt, was mit den Wörtern passiert, die Ihr ausgesprochen habt? Ich jedenfalls nicht, bis ich „Der Wortschatz“ von Elias Vorpahl gelesen habe. In diesem Roman sind Stimmbänder für Wörter eine Bedrohung, denn es ist gefährlich, von einem Menschen hinausgeschrien zu werden. Und genau das passiert einem jungen Wort, das die Hauptrolle spielt.
Dies ist nur eine der vielen verrückten Ideen, die sich der Autor in seiner bezaubernden Geschichte einfallen lässt. Noch nie wurden meines Wissens die Bildung von Wortpaaren, das Zusammenführen von Artikel und Wort oder das Verschwinden von Wörtern aus unserem Sprachgebrauch so lebendig und fantasievoll in Szene gesetzt.
Das Wort, das sich auf die Suche nach seiner eigenen Geschichte und seiner Bestimmung begibt, begreift anhand von Begegnungen und Abenteuern, wie abhängig die Wörter von Menschen sind und wie wichtig es ist, achtsam mit Wörtern umzugehen. Es lernt auch, wie Geschichten in unserer Fantasie entstehen und anderen vermittelt werden. Nicht alle Episoden haben sich mir erschlossen, doch Vorpahls Romanidee und seine sprachliche Experimentierfreude haben mir großes Lesevergnügen bereitet.
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Scheinbare Eheidylle

Menschen planen aus ganz unterschiedlichen Gründen eine Reise: Sie wollen sich erholen, neue Länder kennenlernen – oder auch nur ihren Alltagstrott durchbrechen und wieder Schwung in ihre Ehe bringen, so wie das Rentnerpaar Stella und Gerry in dem Roman „Schnee in Amsterdam“ von Bernard MacLaverty.
Ihr Städtetrip von Glasgow nach Amsterdam verläuft ziemlich unspektakulär und wird dennoch sehr detailliert beschrieben. Im Vordergrund stehen dabei weniger ihre Eindrücke von der Stadt als vielmehr ihr Umgang miteinander. Für den Leser ist es schwer, ihre Beziehung einzuschätzen. Vertraute Gesten und Rituale kennzeichnen ihre langjährige Ehe und man hat den Eindruck, dass noch eine starke emotionale Bindung zwischen ihnen besteht. Diese wird jedoch stark getrübt durch Gerrys Trinksucht einerseits und Stellas Flucht in ihren Glauben andererseits.
Ihr seltsames Verhalten versteht man erst, als man von einem Gelübde erfährt, das sie vor langer Zeit abgelegt hat, und sich während dieser Reise immer mehr in den Vordergrund drängt. Auf einmal stellt sich heraus, dass Stella von Anfang an ihren ganz eigenen Plan verfolgte.
Für mich hatte der Roman Höhen und Tiefen. Interessant fand ich vor allem, welche Kluft in einer Ehe entstehen kann, wenn ein Partner neue Perspektiven und einen Lebenssinn im Alter sucht, während der andere so weitermachen möchte wie bisher. Sehr subtil vermittelt MacLaverty den schmalen Grat zwischen gewohnter Vertrautheit und allmählicher Entfremdung.
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Leiden und Fantasien eines alten Mannes

Wollen versus Können – dieser tragische Kontrast fällt mir ein, wenn ich mir den 77-jährigen Utsugi Tokusuke, Hauptfigur des Romans „Die Fußspur Buddhas“ von Jun’ichiro Tanizaki, vorstelle. Dabei ist 'wollen' nicht nur abstrakt, sondern durchaus körperlich zu verstehen. Objekt seiner Wolllust und seines Begehrens sind schöne Frauen im Allgemeinen und seine Schwiegertochter Satsuko im Speziellen, wie wir seinen Tagebucheinträgen entnehmen können. Ganz schön pervers, könnte man meinen, doch Satsuko zeigt sich keineswegs abgeneigt gegenüber seinen Annäherungsversuchen, ja stachelt ihn geradezu an. Sie scheint die Spielchen auszukosten und noch mehr die teuren Geschenke, die sie im Gegenzug erhält. Immer wieder wird der Gegensatz zwischen der Schönheit, Jugend und Weiblichkeit der ehemaligen Revue-Tänzerin und der Hässlichkeit des alten Mannes herausgestellt.
Während mich Utsugis detaillierte Krankengeschichte und Behandlungen ein wenig ermüdete, amüsierte mich seine Selbstironie. Seine erotischen Fantasien vermischen sich mit Minderwertigkeitsgefühlen angesichts seines körperlichen Verfalls und Zweifeln an seiner geistigen Verfassung. Das führt sogar soweit, dass er seine eigenen Atemgeräusche mit dem Zirpen einer Grille verwechselt – ein ganz typisches Beispiel für Tanizakis Humor.
Mit subtilen Andeutungen, Sinn für Ästhetik und viel Empathie für den Protagonisten taucht Jun’ichiro Tanizaki tief in die Psyche eines alternden Mannes ein, der schon eine Grabstätte für sich in Kyoto aussucht, sich aber nur schwer von den schönen Dingen im Leben trennen kann.
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Mordlust und Pathos

Zeus, Hera, Apollo, Athena – das sind Namen, die etwas Erhabenes ausstrahlen. Wen wundert's, es handelt sich ja auch um griechische Göttinnen und Götter. Dass es in dieser Welt weiß Gott nicht nur göttlich zuging, sondern mitunter so brutal wie in einem Splatter-Film und so pathetisch wie in einer Telenovela, erfährt man in dem Buch „Mythos. Was uns die Götter heute sagen“ von Stephen Fry.
Endlich begreift man die chronologische Abfolge und die großen Zusammenhänge der Sagen – vom Chaos über die erste und zweite Generation, den Kampf der Titanen bis zur dritten Generation. Man kann sich unmöglich die ganzen Namen merken, so groß ist das Figurenkabinett, das uns der Autor vorstellt. Da freut man sich direkt, wenn einem ein Name und die dazugehörige Geschichte bekannt vorkommt wie Demeter, Apollo oder Dionysos.
So komplex und chaotisch die Beziehungen untereinander auch sind, Stephen Fry gelingt es, uns mit großartigem Humor und Erzähltalent durch die Götterwelt zu navigieren wie in einer spannende Gute-Nacht-Geschichte. Mal jagten mir die Gier und Mordlust der Götter einen Schauer über den Rücken, dann wieder konnte ich über so viel Begierde und Zügellosigkeit nur den Kopf schütteln.
Besonders spannend wurde es, als die Menschen erschaffen wurden und nun Götter, Halbgötter und sterbliche Wesen miteinander auskommen mussten. Im letzten Drittel trat bei mir eine gewisse Ermüdung ein, was aber weniger am Erzählstil und mehr am Umfang der griechischen Mythen lag. Im Ganzen habe ich auf sehr unterhaltsame Weise einen Einblick in die Welt der griechischen Mythologie bekommen und überraschend festgestellt, wie viele Spuren sie in unserer Sprache und in der Literatur hinterlassen haben.
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The city that never sleeps

Der Roman "Rules of Civility" („Eine Frage der Höflichkeit“) von Amor Towles beginnt am Silvesterabend 1937 in New York – ein Setting, das eine Geschichte voller Glamour verspricht à la „The Great Gatsby“. Die Freundinnen Eve und Kate lernen in einer Jazz-Bar den attraktiven Banker Tinker Grey kennen und starten in prickelnder Stimmung mit reichlich Champagner in ein verheißungsvolles neues Jahr.
Das Dreiergespann vergnügt sich in den feinsten Clubs der Stadt, doch ein schwerer Autounfall setzt dem fröhlich-dekadenten Lebensstil ein jähes Ende. Tinker, der eigentlich Kate liebt, nimmt aus Schuldgefühlen die schwer verletzte Eve in seine exklusive Wohnung am Central Park auf. Während das Paar auf Europa-Reise geht, baut sich Kate mühsam eine Karriere auf und steigt von der Sekretärin in einem Anwaltsbüro zur Assistentin in der Redaktion eines renommierten Magazins auf.
Zwei Dinge machen den besonderen Reiz dieses Romans aus: Zum einen die atmosphärischen und detailreichen Beschreibungen der Locations, die das New York der 30er Jahre lebendig werden lassen – sei es Tinkers durchgestylte Art-Déco-Wohnung, der Arbeitsalltag der Sekretärinnen in den Großraumbüros oder die schillernden Parties der Schönen und Reichen. Zum anderen zeigt Amor Towles anhand der komplexen Beziehung zwischen Kate, Eve und Tinker, deren Wege sich immer wieder kreuzen, wie schnell man Opfer einer schicksalhaften Wendung oder auch perfekten Täuschung werden kann.
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Frauen erobern die Stadt

Flanieren und Schreiben gehen Hand in Hand. Das zeigt erneut ein aktuelles Buch aus der Feder von Lauren Elkin. In "Flâneuse" ist jedes Kapitel einer Stadt gewidmet, durch die die Autorin entweder selbst spaziert oder in der sie sich auf die Spuren von berühmten Schriftstellerinnen, Romanfiguren oder historischen Ereignissen begibt.
Für Virginia Woolf zum Beispiel waren die Straßen von London und die Gespräche von Passanten eine wahre Fundgrube für Geschichten. Nicht nur sie selbst, auch ihre Protagonistinnen lieben es, durch die Stadt zu schlendern, auch wenn dies damals gesellschaftlich verpönt war. George Sand stellte es ganz clever an: Sie schlüpfte einfach in Männerkleidung, um ungehindert Paris erkunden zu können. Flanieren ist in ihrer Autobiografie ein konstantes Thema.
So lesen sich viele Kapitel wie literarische Abhandlungen. Persönlicher wird Lauren Elkin, als sie von ihrem einmonatigen Aufenthalt in Venedig erzählt und eine Kunsthistorikerin als Romanfigur ins Leben ruft. Dass Flanieren nicht nur Freude bereitet, erlebt sie in Tokio, wo sie gezwungenermaßen ihrem Freund folgt. Die Großstadt ist so zerklüftet, dass sie sich nur schwer zu Fuß erkunden lässt.
Lauren Elkin schweift in ihrem Buch sehr weit aus, mäandert durch literarische, historische und politische Themen und beschreibt Schauplätze von Rebellionen und Demonstrationen. Mit Flanieren hat das für mich wenig zu tun. Ist man bereit, auch mal vom Weg abzukommen und sich in unbekannte Seitenstraßen treiben zu lassen, wird man bei der Lektüre auf manch interessante Entdeckungen stoßen.
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Alltagsgeschichten aus einer amerikanischen Kleinstadt

Alles ist möglich“ ist mein erstes Buch von Elizabeth Strout. Die Figur Lucy Barton aus ihrem Vorgängerroman kannte ich daher nicht. Sie wird jedoch schon in der ersten Erzählung indirekt eingeführt und charakterisiert. Im Laufe der Lektüre begreift man ziemlich schnell, warum Lucy ihre Heimatstadt Amgash in Illinois verlassen hat und nun in New York als Schriftstellerin lebt: Ihre Familie war bettelarm und wurde von der Dorfgemeinschaft verspottet.
In jeder Erzählung knöpft sich die Autorin einen anderen Bewohner heraus und entfaltet so vor unseren Augen einen Kleinstadtkosmos mit seinen zur Schau getragenen und verborgenen Seiten. Dabei treten nicht nur überraschende Beziehungen, sondern auch dunkle Geheimnisse zutage. Die Charaktere sprechen viel über ihre Vergangenheit und Tiefschläge, als wollten sie dadurch ihr Leben besser verstehen.
Obwohl ich mit dem Alltag in einer amerikanischen Kleinstadt kaum Berührungspunkte habe, hat mich jede Geschichte in den Bann gezogen. Das liegt daran, dass Strout sehr nah an ihren Figuren erzählt und deren Sehnsüchte und bittere Erfahrungen spürbar macht: Da gibt es einen Mann, der am Vietnamkrieg zerbrochen ist, eine Mutter, die bereit ist zu sterben, es ihrer Tochter aber nicht sagen kann, Menschen, die sich ganz unvermittelt dem Gesprächspartner öffnen und wiederum andere, die ihre schmerzlichen Erlebnisse nicht in Worte fassen können.
Der Reigen dieser meisterhaften Erzählungen, die alle miteinander zusammenhängen, hätte von mir aus noch ewig so weitergehen können. Vor allem vermitteln sie, wie der Buchtitel andeutet – eine optimistische Botschaft: Auch in einer verkorksten Gesellschaft sind Freundlichkeit, Mitgefühl und Liebe möglich.
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Entwurzelt und gefangen

Hätte ich das Buch „Das Lager in der Wüste“ von Yoshiko Uchida nicht gelesen, hätte ich wohl nie etwas über das Schicksal der Issei und Nisei erfahren. Die Eltern der Autorin zählen zu den Issei – so bezeichnet man die erste Generation der Japaner, die in die Vereinigten Staaten auswanderten – und ließen sich in Kalifornien nieder.
Uchida beschreibt zunächst ihre Kindheit und schildert sehr offen ihren Zwiespalt als japanischstämmige Amerikanerin. Sie fühlt sich wie eine Amerikanerin und möchte als vollwertiges gesellschaftliches Mitglied akzeptiert werden, ist aber durch die Erziehung auch durch japanische Werte geprägt. In beiden Nationalitäten fühlt sie sich wegen der ausländerfeindlichen Haltung minderwertig und flüchtet sich in die Gesellschaft und studentischen Aktivitäten der Niseis, um möglichst wenig anzuecken.
Das arglose Leben hat mit dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor 1941 ein jähes Ende. Yoshiko Familie wird – wie weitere etwa 120.000 japanischstämmige Amerikanner/innen– als feindliche Ausländer eingestuft. Innerhalb weniger Tage müssen sie ihre Wohnung ausräumen und werden in ein Sammellager in Tanforan verfrachtet und in Pferdeboxen untergebracht.
Da die Autorin aus erster Hand berichtet, kommt es einem vor, als wäre man selbst vor Ort. Sie schildert die menschenunwürdigen Lebensbedingungen, die dürftigen Lebensmittel, mangelnden Waschplätze und die permanente Wehrlosigkeit. Ich hatte befürchtet, dass mich die Lektüre so schockiert und deprimiert, dass ich nicht mehr weiterlesen kann. Doch das Gegenteil war der Fall: Ich war sehr betroffen, aber auch voller Respekt, wie die Erzählerin es schafft, das Beste aus der Situation zu machen, das Lagerleben so sinnvoll wie möglich zu gestalten und sogar einige glückliche Momente zu genießen.
Man könnte meinen, dass sich die Lage kaum verschlimmern kann, doch genau das trifft ein, als die Internierten von Tanforan in ein anderes Lager in Utah überführt werden. Hier werden sie zusätzlich durch Sandstürme geplagt. Auch hier schreibt Yoshiko Uchida wieder so lebendig, dass ich förmlich die Sandkörner auf meiner Haut spüren konnte.
Die Autorin vermittelt durch ihren Bericht den nachfolgenden Generationen nicht nur eine sehr wichtige historische Begebenheit in der japanisch-amerikanischen Geschichte, sondern verdeutlicht auch, wieviel Menschlichkeit und Gemeinschaftsgeist in größter Not bewirken können.
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Vergnügliche und lehrreiche Flussreise

Eine Sache haben Elke Heidenreich und ich gemein: Wir sind beide am Rhein aufgewachsen. Was ihre Beobachtungen und Kenntnisse rund um den Fluss betrifft, ist sie mir jedoch weit voraus. Wie schön, dass sie uns in ihrem Hörbuch „Alles fließt – Der Rhein“ an den vielfältigen Geschichten teilhaben lässt.
Ihre Entdeckungsreise mit dem Fotografen Tom Krauss per Schiff und mit Auto beginnt an den beiden Quellen im Kanton Graubünden und führt flussaufwärts über Liechtenstein, den Bodensee, Basel, Straßburg, Speyer, Wiesbaden und Koblenz bis zum Mündungsdelta an der Nordsee. Ihre Beobachtungen, Reflexionen und Hintergrundinformationen über die Städte und Regionen am Rhein und den Fluss selbst sind so abwechslungsreich wie die Landschaft, die an ihnen vorbeizieht.
Mal spannt sie einen geschichtlichen Bogen bis zu den Eroberungszügen der Römer und den Reformationskriegen; dann wieder stellt sie die Bedeutung des Rheins als riesigen Industriezweig und als Touristenattraktion heraus oder wirft einen kritischen Blick auf die Umweltproblematik. Die Tier- und Pflanzenwelt in den Rheinauen finden in ihren Geschichten ebenso Platz wie die vielfältige Architektur von Kirchen, Burgen, Schlössern und Fachwerkhäusern sowie dichterische Zitate.
Geschickt verwebt Elke Heidenreich historische, politische, wirtschaftliche und geografische Besonderheiten mit Mythen und Sagen, die sich um den Strom ranken. Dadurch, dass sich Elke Heidenreich von ihrem unmittelbaren Eindruck leiten lässt, sind die Geschichten für den Hörer sehr greifbar. Während der Reise kommt sie selbst ins Staunen, zum Beispiel über die zahlreichen Schleusen oder eine Straße in Straßburg voller Storchennester, und wir staunen mit. Sie erzählt auch von ihrer ganz persönlichen Beziehung zum Rhein und bringt uns mit ihrem gewohnten Witz und Ironie oft zum Lachen. In solchen Momenten dachte ich mir, wie gut, dass die Autorin selbst liest. Und wer die Bilder, die in unseren Köpfen entstehen, noch visuell unterstützen möchte, kann sich im schön gestalteten Booklet die Aufnahmen und vielseitigen Gesichter des Rheins in Ruhe zu Gemüte führen.
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Pionierin der japanischen Familienplanung

Die Frauenemanzipation in Japan hinkt dem Rest der Welt immer noch hinterher. Umso größer ist meine Bewunderung für eine Frau wie Shidzué Ishimoto. Erst durch ihre Autobiografie „Ein Leben in zwei Welten“, die sie für ein britisches und amerikanisches Lesepublikum 1935 auf englisch schrieb und nun ins Deutsche übersetzt wurde, lernte ich die bedeutende Feministin und Politikerin näher kennen.
Sie wird 1897 in eine reiche Samurai-Familie geboren und und bekommt von ihrer Mutter die höchsten Frauenideale einer feudal geprägten Gesellschaft eingeimpft: seine eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, das Leben zu ertragen und sich nach einer arrangierten Ehe dem Mann und der Schwiegermutter zu unterwerfen. Dabei hat Shidzué noch Glück: Ihr zehn Jahre älterer Ehemann Keikichi Ishimioto erweist sich als liberaler Mann voller idealistischer Ideen, der sich nicht nur gesellschaftlich engagiert, sondern auch seine Frau dazu ermutigt, ein selbstständiges Leben zu führen.
Nicht nur die Ehe, auch die gemeinsame Reise nach USA, wo sie einen Sekretärinnenkurs besucht, und die Begegnung mit der Geburtenkontrollaktivistin Margaret Sanger stellt die Weichen für ihre künftige Lebensaufgabe: durch Familienplanung und Reformen die Frauen aus der Sklaverei und Armut zu befreien. Es ist schon bemerkenswert, welchen Wandel Shidzué in ihrem Leben durchmacht: von einem unbedarften und unselbstständigen Mädchen zu einer engagierten Frau, die auf proletarischen Veranstaltungen Reden zur Familienplanung hält.
Trotz mehrerer Rückschläge und Kritik aus ihrem Familienkreis, lässt sie sich nicht entmutigen, doch auch das hat seine Grenzen, als sich sogar ihr Ehemann aufgrund persönlicher Enttäuschungen gegen sie auflehnt. Dass sie ihre Herkunft und Erziehung nicht völlig abstreifen kann, zeigt sich darin, dass sie bereit wäre, ihre Karriere für eine harmonische Ehe zu opfern.
Ich brauchte eine Weile, bis ich in in ihren Text hineinfand. Am Anfang erschienen mir die detaillierten Beschreibungen der Rituale im Haus langatmig und ein wenig distanziert, doch dann gewann ihr Bericht immer mehr an Farbe, Emotion und Brisanz. Ich hatte das Gefühl, dass sich ihre persönliche Entwicklung und ihr zunehmendes Selbstbewusstsein auch in ihrer Ausdrucksweise widerspiegelt. Sie erzählt dabei nicht nur ihre eigene bewegende Lebensgeschichte, sondern vermittelt auch sehr viel Wissenswertes über die japanischen Traditionen wie Ikebana, Teezeremonie und Geishas sowie die damaligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse.
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Dichtende Zauberjungfer

Seit der Schulzeit habe ich nichts mehr von der Dichterin Annette Droste-Hülshoff gelesen. Das wird sich ändern, nachdem ich den biografischen Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ von Karen Duve gelesen habe.
Eine Frau, die allen Konventionen trotzt und ihrer Leidenschaft folgt, gewinnt schnell meine Sympathie. Annette Droste-Hülshoff, Nette genannt, ist dies besonders hoch anzurechnen, da sie in einer Zeit lebte, in der von Frauen vornehme Bescheidenheit und ein ansprechendes Äußeres erwartet wurde. Sie entspricht kaum diesem Ideal und wickelt die Männer statt dessen mit Klugheit, Verstand und geistiger Anmut um den Finger.
Die Autorin beschreibt den Alltag der Hülshoffs auf Schloss Bökerhof nahe Paderborn wie das Geschehen auf einer Theaterbühne, mal trocken und distanziert, mal sehr nah an den Figuren, und spart nicht mit spöttischen Seitenhieben gegen den westfälischen Adel. Die Familie empfängt viele illustre Besucher, darunter die Grimms und den mittellosen Dichter Heinrich Straube, in den sich Nette verguckt. Auch Straube ist von der dichtenden "Zauberjungfer" sehr angetan. In all den Begegnungen wird die ambitionierte Dichterin sehr lebensnah und treffend charakterisiert. Während sie auf Gesellschaftsabenden gezwungenermaßen Interesse für die Häkelarbeiten der Damen vortäuscht, mischt sie sich viel lieber in die männliche Gesellschaft und tut ihre Meinung über Literatur und Politik kund. Eine besondere Bedeutung kommt dem Gewächshaus des Schlosses zu. 
Besonders in Nettes Zuneigung zum Dichter Straube, der als einziger ihr Talent erkennt, zeigt sich, wieviel die Poesie bedeutet. Wie qualvoll muss es für sie sein, wegen ihrer schwachen körperlichen Verfassung dauernd auf Kur gehen zu müssen und weder schreiben noch lesen zu dürfen. Der Titel des Romans bezieht sich auf einen tragischen und folgenreichen Sommer im Jahr 1820, doch aufgehängt an diesem Ereignis entfaltet sich ein großartiges Porträt der Dichterin und ein lehrreiches Sittenbild der damaligen Zeit.
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Eine kulturelle Entdeckungsreise

Reportagen, die unsere Welt von oben zeigen, sind sehr en vogue. „Deutschland von oben“, „Russland von oben“ oder „Auf den Dächern der Stadt“ lauten die Titel der Dokumentationen, die sich einer Region aus der Vogelperspektive nähern. Da darf natürlich auch Asien nicht fehlen.
Die fünfteilige Reihe „Japan von oben“, die auf arte ausgestrahlt wurde, nimmt uns mit auf eine visuelle Reise quer durch das Land – von Hokkaido im Norden über die Inseln Honshu, Shikoku und Kyushu bis zum Archipel von Okinawa im Süden. Sie bietet allerdings weit mehr als beeindruckende Flugaufnahmen. Man lernt charakteristische Merkmale der jeweiligen Region kennen und taucht tief in die Flora, Fauna und das Alltagsleben der Bewohner ein.
Die Folge „Land der Götter“ stellt zum Beispiel die Präfektur Shimane, wo sich eine der ältesten Shinto-Schreine befindet und Japan von seiner spirituellen Seite zeigt. In der Folge „Wiege der Tradition“ können wir Handwerker beim Schwertschmieden oder bei der Herstellung der Feuerwerkskunst beobachten.
So ist diese Reihe eine gelungene Mischung von wunderschönen Naturaufnahmen im Wechsel der Jahreszeiten und lehrreichen Informationen über weniger bekannte Flecken des Landes. Bis zum Wochenende ist sie in der arte Mediathek verfügbar.
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Sorgen und Freuden einer alternden Mutter

Ein nicht enden wollender Monolog einer jammernden Mutter möchte sich vermutlich keiner freiwillig antun. Es sei denn, es handelt sich um Charlène, Protagonistin des Romans "Une femme au téléphone" („Eine Frau am Telefon“) von Carol Fives. Die 62-Jährige ruft mehrmals am Tag ihre erwachsene Tochter an und hinterlässt auf dem Anrufbeantworter Nachrichten aus ihrem Leben in aller Ausführlichkeit. Das Repertoire reicht von Vorwürfen darüber, dass Tochter und Sohn sie nur an Weihnachten besuchen, über ihre Erfahrungen als Chinchilla_417 in diversen Partnerbörsen bis hin zu ihren Ängsten vor Krankheiten und dem Tod, besonders als Blutkrebs bei ihr festgestellt wird.
Nicht alles, was sie so von sich gibt, ist wohl ernst zu nehmen, zumal Charlène ziemlich wankelmütig ist. Erst schwärmt sie von paradiesischen Zuständen im Krankenhaus, in der nächsten Minute schimpft sie über die fiesen Leute dort und schließlich badet sie in Selbstmitleid. Nach und nach erfahren wir mehr über das vergangene Leben der Mutter, die mit 30 von ihrem Ehemann verlassen wurde. Lebenslustig wie sie ist, gibt sie die Partnersuche trotz mehrerer Fehlschläge nicht auf. Man fühlt sich durchweg bestens unterhalten, was vor allem an Charlènes rabenschwarzem Humor und bissigem Ton liegt. Ich wette, jeder Leser wird sich an der einen oder anderen Stelle an Telefonate mit der eigenen Mutter erinnern und vor sich hin schmunzeln.
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Mehr Freiheit durch Teilzeit

Das Buch „Halbe Arbeit – ganzes Leben“ hat ein treffendes Titelbild: Es zeigt die Silhouette eines Mannes, dessen eine Hälfte einen Anzug und einen Aktenkoffer, die andere Hälfte Shorts und einen Cocktail in der Hand trägt. Hier werden aber nicht etwa Arbeit und Urlaub gegenübergestellt, sondern eine ausgewogene Work-Life-Balance, die Axel Mengewein für erstrebenswert und durchaus realisierbar hält. Wie, das zeigt er in seinem Ratgeber und Plädoyer für mehr Teilzeitarbeit.
Zunächst nennt der Autor und Fernsehredakteur eine Reihe von Gründen, die in unserer heutigen Zeit für diesen Trend sprechen, sowohl aus Sicht des Arbeitnehmers als auch Arbeitgebers: zum Beispiel dass Teilzeitarbeiter laut Studien glücklicher und produktiver leben, dass unsere fortgeschrittene Technik flexible und standortunabhängige Tätigkeiten ermöglicht und dass sich immer mehr Nachwuchsführungskräfte für flexible Arbeitszeitmodelle interessieren. Damit möchte er besonders bei den Lesern, die schon länger damit liebäugeln, ihre Arbeitszeiten zu reduzieren, sich jedoch aus beruflichen, persönlichen oder finanziellen Gründen nicht trauen, Ängste und Bedenken ausräumen.
Doch wie kann man sich diesen Wunsch konkret erfüllen? Diese Frage beantwortet Mengewein umfassend, indem er zunächst verschiedenste Formen von Teilzeitarbeit – darunter die Brückenteilzeit, die ab 2019 eingeführt wird – und ihre Besonderheiten erläutert. Da er einige dieser Möglichkeiten selbst erprobt hat, kann er die Fakten durch interessante Erfahrungsberichte bereichern und nennt auch Beispiele aus seinem Bekanntenkreis und aus Großkonzernen. Bei aller persönlicher Begeisterung und Überzeugung weist er auch auf mögliche Nachteile und Gefahren hin, die es zu umschiffen gilt: zum Beispiel als Teilzeit-Trojaner ausgenutzt zu werden, in einen völlig unproduktiven Teilzeit-Müßiggang zu geraten oder die Schwierigkeit, in Teilzeit Karriere zu machen.
Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen, nicht nur, weil mich das Thema sehr interessiert, sondern weil es so unterhaltsam geschrieben ist. Axel Mengewein vermittelt verständlich und lebendig viel Wissenswertes über Teilzeitarbeit und ermutigt den Leser nicht nur dazu, so frei und selbstbestimmt wie möglich zu leben und zu arbeiten, sondern auch aktiv eine moderne Arbeitswelt mitzugestalten.
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Spannende Zeitreise durch die Welt der Bücher

Menschen, die in Bücher vertieft sind, sieht man im Zeitalter von Smartphones und eBook-Readern immer seltener. Umso mehr Freude bereiten Bildbände wie „Die Kunst zu lesen“ von David Trigg, die die Schönheit der Bücher und den Reiz des Lesens zelebrieren. Über 300 Werke aus verschiedensten Epochen und Stilrichtungen sind darin abgebildet und thematisch locker sortiert. Sie stammen von namhaften Malern wie Botticelli, Spitzweg, Cézanne, Magritte und Lichtenstein, aber auch von unbekannteren Künstlern.
Zunächst erinnerte mich das Buch an Bände wie "Frauen, die lesen, sind gefährlich" oder "Frauen und ihre Bücher". Doch das Themenspektrum ist hier weitaus größer. Dargestellt sind nicht nur Leser, sondern auch das Buch allein in vielfältigen Formen und Arrangements: als brennende Objekte, von der Decke oder von Ästen abgehängt, zu einem Turm aufgestapelt oder als durcheinander geworfener Haufen. Viele Gemälde und Installationen würde man gern einmal live sehen. Genauso interessant ist die Botschaft, die dahinter steckt und bei manchen Werken kurz erläutert wird.
Auch inhaltlich erfüllen Bücher ganz unterschiedliche Zwecke, wie der britische Kunstkritiker, der in Bristol lebt, durch seine Auswahl verdeutlicht: Sie dienen der Bildung und Aufklärung, der Unterhaltung und Ablenkung vom Alltag, der Kontemplation oder erotischen Fantasien. Am Anfang kam ich mir vor wie in einer Galerie, in der ich ein Bild nach dem anderen mit einer gewissen Distanz wahrnahm, doch im Laufe der Lektüre tauchte ich immer tiefer ein in die einzelnen Bilderwelten, hörte förmlich die spielenden Kinder hinter der lesenden Frau am Strand oder fragte mich, welche Geschichte die Magd wohl derart in Bann zieht.
Der Bildband ist eine spannende Zeitreise quer durch verschiedene Kulturen und Schichten, die uns nicht nur die Bedeutung von Büchern durch die Epochen, sondern auch die Vergänglichkeit menschlichen Wissens vor Augen führt. Das einzige Manko ist die zu klein geratene Schrift, die das Lesevergnügen trübt. Eine etwas großzügigere Gestaltung hätte dem Buch gut getan. 
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Ein Erbstreit eskaliert

Ein großes Familientreffen bietet viel Stoff für eine dramatische Geschichte – umso mehr, wenn der Anlass eine Beerdigung ist und die Aufteilung des Erbes in Frage gestellt wird. In Sylvie Schenks neuem Roman „Eine gewöhnliche Familie“ trifft sich die Verwandtschaft in Lyon, um den Tod von Tante Tamara und Onkel Simon zu betrauern.
Céline Cardin, eine der Nichten der Verstorbenen, hatte sich auf das Wiedersehen mit ihren drei Geschwistern und Verwandten gefreut, jedoch nicht mit Animositäten gerechnet, die im Laufe der Handlung eskalieren. Grund für die Uneinigkeit ist das Verschwinden des Original-Testaments. Die vier Cardin-Geschwister, die sich als rechtmäßige Erben gesehen hatten, müssen nun befürchten, leer auszugehen.
Ähnlich wie in ihrem Roman „Schnell, dein Leben“ gelingt es Sylvie Schenk auch diesmal meisterhaft, viele Lebensläufe auf nur 160 Seiten zu komprimieren. Den Auftritt verschiedener Familienangehöriger nutzt die Autorin, um einen kurzen Rückblick auf deren Leben zu werfen und sie schlaglichtartig vorzustellen. Hinter den kurzen, prägnanten Sätzen verbergen sich ganze Lebensgeschichten und -dramen. Ihre verknappte Sprache und der spöttische Ton bilden oft einen großen Kontrast zu den schweren Schicksalsschlägen, die die Figuren erlitten haben.
Vordergründig beschreibt Sylvie Schenk einen gewöhnlichen Streit um eine Erbschaft, wie sie in jeder Familie vorkommen könnte. Es geht jedoch um mehr, denn das Zusammentreffen zeigt die Fragilität von Familienbeziehungen und wirft die zentrale Frage auf, der sich jeder Figur stellen muss: „Was ist aus mir und meiner Familie geworden?“
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Glück und Unglück am Ende der Welt

Der Roman „Die Liebenden vom Ende der Welt“ von Midge Raymond erzählt die Geschichte einer Biologin, die zwei Berufe unter einen Hut bringen muss: Sie ist Reiseführerin auf einem Kreuzfahrtschiff, das den südlichen Polarkreis überquert und zugleich Naturforscherin, die den Lebensraum von Pinguinen erforscht.
Die Überschrift des ersten Kapitels „Eine Woche vor Schiffsuntergang“ lässt bereits Dunkles erahnen und baut so einen Spannungsbogen auf. In mehreren Rückblenden lässt uns die Ich-Erzählerin Deborah an verschiedenen Phasen ihres Lebens teilhaben: wie nach dem Studium ihr Interesse für Pinguine geweckt wurde, wie sie auf der Forschungsstation in der Antarktis ihre große Liebe Keller Sullivan kennenlernte bis hin zur Gegenwart.
Obwohl ich mich mehr für Geistes- als für Naturwissenschaften interessiere, konnte ich mich sofort mit der Hauptfigur identifizieren. Ihre Begeisterung für die Schönheit der Antarktis und ihr Zwiespalt sind allgegenwärtig und gut nachvollziehbar: Einerseits möchte sie die Touristen für den Naturschutz sensibilisieren, andererseits ist ihr bewusst, dass trotz größter Vorsicht auch diese Schiffsreisen die Tier- und Naturwelt gefährden.
Mit viel Sachkenntnis stellt uns die Autorin die Eigenheiten verschiedener Pinguinkolonien und die ökologischen Veränderungen des Lebensraums vor. Zwischenmenschliche Krisen unter den Passagieren, die sich zuspitzen, und Debs Bemühen, ihr eigenes Liebesleben und ihren Beruf miteinander zu vereinen, sowie die unbarmherzige Härte der Natur, die sich gegen den Eroberungsdrang der Menschen rächt, haben mich bis zum Schluss in Bann gehalten und zutiefst berührt.
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Im Schatten eines egomanischen Künstlers

Kinder von gefeierten Künstlern haben es nicht leicht, besonders wenn sie ein Leben lang im Schatten eines egomanischen Malers stehen. Um eine tragikomische Vater-Sohn-Beziehung und den Wunsch nach Liebe und Anerkennung geht es in „The Italian Teacher“ ("Die Gesichter"), dem neuesten Roman von Tom Rachmann zeigt.
Sohn Charles wächst in Rom auf, buhlt um die Liebe und Anerkennung seines Vaters Bear und eifert ihm nach. Als ihn Bear nach New York einlädt, kann der Elfjährige es kaum erwarten, ihm sein erstes Bild zu zeigen. Bears Kommentar fällt jedoch niederschmetternd aus: "You will never be an artist". Damit macht er jegliche Träume zunichte. Charles’ tiefe Enttäuschung und Wut auf seine Mutter, die ihn so stark zur Malerei ermutigt hat, vermittelt Rachman hautnah durch sprachliche Brillanz und mitreißende Erzählkraft.
Charles gibt die Malerei auf, lebt eine Weile in Toronto, später in London als Italienischlehrer. Der Dominanz seines Vaters kann er sich jedoch weiterhin nicht entziehen. Als er mit seiner Freundin Barrows seinen Vater im Cottage besucht, kommt es zu einer Diskussion und Auseinandersetzung, bei der er sich wieder einmal ausgeschlossen fühlt. Nie kann er seinen Mann stehen, und so scheint das Leben an Charles vorbeizuziehen. Im Laufe der Handlung erleben wir jedoch so manch raffinierte Wendung.
Tom Rachmann, der sich in „The Imperfectionist“ die Presse- und Buchwelt vorknöpfte, lässt den Leser diesmal in die Kunstszene eintauchen. Es ist faszinierend, wie facettenreich er das Thema beleuchtet. Er deckt das ganze Spektrum ab, von der Eitelkeit und dem Wunsch nach Unsterblichkeit über den absurden Personenkult und die Wichtigtuerei von Galeristen und Kritikern bis hin zu der Frage, inwieweit Genialität rücksichtsloses Verhalten rechtfertigt. Ob Charles oder Bear Bavinskys Werke künstlerisch wertvoll sind, sei dahingestellt – dieser Roman ist es definitiv!
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Hommage an eine faszinierende Vogelkundlerin

Drops, Putzi, Sternchen – so lauten die niedlichen Namen der Nebenfiguren des Romans „Das Vogelhaus“ von Eva Meijer. Beschrieben werden sie wie Menschen, doch es handelt sich um Vögel, die die Protagonistin Gwendolen („Len“) Howard in ihrem Cottage in Sussex erforscht. Wie es dazu kam, erzählt diese fiktionalisierte Lebensgeschichte über eine ungewöhnliche Aussteigerin und Ornithologin.
Lens Interesse für Vögel wurde schon als Kind durch ihren Vater geweckt, der verletzte Vögel zu Hause gesund pflegte. Sie wächst in einer wohlhabenden Familie auf, die sich mit Literatur- und Musikabenden die Zeit vertreibt, spielt mit großer Leidenschaft Geige und bekommt die Chance, in London in einem Orchester zu spielen. Das städtische Leben und die Konflikte und Machtkämpfe im Orchester nerven sie jedoch zunehmend. Auch in der Beziehung zu ihrem Freund Thomas findet sie keine Erfüllung.
Das einzige, was ihr am Herzen liegt, sind die heimischen Vögel, deren Gesang und Verhalten sie studiert. 1939 macht sie den entscheidenden Schritt, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen: Sie kauft ein Cottage im ländlichen Ort Ditchling und erforscht die wilden Vögel der Gegend, ihre Sprache, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften.
Lens Lebensgeschichte wird immer wieder unterbrochen durch die Studie über ihre Lieblingskohlmeise „Sternchen“. Durch den Wechsel zwischen den zwei Erzählsträngen vergleicht man ganz unwillkürlich das Verhalten von Lens Familie und Freunden mit denen der Vögel. Eva Meijer ist sehr talentiert darin, sowohl den individuellen Charakter der Menschen als auch der Tiere sehr treffend zu beschreiben. Ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie Kohlmeisen und Spatzen, Rotkehlchen und Drosseln in ihrem Haus ein- und ausfliegen und sich in Kartonverpackungen einnisten.
Ich war vor allem fasziniert von Lens Geduld, mit der sie das Vertrauen der Vögel gewinnt und ihrer Entschlossenheit, das Terrain vor unerwünschten Besuchern und Baumaßnahmen zu schützen. Von der Kritik, ihre Arbeit sei nicht wissenschaftlich fundiert, ließ sie sich nicht beirren und schrieb zahlreiche Artikel und Bücher über ihre Beobachtungen. Eva Meijers rhythmischer Erzählstil, der sich stellenweise wie ein Gedicht liest, passt wunderbar zu dieser Hommage an die bemerkenswerte Naturforscherin und an die Vogel- und Musikwelt.
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Rebellisch und rastlos

Ich war sehr gespannt darauf, Sofia kennenzulernen, die immer schwarz trägt. Gemeint ist die Protagonistin des Romans „Sofia trägt immer schwarz“ von Paolo Cognetti, die in Mailand aufwächst, nach Rom zieht, um Schauspielerin zu werden und schließlich in Brooklyn landet. Hinzu kommt, dass mich der Roman „Acht Berge“ so begeistert und meine Erwartungen an den italienischen Autor entsprechend hochgeschraubt hatte. Nun habe ich das Buch ausgelesen und weiß nicht so recht, was ich von den Erzählungen halten soll.
Der Anfang las sich sehr vielversprechend. Mir gefiel, wie Sofia ihre Erinnerungen an die Kindheit in Mailand und in der Neubausiedlung Lagobello beschrieb. Schöne Erlebnisse wie wilde, fantasievolle Piratenspiele mit Freunden zählten ebenso dazu wie leidvolle Phasen, bedingt durch den ständigen Ehestreit der Eltern, den Depressionen der Mutter und Verlustängste. Doch dann verliert sich zunehmend der rote Faden – nicht nur durch die vielen Zeitsprünge, sondern auch inhaltlich.
Der Autor beleuchtet beispielsweise die Ehe der Eltern, die Arbeitsbedingungen des Vaters bei Fiat oder das Verhältnis zu Sofias Tante, die sich politisch engagiert. Ich hatte gehofft, dass durch die fast eigenständigen Erzählungen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven Sofias Persönlichkeit allmählich Gestalt annimmt, doch sie spielt meist nur am Rande eine Rolle. So blieben für mich viele interessante Charaktere wie die fürsorgliche Caterina in ihrer WG in Rom oder die Geliebte ihres Vaters nur an der Oberfläche und auch zu der Hauptfigur konnte ich bis zum Schluss keinen richtigen Zugang finden.
Interessant fand ich dagegen, wie Paolo Cognetti durch seinen ungewöhnlichen Erzählstil Schlaglichter auf die italienische Gesellschaft der 80er Jahre und die typischen Konflikte in einer bürgerlichen Familie wirft. Auch sprachlich versteht Paolo Cognetti sein Handwerk und schafft es, mit scharfer Präzision die Dinge auf den Punkt zu bringen.
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Mach dich auf den Weg

Ich komme gerade von einem Spaziergang und habe einmal versucht, einige Anregungen aus dem Buch „Walking in the rain“ umzusetzen. Ganz bewusst einen Schritt nach dem anderen setzen, sich mit allen Sinnen auf die Umgebung einlassen, Geräusche, Stimmen und Gerüche wahrnehmen… dies und vieles mehr empfehlen die Autoren in dem kleinen, aber feinen Büchlein aus der Reihe ‚Dept.store for the Mind‘.
Dass Gehen an der frischen Luft den Körper in Schwung bringt, den Kopf freimacht und die Gesundheit fördert, ist allgemein bekannt. An diesem Buch gefiel mir vor allem, wie vielseitig die Erfahrungen der Autorinnen und Autoren zu diesem Thema sind. Kate Peers zum Beispiel lässt sich beim Gehen am liebsten von der Natur ermutigen, die ihr den ewigen Kreislauf des Lebens vor Augen führt und ihre alltäglichen Probleme nichtig erscheinen lässt. Für die Künstlerin Antonia Thompson ist das regelmäßige Gehen wie Tagebuch führen und ein Weg zur kreativen Freiheit. Eine sehr extreme Form des Gehens ist das Pilgern, das auch Blinden ermöglicht wird. Gert-Jan de Horn berichtet, wie er den „Camino Walking Blind“ ins Leben rief und lässt einzelne Teilnehmer von ihren persönlichen Eindrücken berichten.
Als Stadtmensch konnte ich mich am meisten mit der Geschichte von Clare Barry identifizieren. „Switched on but disconnected“ – so beschreibt sie den Zustand vieler Großstadtmenschen, die bestens vernetzt und erreichbar, aber nicht mehr empfänglich sind für sinnliche Eindrücke in unmittelbarer Nähe. Tatsächlich laufen einem in der Stadt ständig Leute über den Weg, die auf ihr Handy starren. Barry möchte Abhilfe schaffen und bietet in London „Urban Curiosity Walkshops“ an, bei denen man mit Gleichgesinnten eine Stadttour zu Fuß unternimmt.
Ob in der Stadt oder Natur – das Buch macht Lust, von der Couch aufzuspringen, in bequeme Schuhe zu schlüpfen und sich auf den Weg zu machen.
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Wunderschöne Reisegeschichten

Die Reihe „Wunderschön“ im WDR zählt zu den Reisesendungen, die ich mir besonders gern ansehe. Das liegt auch an der sympathischen Moderatorin Tamina Kallert, die so eine natürliche und herzliche Ausstrahlung hat. Ich hätte nicht gedacht, dass sich mein Eindruck durch ihr Buch „Mit kleinem Gepäck“ derart bestätigt.
Als Zuschauer fragt man sich ja, wieviel in der Sendung gespielt und wieviel „echt“ ist. Manchmal kommt es mir so vor, als ob die Reisejournalistin ständig in den Genuss leckerer Süßwaren und regionaler Spezialitäten kommt und werde ganz neidisch. Da ahne ich natürlich nicht, wieviel mühsame Arbeit dahinter steckt, bis ein gedeckter Tisch in einer heimeligen Teestube perfekt in Szene gesetzt und ein kurzes Gespräch mit der Gastgeberin im Kasten ist.
Tamina Kallert berichtet von berührenden Begegnungen mit Einheimischen, abenteuerlichen Dreharbeiten, von typischen Konflikten im Filmteam und dem anstrengenden Wechsel zwischen ständiger Präsenz und Stand-By-Modus. Die Autorin gewährt dabei nicht nur einen vielfältigen Blick hinter die Kulissen, sondern auch in ihr persönliches Leben und ihre berufliche Entwicklung. Besonders gut gefiel mir, dass sie immer wieder selbstkritisch ihre Einstellung und ihr Verhalten reflektiert, sich mit ihren Schwächen auseinandersetzt und versucht, aus ihren Erfahrungen dazuzulernen.
Ihre Gedanken und Einsichten dürften nicht nur für ihre Berufssparte, sondern für jeden eine Bereicherung sein, der sich mit der Frage beschäftigt, wie er seinen Berufs- und Lebenstraum verwirklichen kann. Ich fühlte während der Lektüre eine immer stärkere Verbundenheit mit Tamina Kallert, nicht nur, weil sie so lebendig, sprachlich einnehmend und leidenschaftlich aus ihrem aufregendem Alltag erzählt, sondern dem Leser auch eine sehr wichtige Empfehlung mit auf den Weg gibt: mit Neugier, Offenheit und unvoreingenommen, also „kleinem Gepäck“, durchs Leben zu gehen.
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Wer suchet, der findet

Wer in der heutigen Zeit an Wunder glaubt, wird schnell für verrückt erklärt oder naiv gehalten. Und wer sich aktiv auf die Suche nach Wundern begibt wahrscheinlich erst recht. Trotzdem wagte Barbara Pachl-Eberhart vor fünf Jahren ein Experiment: Statt auf ein Wunder zu warten, ging sie auf Entdeckungstour und schrieb Geschichten darüber. So entstand ihr Buch "Wunder warten gleich ums Eck". „Man findet jederzeit ein Wunder, wenn man mit offenen Augen spazieren geht“, so ihre Überzeugung.
Dabei ist alles eine Frage der Definition, wie der Leser bald feststellen wird. Dass sie es sich bei dem Experiment nicht zu einfach machen will und nicht jede Kleinigkeit als Wunder durchgehen lässt, macht sie sympathisch. Sie zeigt aber auch, dass Eigenschaften wie Offenheit, Neugier und Achtsamkeit das Unterfangen wesentlich erleichtern.
Das Spektrum an Wundern, von denen uns die Autorin aus Wien erzählt, reicht von herzerwärmenden Beobachtungen in der U-Bahn über Staunenswertes in der deutschen Sprache bis hin zu Phänomenen in der Natur. Manches ist nur schwer nachvollziehbar wie ihr spirituelles Erlebnis beim Tod ihrer Tochter – manch anderes Beispiel schien mir etwas weit hergeholt. ‚Wunder‘ hat einen magischen Klang, ist aber auch ein dehnbarer Begriff, der schnell schwammig werden kann.
Staunend durch die Welt zu gehen, ist eine Haltung, die ich sehr schätze und gern viel öfters einnehmen würde, doch der auf Effizienz getrimmte Alltag macht es einem nicht leicht. Das Büchlein hat mich wieder daran erinnert, im Alltag den Blick für die Kostbarkeiten im Leben zu schärfen und nicht alles als selbstverständlich anzusehen.
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Die Super-8-Helden von Schallerup

Das Buch „Sommer in Super 8“ von Anne Müller hat mich stark an meine Kindheit erinnert. Klavierunterricht, Pyjamaparties, Tanzstunden und ein humorvoller, aber launischer Vater, nach dem man seine Antennen ausrichten muss – das alles kam mir sehr bekannt vor. Ob man nun in Schallerup nahe der Ostsee oder in Düsseldorf aufwächst – als Teenager macht man eben ganz ähnliche Dinge durch.
Die Ich-Erzählerin Clara König, mittleres Kind von fünf Geschwistern, beschreibt anfangs viele Szenen, die das Bild einer perfekten Familienidylle vermitteln. Man musiziert gemeinsam, verbringt unbeschwerte Tage an der Ostsee, sieht sich abends die vom Vater aufgenommenen Super-8-Filme an und feiert sich als glückliche Familie. Jedes Kind spielt die ihm zugeschriebene Rolle und buhlt um die Anerkennung der Eltern. Die titelgebenden Filme hatten für mich einen Symbolcharakter, denn schon da stellte sich die Frage, was in der Familie real und was gespielt ist.
Anne Müller weiß genau, was im Kopf einer Vierzehnjährigen vorgeht. Unbefangen und charmant erzählt ihre Hauptfigur von Mädchenträumen und dem ersten Schwarm, von großen Erwartungen und Enttäuschungen. Nebenbei entsteht ein lebendiges Bild der Dorfgemeinschaft mit ihren wenigen Höhepunkten wie der jährliche Markt oder der Klatsch und Tratsch im Friseursalon, der sich bald um Claras eigene Familie drehen wird.
Das Besondere an dieser Erzählung ist, dass sich mit zunehmendem Alter Claras Blick für die Welt hinter der bröckelnden Fassade schärft. Der heitere und beschwingte Ton schlägt allmählich in eine ernste und wehmütige Stimmung um und markiert das Ende einer unbeschwerten Kindheit. Ich habe den feinsinnigen Roman, der den Zeitgeist der 70er Jahre aufleben lässt, mit Empathie und Begeisterung gelesen.
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Tragikomische Familiengeschichten

Die Essaysammlung „Calypso“ von David Sedaris hätte ich gern als Stand-up-Comedy erlebt. An einer Stelle heißt es, dass er auf einer Lesereise 45 Städte in 47 Tagen abgeklappert hat. Die Reise inspirierte ihn sicher zu der Geschichte „Ihr Englisch ist so gut“, bei der ich mich schlapp gelacht habe. Die Frage "Wie war Ihr Flug?", die er zu den überflüssigsten hält, bekam er wohl oft zu hören. Zu gern würde ich wissen, was er von der hierzulande überstrapazierten Floskel „Alles gut“ hält.
Das zentrale Thema des Buches ist das Reisen und seine Familie, die sich regelmäßig in einem Strandhaus auf Emerald Isle in North Carolina trifft. Zu seiner Schwester Amy scheint er ein besonders inniges Verhältnis zu haben. Doch auch alle anderen Familienmitglieder kommen zum Zuge und werden in seinen Anekdoten karikaturhaft gezeichnet: zum Beispiel sein eigenwilliger Vater, der eine Taschenlampe benutzte, um Strom zu sparen, oder seine Mutter, die sich stets stilvoll kleidete und mit ihren Geschichten alle zum Lachen brachte. 
Manchmal blieb mir jedoch das Lachen im Hals stecken, denn mit Galgenhumor seziert Sedaris sehr ernstzunehmende Themen wie die Alkoholsucht seiner Mutter oder den Selbstmord seiner Schwester Theresa. Ihn beschäftigt nicht nur das Altern im Allgemeinen, sondern auch wie schräg oder fanatisch einige Menschen in seinem Umkreis mit zunehmendem Alter werden. Abgesehen von ein paar unappetitlichen Geschichten habe ich Sedaris’ sehr persönliche Erinnerungen und Gedanken mit Vergnügen gelesen.
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Siebzehn Begegnungen mit dem Tod

Zuerst wollte ich das autobiografische Buch „I am I am I am“ („Ich bin Ich bin Ich bin“) von Maggie O’Farrell trotz der positiven Rezensionen nicht lesen. Ich bin zwar nicht abergläubisch, hatte aber das ungute Gefühl, dass mir lauter Geschichten über Todesnähe womöglich Unglück bringen. Es könnte aber auch genau umgekehrt und eine Lehre sein, das kostbare Leben zu schätzen.
Jetzt, wo ich das Buch gelesen habe, hinterlässt es bei mir gemischte Gefühle. Einerseits fand ich es spannend, über eine Frau zu lesen, die einen völlig anderen Lebensstil hat als ich. Mit acht Jahren überlebte sie nur knapp eine Virusinfektion und verspürte trotz oder vielleicht gerade deswegen immer wieder den Drang, aus ihrem durchschnittlichen Teenagerdasein auszubrechen. Da sie auch vor drastischen und dramatischen Maßnahmen nicht zurückschreckte, wäre sie einmal beinahe ertrunken.
Immer auf der Suche nach neuen Impulsen und Erfahrungen unternahm sie viele Reisen, auch in nicht ganz ungefährliche Regionen wie Südamerika. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie Extremsituationen wie einen Raubüberfall erlebte. Die Autorin versteht es, jede Phase der Grenzerfahrung sehr plastisch zu schildern – von der bösen Vorahnung über die tatsächliche Todesgefahr, ihre Panik und Angst, bis hin zu den Nachwirkungen. Interessant ist auch, wie sie später in unterschiedlichen Lebensphasen auf den Vorfall zurückblickte.
Sie erzählt die Momente der Todesnähe nicht etwa chronologisch, sondern völlig ungeordnet und unterstreicht damit die Willkür und Unvorhersehbarkeit der Ereignisse. Sie ordnet sie außerdem den einzelnen Körperteilen zu, die unmittelbar der Gefahr ausgesetzt waren, und verstärkt damit die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers. Ich fand allerdings, dass sich einige Berichte sehr ähneln, wie die Extremsituationen im Ausland oder ihre Fehlgeburten. Eine Frau, die sich von so vielen schockierenden Erlebnissen nicht einschüchtern lässt und sich weiterhin mutig dem Leben stellt, kann man nur bewundern.
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Proust als Lebenscoach

Mir fallen einige Schriftsteller ein, deren Bücher mein Leben verändert haben. Marcel Proust gehörte bisher nicht dazu, zumal ich seinen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ immer noch nicht ausgelesen habe, aber das kann sich ja noch ändern – vielleicht nach der Lektüre von „How Proust can change your life“ ("Wie Proust Ihr Leben verändern kann"). Alain de Botton hat sich intensiv mit Proust und seinen Werken auseinandergesetzt und die Essenz in einem kompakten Ratgeber zusammengefasst. Er ist in verschiedene Themenbereiche gegliedert – zum Beispiel wie man sich Zeit nimmt oder Gefühle zum Ausdruck bringt – und zeigt auf, welche Ratschläge und Weisheiten sich aus Prousts Romanen ableiten lassen.
Um die Romane zu verstehen, sind Details über sein Leben sehr hilfreich und diese liefert Alain de Botton denn auch in jedem Kapitel. Man erfährt, welchen starken Einfluss seine Mutter auf ihn hatte, mit der er bis an sein Lebensende zusammenlebte, und dass er einen Großteil seines Lebens wegen verschiedenster Krankheiten im Bett verbrachte. Alles, was seine tägliche Routine durchbrach, bereitete ihm große Schwierigkeiten.
Doch aus der Not machte Proust eine Tugend: Statt über seine schwache körperliche Verfassung zu jammern, eignete er sich möglichst viel Wissen darüber an, um einen Nutzen daraus zu ziehen. Erst dann versteht man auch den ungewöhnlichen Titel dieses Kapitels „How to suffer successfully“. Und von leidenden Menschen wimmelt es nur so in Prousts Romanen wie Alain de Botton feststellt, zum Beispiel Frauen, die in die High Society aufsteigen wollen oder Köchinnen, die unter ihrer mangelnden Bildung leiden.
Angesichts der eingeschränkten Lebensumstände ist es umso interessanter, dass Proust seine Leser dazu anspornt, aus dem Vollen zu schöpfen und den Reichtum, den die Welt zu bieten hat, sei es in der Natur oder Kunst, so intensiv wie möglich zu erleben. Das erklärt wohl auch die Länge seiner Romane und die Fülle der Details. Auch wenn ich in de Bottons Lebensratgeber keine Aha-Effekte erlebte, fand ich den Unterricht in Proustschem Sehen unterhaltsam und anregend.
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Seinen Wurzeln auf der Spur

Der Begriff Heimat löst bei einigen nicht nur positive Gefühle aus. Die Schriftstellerin und Illustratorin Nora Krug zum Beispiel ist nach Brooklyn ausgewandert und tut sich noch heute schwer mit ihrer deutschen Herkunft. Was genau bedeutet Heimat für sie? Wie hat ihre Familie im Zweiten Weltkrieg gelebt und welche Verantwortung trägt sie für ihre familiären Wurzeln? Das wollte die Autorin genau wissen, begab sich auf Spurensuche und verarbeitete ihre Fundstücke, Erkenntnisse und Gedanken zu einem illustrierten Tagebuch mit dem Titel "Heimat – Ein deutsches Familienalbum“.
Der ungewöhnlich gestaltete Text- und Bildband enthält sowohl persönliche Erinnerungsstücke wie Fotos und Briefe als auch zeitgeschichtliches Material aus Archiven. Immer wieder ist ihr Gefühl von deutscher Schuld zu spüren, das in ihrer Jugend durch Erlebnisse im Ausland ausgelöst und sich mit den Jahren verstärkt hat. Dann wieder gibt es heitere Abschnitte wie einen Katalog deutscher Dinge, an die sich die „heimwehkranke Auswanderin“ gern erinnert, zum Beispiel Hansaplast Pflaster, die Gallseife oder Wärmflasche.
Parallel erfahren wir Details, die Nora Krug nach und nach über ihre Familiengeschichte herausfindet. Hier interessiert sie vor allem die Frage nach Schuld und Unschuld von Mitläufern. Anhand der Erzählungen ihrer Mutter versucht sie, den Lebensweg ihres Großvaters zu rekonstruieren, der in Karlsruhe als Chauffeur eines jüdischen Textilhändlers arbeitete und später eine Fahrschule eröffnete. Ich hatte das Gefühl, dass die Autorin bei ihren Recherchen von der Hoffnung getrieben wurde, „entlastendes“ Material zu finden, das die Schuld der eigenen Familie mindert.
Am meisten bewegt haben mich ihre illustrierten und handgeschriebenen Geschichten im Comic-Stil. In den gezeichneten Gesichtern und Kommentaren spiegelt sich mal das Grauen der Verbrechen, mal das Gefühl von Befangenheit oder Wehmut wider. Ich bewundere die Autorin, die sich in dieser Form der Vergangenheit ihrer Familie gestellt hat, keinen Fragen ausgewichen ist und ein kleines Kunstwerk geschaffen hat.
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Nicht verrückt, aber auch nicht ganz normal

So beschreibt sich die Ich-Erzählerin Jessica Vye in „Weit weg von Verona“, dem Debütroman von Jane Gardam. Er ist erstmals 1971 erschienen und liegt nun in deutscher Sprache vor. In der Tat fügt sich die 12-Jährige, die in dem kleinen englischen Küstenort Cleveland Sands aufwächst, so gar nicht in das Bild einer braven Pfarrerstochter. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und eckt sowohl bei den Schulkameradinnen als auch Lehrerinnen an. Das macht ihr aber herzlich wenig aus – viel wichtiger ist für sie, dass ein Schriftsteller, der vor einigen Jahren zu einer Lesung in die Schule kam, ihr schriftstellerisches Talent bezeugte. Nach diesem einschneidenden Erlebnis ist sie versessen darauf, Geschichten zu erzählen und verschlingt einen englischen Klassiker nach dem anderen.
Ihre Kindheit ist überschattet vom Zweiten Weltkrieg und den Luftangriffen der Deutschen, doch sie trotzt den Nöten und Ängsten durch ihre eigenwillige, mutige und zielstrebige Art. Jane Gardam schreibt so frech, erfrischend und authentisch, dass ich mich fast an meine eigene Teenagerzeit erinnert fühlte. Ich bin gespannt, wieviel sich von diesem Stil in ihren aktuellen Romanen wiederfindet.
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Zerstörerische Freundschaft

Der Roman „Nacht über Tanger“ von Christine Mangan handelt von zwei sehr gegensätzlichen Frauen, die in ihrer Collegezeit eng befreundet waren und nach einem tragischen Vorfall getrennte Wege gingen. Die psychisch labile Alice Shipley ist nach einer überstürzten Heirat ihrem Mann John McAllister nach Marokko gefolgt, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Lucy Mason dagegen hat die Trennung nie überwunden und sucht ihre ehemalige Zimmergenossin im Jahr 1956 in Tanger auf.
Gleich zu Beginn schafft die Autorin viele Spannungsmomente, indem sie mehrere Fragen aufwirft: Was für eine Art von Freundschaft verband damals die Studentinnen, was steckt hinter dem immer wieder angedeuteten Unglück in Vermont, das die beiden endgültig entzweite, und wie wird Alice auf Lucys Überraschungsbesuch reagieren?
Genau genommen gibt es neben Alice und Lucy noch eine dritte Hauptfigur in der Geschichte, und zwar die Stadt Tanger. Während Alice es auch nach mehreren Jahren nicht geschafft hat, mit der Umgebung und den Einheimischen warm zu werden, fühlt sich Lucy schon nach wenigen Tagen zugehörig. Sehr anschaulich und sinnlich beschreibt die Autorin Lucys erste Eindrücke und Empfindungen in der pulsierenden Stadt, die auf die Figuren eine ganz unterschiedliche Wirkung ausüben: Für Lucy verkörpert sie Freude und Neuanfang, für Alice Angst und Einsamkeit.
Leider ließ meine Begeisterung nach dem vielversprechenden Anfang stark nach. Zum einen war die Handlung für mich vorhersehbar, zum anderen waren die Nebenfiguren wie Alice’s Ehemann John oder Lucys Verbündeter Youssef zu schablonenhaft. Hinzu kommt, dass die Autorin sehr bemüht ist, jede Gefühlsregung so präzise und detailliert wie möglich zu beschreiben, so dass für die eigene Vorstellungskraft kein Spielraum bleibt. Ich fragte mich auch, wie oft die Figuren denn noch die Stirn runzeln. Aus dem explosiven Stoff rund um Obsession, Eifersucht und Kulturschock hätte man mehr machen können.
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Es war einmal im Greyerzerland

Der Roman „Königskinder“ von Alex Capus beginnt mit einer Szene, die jedem Paar bekannt vorkommen dürfte. Tina und Max sind mit ihrem Wagen im Berner Oberland unterwegs und diskutieren über den angemessenen Zeitpunkt, die Scheibenwischer einzuschalten. In großen Lebensfragen, so heißt es, ist sich das Ehepaar einig, doch in praktischen Dingen wie Spülmaschinen oder Fahrradhelme gerät es ganz schnell in Streit.
Sie fahren trotz Verbot über den verschneiten Jaunpass, bleiben im Schnee stecken und müssen die Nacht im Auto verbringen. Wie gut, dass Max die Gegend kennt und ein talentierter Erzähler ist. So unterhält er Tina und uns Leser mit einer Geschichte, die sich zur Zeit der Französischen Revolution an diesem Schauplatz zugetragen haben soll. 
Sie handelt von dem jungen Kuhhirten Jakob Böschung, der auf einer entlegenen Berghütte im Greyerzerland ein bescheidenes Leben führt. Er verliebt sich in die reiche Bauerntochter Marie-Françoise, doch für ihren strengen Vater kommt eine Heirat nicht in Frage. So verdingt sich Jakob zunächst bei der französischen Armee, später als Hirte am Hof Ludwigs XVI., wo er dessen Schwester Elisabeth dabei helfen soll, ihren künstlich geschaffenen Bauernhof in Gang zu halten.
Alex Capus schildert in knappen Worten und doch sehr plastisch die dekadente Gesellschaft am Hof. Einfach großartig, wie er die Eigenheiten jeder Schicht illustriert: den jähzornigen reichen Bauern, die Prinzessin, die „zu sinnlicher Ahnungslosigkeit verpflichtet“ ist, den verstoßenen Kastraten oder das gut vernetzte Dienstpersonal – keinesfalls boshaft, sondern mit einem Augenzwinkern und einer sprachlichen Treffsicherheit, dass man immer wieder schmunzeln muss. In das Ganze eingebettet ist die Geschichte der reinen Liebe zwischen Jacob und Marie-Françoise…, wobei ich mich schon hin und wieder fragen musste, worüber sich solch ein Paar wohl gestritten hat, als es eben keine Scheibenwischer, Spülmaschinen oder Fahrradhelme gab.
Alex Capus hat nicht nur eine historische und eine moderne Liebesgeschichte elegant miteinander verzahnt, sondern thematisiert auch die Fabulierkunst, die Glaubwürdigkeit einer Geschichte und das Spiel mit der Fantasie und Erwartungshaltung des Zuhörers.
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Bügeln und büßen

Ich kenne so einige, die das Bügeln als Strafarbeit ansehen. „Die Büglerin“ Tonia Schreiber jedoch nimmt dies im neuesten Roman von Heinrich Steinfest durchaus wörtlich. Sie gibt sich die Schuld für ein tragisches Unglück, dass bei einem gemeinsamen Kinobesuch ihrer Nichte Emilie zustößt, und beschließt, ihr restliches Leben damit zu verbringen, Buße zu tun – indem sie die Wäsche reicher Heidelberger Kunden bügelt.
Allein diese Romanidee hat mich derart fasziniert, dass ich dieses Buch unbedingt lesen musste. Und ich wurde nicht enttäuscht. Denn es gibt noch viele andere Aspekte, die den Roman zu etwas ganz Besonderem machen. Der Autor erzählt zum Beispiel von der ungewöhnlichen Freundschaft, die die Tonia mit dem Gemüsehändler Karl Dyballa schließt. Mit welcher Hinwendung beide ihrer Arbeit nachgehen und wie sie trotz ihrer tragischen Vergangenheit gemeinsam einige Glücksmomente im Alltag finden, erzählt Heinrich Steinfest in einem schwebenden, poetischen Ton.
Das Ganze ist eingebettet in eine intelligent komponierte Handlung, denn eines Tages stößt Tonia beim Bügeln auf eine Stickerei, die auf einen Zusammenhang mit Emilies Tod hinweist. Bei ihrer Spurensuche zeigt der Autor sein volles Repertoire an aberwitzigen Ideen, klugen Gedanken, gesellschaftspolitischen Themen und wunderbaren Formulierungen.
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Eine Ehefrau zieht Bilanz

Das verspricht keine angenehme Reise zu werden. Joan Castleman, Ich-Erzählerin des Romans „The Wife“ ("Die Ehefrau") von Meg Wolitzer, begleitet ihren Ehemann Joe nach Helsinki zur Verleihung eines renommierten Literaturpreises und hat den Entschluss gefasst, ihn zu verlassen. Natürlich möchte der Leser wissen, wie es dazu gekommen ist. Damit baut die Autorin einen Spannungsbogen auf und navigiert uns durch Höhen und Tiefen von vierzig Ehejahren.
Joan zählt zu jenen Frauen, die ihr eigenes Leben zurückstellen, um die Karriere ihrer Männer zu fördern. Der Stoff ist nicht neu, doch das Besondere an dieser Geschichte ist, wie minuziös die Erzählerin den Charakter und das Verhalten ihres Mannes auseinandernimmt. Genauso gründlich geht sie aber auch mit sich selbst ins Gericht und macht sich klar, dass sie von Anfang kein anderes Leben wollte.
Als 19-jährige Studentin war sie talentierter als ihr Literaturprofessor, den sie in einem Seminar für Kreatives Schreiben kennenlernte. Trotzdem konnte sie sich keine Karriere als Schriftstellerin vorstellen, erfreute sich an den Erfolgen ihres Mannes und Einladungen zu Verlagsparties und Preisverleihungen und ging in der Rolle als treusorgende Ehefrau und Mutter von drei Kindern auf. Doch auch ihre Opferbereitschaft und ihr Verständnis für seine Eskapaden und Affären hat ihre Grenzen.
Wolitzers bissige Seitenhiebe gegen den elitären Literaturbetrieb, der von egozentrischen Männern dominiert wird, sind einerseits ein großes Lesevergnügen, andererseits ernüchternd, wenn man bedenkt, das sie ein typisches Frauenschicksal in den Sechziger Jahren beschreibt.
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Eine Hommage an die Farben

Man malt sich im Leben so manche Horrorszenarien aus, doch selten eines wie im Roman „Arthur und die Farben des Lebens“. Der Autor und Farbdesigner Jean-Gabriel Causse konfrontiert uns darin mit einer Welt ohne Farben! Die Protagonisten Arthur Astorg und Charlotte da Fonseca müssen mit ansehen, wie eine Farbe nach der anderen verschwindet und eine Tristesse in schwarz, weiß und grau hinterlässt. Das heißt, auf Charlotte trifft dies nicht ganz zu, denn sie ist blind. Die Radiomoderatorin und Expertin auf dem Gebiet der Farbwahrnehmung ist jedoch genauso besorgt wie alle anderen und sucht nach einer wissenschaftlichen Erklärung für das Phänomen.
Arthur wohnt gegenüber von Charlotte und ist ihr heimlicher Verehrer. Bis vor kurzem arbeitete er noch in der Buntstiftfabrik Gaston Cluzel, die jedoch wegen Konkurs schließen musste. Ein pinker Buntstift, den er eines Tages Charlottes kleiner Tochter Louise schenkt, bringt ihn nicht nur seiner Auserwählten näher, sondern scheint auch der Schüssel dazu zu sein, die Farben wieder in die Welt zurückzuholen. Während der Lektüre wurde mir erst richtig bewusst, welche immense Bedeutung Farben in verschiedensten Lebensbereichen haben. Sie stellen den Verkehr sicher, regen unseren Appetit an, kurbeln den Konsum an und tragen wesentlich zur Lebensfreude bei. 
Ein Ex-Mitarbeiter einer Buntstiftfabrik, eine blinde Farbexpertin, ein indischer Taxifahrer und Synästhetiker – Jean-Gabriel Causse hat ein witziges Ensemble für seine schöne Romanidee erschaffen. Als jedoch die chinesische Mafia ins Spiel kommt und sich die Ereignisse überstürzen, wirkt die Handlung und Auflösung etwas zu bemüht und konstruiert. So habe ich mich lieber vom typisch französischen Charme, dem humorvollen Schreibstil und den interessanten Anekdoten über die Symbolik der Farbe unterhalten lassen.
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Vom Bauhaus in die Welt

Nur das Geistige zählt – Vom Bauhaus in die Welt“ ist eine Biografie, von der mir während der Lektüre regelrecht schwindlig wurde. Wenn es im Titel heißt „… in die Welt“, dann ist das wörtlich zu verstehen. Ré Soupault, um die es hier geht, hat ihren Wohnort so oft gewechselt, dass ihr Leben einer Weltreise gleicht – allerdings keiner freiwilligen.
Geboren als Erna Niemeyer in Pommern ging sie 1921 nach Weimar, um am Bauhaus zu studieren. Diese Lebensphase war für mich die interessanteste. Sie berichtet von Johannes Ittens prägenden Einflüssen, von Paul Klees befremdlichen Lehrmethoden, von lebhaften Diskussionen zwischen Studenten aus Polen, Ungarn, Russland oder Österreich, die aus ganz unterschiedlichen Gründen ans Bauhaus kamen, und der großen Aufbruchstimmung.
Ré Soupault selbst kann sich noch auf keinen Kunstzweig festlegen. So geht sie nach Berlin, um mit Viking Eggeling an einem Avantgarde-Film zu arbeiten, fertigt Modezeichnungen für den Berliner Scherl Verlag an, erfindet später ein Transformationskleid für arbeitende Frauen und schafft ihre eigene Modelinie. Ich hatte den Eindruck, dass sie weniger aus innerem Antrieb als vielmehr durch äußere Umstände und aus existenzieller Not zu diesen vielfältigen Beschäftigungen kommt. Ihr Wunsch bleibt stets der gleiche: ein finanziell sorgloses und freies Leben führen zu können.
Als sie 1933 den Journalisten und Surrealisten Philippe Soupault kennenlernt und heiratet, beginnt eine neue Lebensphase für sie. Sie begleitet ihn auf Reportagereisen und entdeckt eine neue Leidenschaft: die Fotografie. Die Zeit in Tunis scheint eine der glücklichsten für sie zu sein. Doch als ihr Mann verhaftet wird, wendet sich wieder das Blatt. Es beginnt eine mühsame Odyssee, von Algier über New York nach Mexico, Guatemala, Buenos Aires, Basel, Paris …
Man hat das Gefühl, dass sie nur noch von Ort zu Ort hastet, in ihren Tagebüchern flüchtig die Lebensbedingungen und Klimaverhältnisse festhält, aber weite Teile ihrer Gedanken ausspart. Mich hätte interessiert, wie es ihr bei der künstlerischen Arbeit erging, doch zu groß waren die existenziellen Nöte als idealistischen Vorstellungen nachzuhängen. So wirft diese Sammlung ihrer biografischen Texte, Briefe und Tagebücher Schlaglichter auf das kulturelle Leben der europäischen Avantgarde im 20. Jahrhundert sowie auf ein entbehrungsreiches und zugleich produktives Leben.
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Die Geister der Vergangenheit

Die Vergangenheit hinter sich lassen und in die Zukunft blicken – das sagt sich so leicht, doch nicht jeder schafft es, loszulassen und zu vergessen. Besonders dann nicht, wenn man solch ein traumatisches Erlebnis hatte wie Elisabetta Shapiro, Ich-Erzählerin des Romans „Das Marillenmädchen“ von Beate Teresa Hanika.
Jedes Mal, wenn Elisabetta nach mütterlicher Tradition aus den Früchten ihres Marillenbaumes Marmelade kocht und den Duft einatmet, kommen die Erinnerungen an ihre jüdische Familie hoch. Sie war gerade einmal neun Jahre alt, als ihre Eltern und ihre beiden älteren Schwestern Rahel und Judith 1944 ins KZ deportiert wurden, und kehrte als einzige Überlebende ins Familienhaus zurück.
Dass eines Tages die junge deutsche Balletttänzerin Pola zur Untermiete in ihr Haus einzieht, macht die Sache nicht leichter. Elisabetta führt ständig Zwiegespräche mit ihren verstorbenen Schwestern und durchlebt in ihren Gedanken die Vergangenheit ein zweites Mal. Die Autorin wechselt dabei nicht nur die Zeitebenen, sondern auch die Erzählperspektive. So erfahren wir parallel Polas enge Freundschaft zu einem Mädchen, das ebenfalls Rahel heißt, und dass eine Verbindung zu Elisabettas Leben besteht.
Beate Teresa Hanika schreibt bildgewaltig, intensiv und poetisch. Manche Szenen sind so beklemmend, das sie noch eine ganze Weile nachwirken. Allerdings hatte ich immer wieder Schwierigkeiten, der Handlung zu folgen. Sowohl die Zeitebenen als auch die gleichnamigen Frauen lassen sich schwer auseinanderhalten und sorgen für Verwirrung.
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Der Weber von Raveloe

Der Roman „Silas Marner“ von George Eliot alias Mary Anne Evans ist im Vorfeld ihres 200. Geburtstags in einer edlen leinengebundenen Ausgabe erschienen. Der britische Literaturklassiker beruht auf einem klassischen Handlungsschema. Ein Fremder ist vor 15 Jahren in das Dorf Raveloe gezogen und führt ein Außenseiterdasein. Es handelt sich dabei um den jungen Leinweber Silas Marner, der in seiner Heimat Lantern Yard von seinem besten Freund hintergangen und aus der Gemeinde ausgestoßen wurde. Nachdem er nicht nur seine Verlobte, sondern alles verloren hat, was ihm je etwas bedeutete, lebt er in völliger Isolation und schürt dadurch das Misstrauen der Dorfbewohner.
Die Figur ist nicht gerade ein Sympathieträger, doch durch Eliots sprachlicher Finesse und psychologischem Gespür kann man seinen Groll, seine Resignation und Isolation gut nachempfinden. Der Webstuhl ist ein treffendes Symbol, um die mechanische Tätigkeit und den monotonen Alltag zu verdeutlichen. Silas’ einziger Lebensinhalt ist seine Arbeit und die Mehrung seines Goldschatzes. Doch sogar dieser wird ihm eines Tages gestohlen, so dass er vor dem Nichts steht. Erst als er ein Findelkind vor der Tür vorfindet, nimmt sein Leben eine positive Wende.
George Eliot hat ihre Botschaft, auch nach mehrfachen tragischen Rückschlägen nicht den Glauben und das Vertrauen in die Welt zu verlieren, in eine bewegende Geschichte verpackt. Das Findelkind Eppie, das Silas Marner adoptiert und großzieht, beschert ihm eine zweite Chance und verwandelt seine Verzweiflung und seinen Hass auf die Mitmenschen allmählich in Liebe und Warmherzigkeit. Ein interessanter Zug der Autorin ist, dass nicht nur der Leinweber, sondern eine zweite zentrale Figur, die sich als Vater des Kindes zu erkennen gibt, ebenfalls eine Läuterung durchmacht. Gespannt verfolgt man das Schicksal der unterschiedlichen Charaktere und taucht dabei in das ländliche Leben Englands zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein.
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Der Prinz aus dem Stadtpark

Die Geschichte „How to Fall In Love with a Man Who Lives in a Bush“ („Wie ich mich auf einer Parkbank in einen bärtigen Mann mit sehr braunen Augen verliebte“) hat nicht nur einen verrückten Titel, sie ist auch viel zu verrückt, um wahr zu sein. Und doch erzählt Emmy Abrahamson in diesem Roman von ihren eigenen Erlebnissen, nämlich wie sie ihren Ehemann kennen- und lieben lernte.
Die Hauptfigur Julia ist Schwedin, gibt Englischunterricht am Berlitz Institut in Wien und fristet ein typisches Singledasein. Eines Tages lernt sie auf einer Parkbank den obdachlosen Kanadier Ben kennen und sofort funkt es zwischen ihnen. Julia ist nicht nur hin und weg von seinen schönen braunen Augen, sondern auch von seinem völlig anderen Lebensstil und seiner Selbstsicherheit. 
Während Ben ihr schon bei der ersten Begegnung verkündet, dass sie heiraten und Kinder haben werden, regen sich bei Julia schnell die ersten Zweifel. Ihre anfängliche Begeisterung schlägt nach und nach in Wut und Frustration um, weil sie keine Perspektive für eine gemeinsame Zukunft sieht. 
Emmy Abrahamson erzählt nicht nur eine bewegende und abenteuerliche Liebesgeschichte, sondern zeigt auch, wie eine einzigartige Begegnung das Leben auf den Kopf stellen kann. Es braucht viel Mut und Stärke, um seine Vorurteile abzulegen und Neues zuzulassen, wird dafür aber reichlich belohnt. Die Autorin schreibt so humorvoll und warmherzig, dass ich Julias Wandlung und emotionale Achterbahn mit höchstem Vergnügen und Tränen begleitet habe.
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Tragischer Held geht auf Weltreise

Wer träumt nicht davon, auf eine Weltreise zu gehen und Einladungen nach Turin, Berlin, Marokko, Indien oder Japan anzunehmen. Der Anlass ist für Arthur Less, tragischer Held des Romans „Less“ („Mister Weniger“) von Andrew Sean Greer, weniger erfreulich. Er wurde zur Hochzeit seines Ex-Geliebten Freddie eingeladen und sucht nun aus lauter Kummer das Weite.
Jede Ablenkung ist dem mäßig erfolgreichen Autor aus San Francisco, der auf die 50 zugeht recht. So stellt er sich für verschiedenste Events und Aufträge zur Verfügung, zum Beispiel die Moderation einer Science-Fiction-Lesung in New York oder einen Artikel über japanische Kaiseki-Küche, von der er keinen blassen Schimmer hat. Während der Reise reflektiert er über sein vergangenes Leben, die Liebe, das Schwulsein und diverse Verluste wie seine große Liebe Freddy, seine Jugend oder eine steile Karriere als Schriftsteller.
Es gibt einige witzige Situationen in dem Roman, besonders in Berlin, wo er in einem überfüllten Studentenseminar in Berlin seine miserablen Deutschkenntnisse zum Besten gibt. Leider gab es trotz der interessanten Schauplätze keine besonderen Highlights in der Handlung, so dass ich die positive Resonanz nur teilweise nachvollziehen kann.
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Verliebt in sein Forschungsobjekt

Der Roman „The Man Without a Shadow“ („Der Mann ohne Schatten“) von Joyce Carol Oates handelt von einer höchst ungewöhnlichen Beziehung zwischen einer Neurowissenschaftlerin und ihrem Forschungsobjekt. Seit einer Entzündung im Gehirn ist das Kurzzeitgedächtnis von Elihu Hoope gestört. Der 37-Jährige kann sich gerade einmal siebzig Sekunden lang erinnern.
Mit großem Enthusiasmus stürzt sich die ehrgeizige Neuropsychologin Margo Sharpe auf den Fall, der eine große berufliche Chance für sie darstellt. Man könnte meinen, dass es mühsam ist, sich jedes Mal seinem Probanden vorstellen zu müssen. Doch Margot fühlt sich in seiner Gesellschaft wohl und führt lange vertraute Gespräche mit ihm. Während sie Elihus Erinnerungsvermögen mit einer Reihe von Tests untersucht, kommen auch aus seinem vergangenen Leben mysteriöse Bruchstücke zum Vorschein, was die Spannung erhöht.
Der interessanteste Aspekt ist sicher die ambivalente Figur der Margo. Einerseits legt sie großen Wert auf ihre Karriere und Professionalität, andererseits lässt sie sich von ihren romantischen Gefühlen zu Elihu leiten, gaukelt ihm sogar vor, sie sei seine Ehefrau und bindet trotz ethischer Bedenken ihr Forschungs- und Liebesobjekt völlig an sich.
Für mich hatte die Geschichte ein paar Längen, doch abgesehen davon hat mich das hohe literarische Niveau, die gut gezeichnete Hauptfigur und Oates interessante Gedanken über unser Gehirn und Erinnerungsvermögen schwer beeindruckt.
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Die Suche nach der Schönheit

Die Eleganz des Igels“ von Muriel Barbery ist garantiert kein Buch, das man in einem Zug verschlingt. Immer wieder gab es Passagen, die ich mehrmals lesen musste, um sie zu verstehen. Zum einen ist Barberys Sprache hochgestochen und komplex, zum anderen sind die philosophischen Gedanken und der Weltschmerz der zwei Ich-Erzählerinnen keine leichte Kost.
Beide Figuren leben in einem Pariser Stadtpalais in der Rue de Grenelle 7. Die eine heißt Renée, ist 54, arbeitet als Concierge und frönt heimlich ihrer Leidenschaft für Kunst, Literatur und Film. Die andere, Paloma, ist hochbegabt, Tochter reicher Eltern und plant, an ihrem 13. Geburtstag Selbstmord zu begehen. Sie haben also nicht vieles gemeinsam – außer, dass sie beide auf der Suche nach der Schönheit in der Welt sind.
Nach vielen Enttäuschungen hatten beide eigentlich diese Suche aufgegeben. Doch als der japanische Geschäftsmann Kakuro Ozu in die Residenz einzieht, scheint sich die Balance und Stimmung im Haus ein wenig zu verschieben. Das war auch für mich der Zeitpunkt, an dem mein Interesse für den Fortgang der Geschichte geweckt wurde. Bis dahin war ich oft in der Versuchung, die Lektüre abzubrechen, weil mir die Ansprache auf rein intellektueller Ebene zu anstrengend wurde.
Der Japaner bringt auf elegante und subtile Weise frischen Wind in den tristen Alltag der Hausbewohner und hilft Renée und Paloma, hinter der hässlichen und profanen Oberfläche das Schöne zu entdecken – ganz im Sinne des japanischen ästhetischen Konzepts Wabi-Sabi. Das beschert auch dem Leser kurze, genussvolle Momente voller Emotionen und Intensität, zum Beispiel als Paloma den außergewöhnlichen Augenblick eines Chorauftritts erlebt oder Renée einen Moment der Wonne und glücklichen Entspanntheit in Gesellschaft von Monsieur Ozu genießt.
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Ein Familienvater zeigt uns die Welt

Im Sommer“ ist der vierte und letzte Teil der Jahreszeiten-Bände von Ove Knausgård. Er bleibt seinem Prinzip treu und führt uns durch seine Gedankenwelt in Form von Essays und Tagebuchnotizen. Auch diesmal nimmt er scheinbar belanglose Gegenstände und Lebewesen wie Rasensprenger, Schnecken, Fledermäuse oder Speiseeis unter die Lupe und stellt sie wie ganz einzigartige Geschöpfe dar. Wenn wir Früchten wie Johannisbeeren bisher keine besondere Bedeutung beigemessen haben, dann wird uns spätestens nach der Lektüre klar, welche Exklusivität sie besitzen.
Der Autor beschreibt zunächst die äußere Erscheinung und geht dann über zu den Erinnerungen, Stimmungen und Gefühlen, die die Dinge bei ihm auslösen. Dabei gibt er wie gewohnt viel Persönliches preis wie seine Schamgefühle oder Ängste vor autoritären Personen. In diesem vierten Teil zeigt er sich literarisch noch experimentierfreudiger als zuvor. So schlüpft er mitten in seinem Tagebuch in die Rolle einer Norwegerin und erzählt uns eine völlig fremde fiktionalisierte Geschichte, die im Zweiten Weltkrieg spielt. Mit diesem Part konnte ich allerdings nur wenig anfangen – er fiel zu sehr aus dem Rahmen.
Knausgårds besondere Stärke liegt für mich in den ungewöhnlichen Assoziationen und fantasievollen Vergleichen, zum Beispiel zwischen Kirschbäumen vor der Blüte und unscheinbaren Schülern, die ihre Pracht noch nicht entfaltet haben, oder zwischen Wespennestern und griechischen Stadtstaaten. Immer wieder war ich gespannt darauf, welchem Objekt er als nächstes seine Aufmerksamkeit schenken und ein Kapitel widmen wird. Die wunderschönen Aquarelle von Anselm Kiefer runden das schön gestaltete Buch ab und sind eine wahre Augenweide.
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Welches Buch brauchst du?

Juliette, Heldin der Geschichte "La fille qui lisait dans le métro" („Das Mädchen, das in der Metro las“) von Christine Féret-Fleury liest nicht nur selbst leidenschaftlich gern, sie beobachtet auch mit Vorliebe andere beim Lesen. Sehr gut dafür eignet sich die tägliche Fahrt zu ihrer Arbeit in der Métro. Dabei fragt sie sich, was wohl in den Köpfen der Leser, die in eine Insektenenzyklopädie, ein Kochbuch oder einen Liebesroman vertieft sind, vorgehen mag. Leider ist in der Realität solch ein Anblick selten geworden, denn heutzutage starren die Pendler meist nur noch auf ihre Handys.
Als Juliette eines Tages zwei Stationen früher aussteigt, um ihrem Alltagstrott zu entfliehen, stößt sie auf ein Antiquariat der ganz besonderen Art. Dort sorgt der Buchnarr Soliman dafür, dass Menschen genau die Bücher erhalten, die sie brauchen und die ihr Leben positiv beeinflussen können. Juliette scheint ihm prädestiniert dafür, ebenfalls als Bücherkurier tätig zu werden.
Dass Musik und Literatur eine heilende oder gar lebensverändernde Wirkung haben, scheint derzeit ein beliebtes Thema zu sein. Die Hauptfigur Frank in „The Music Shop“ von Rachel Joyce hat die Gabe, für seine Kunden genau die passende Musik auszuwählen. Auch Juliette scheint als Bookcrossing-Agentin ihre Berufung gefunden zu haben. Etwas mehr Handlung und Spannung hätte ich mir in diesem recht kurzen Roman gewünscht. Immerhin versprüht er einen typisch französischen Charme und vermittelt eine Botschaft, die ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann: Bücher, die man genau zur rechten Zeit liest, können tatsächlich das Leben verändern.
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Raffinierter Psychothriller

Es bedarf schon viel Mut, um einem wildfremden Mann an einem Strand aufzugabeln und ihn zu Hause aufzunehmen. Noch dazu, wenn dieser weder weiß, wie er dorthin gekommen ist noch wie er heißt. Doch Alice Lake, Protagonistin des Romans „I Found You“ („Der Fremde am Strand“) entspricht ohnehin keiner Durchschnittsfrau. Die Alleinerziehende hat drei Kinder von verschiedenen Vätern, drei Hunde, lebt in einem Cottage im englischen Küstenort Ridinghouse Bay und verdient ihren Lebensunterhalt damit, aus Weltkarten Figuren zu basteln.
Wer ist dieser Fremde, dem Alice den Namen Frank gibt, und warum leidet er unter einem Gedächtnisverlust? Diese Frage treibt den Leser durch die unheimlich spannend konstruierte Geschichte. In drei Erzählsträngen liefert die Autorin nach und nach neue Puzzleteile. Da gibt es eine Familie, die im Sommer 1993 Urlaub an dieser Küste machte und einen mysteriösen Mann kennenlernte; dann eine Frau namens Lily Monrose, die ihren Ehemann vermisst und sich auf die Suche begibt; und schließlich Alice, die Frank dabei hilft, sich an seine Vergangenheit zu erinnern, in der ein tanzender Pfau eine Rolle spielte.
Lewis Jewell versteht es, den Leser bis zur letzten Seite zu fesseln. Sie lässt jedes Kapitel mit einem Cliffhanger enden, wartet mit überraschenden Wendungen auf und liefert interessante Charakterstudien, die sowohl menschliche Tugenden als auch tiefe Abgründe offenbaren.
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Viel Atmosphäre, wenig Spannung

Eine vermisste Person ist immer guter Stoff für einen Krimi – so auch in dem Roman „Im Morgengrauen“ von Tom Bouman. Nach „Auf der Jagd“ lässt der amerikanische Schriftsteller seine Figur Henry Farrell in einem neuen Fall ermitteln: Die drogenabhängige Penny Pellings, die mit ihrem Freund Kevin O’Keeffe in einem Wohnwagen hauste, wird vermisst. Kevin gibt zu, einen Mann erschossen zu haben, kann sich aber sonst an nichts mehr erinnern. Henry will keine voreiligen Schlüsse ziehen und beleuchtet gründlich das gesamte Umfeld der vermissten Person.
Während er Pennys Bekannte und Verwandte nacheinander abklappert, erfahren wir nicht nur ihre Vorgeschichte, sondern auch viele Details über die Lebensbedingungen der Menschen nd Missstände. Die Region ist stark gebeutelt durch Heroinhandel, ungelöste Mordfälle und den industriellen Niedergang.
Schon in seinem letzten Buch fiel mir auf, dass sich Boumans Geschichten von typischen Krimis stark unterscheidet – und das nicht nur, weil Officer Henry als einziger in seiner Dienststelle alles selbst machen muss. Man merkt auch, wie sehr dem Autor die Umgebung vertraut ist. Immer wieder nimmt er sich Zeit, die Landschaft, Tier- und Pflanzenarten detailliert zu beschreiben und erweckt die tiefen Wälder von Wild Thyme zum Leben. Darunter leidet jedoch die Dramaturgie und Spannung. Das Tempo war mir zu gemächlich, die Ermittlungsfortschritte zu langsam. Immerhin hatte ich so die Gelegenheit, völlig in den Schauplatz einzutauchen und mich an Boumans stilistischem Können zu erfreuen.
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Konfliktreicher Familienurlaub

Urlaub bedeutet für die einen Erlebnis und Abenteuer, für die anderen Rückzug und Erholung. In dem Roman „So also endet die Welt“ von Philip Teir scheint der zehnwöchige Sommerurlaub der Familie Holmberg an der finnischen Westküste eher eine Flucht aus ihrem Leben zu sein.
Vater Erik, IT-Experte in einem Warenhaus, wurde kurz vor der Abreise entlassen, verschweigt es aber seiner Frau Julia und versucht, durch Unternehmungen mit den Kindern, später durch Alkohol, auf andere Gedanken zu kommen. Julia zieht sich zurück, um ihren zweiten Roman zu schreiben, verbringt jedoch mehr Zeit damit, ihr Leben und ihre Ehe zu hinterfragen. 
In dieser seelisch labilen Lage ist es nicht verwunderlich, dass sie sehr empfänglich sind für neue Impulse. Durch die unerwartete Begegnung mit Julias einstiger Jugendfreundin Marika und ihrem Mann und Umweltaktivisten Chris oder mit Eriks Bruder Anders, der sie spontan besucht, lernt das Paar völlig andere Lebensformen kennen. Sehr spannend inszeniert der finnische Autor, wie der Personenkreis und damit auch die zwischenmenschlichen Spannungen immer mehr zunehmen.
Philip Teir räumt jeder einzelnen Figur, Erwachsenen wie Kindern, viel Raum ein, um ihr Seelenleben offenzulegen. Jeder scheint auf der Suche nach echten Gefühlen und einem passenden Lebenskonzept zu sein. Viele Metaphern und Symbole deuten darauf hin, dass der kleine Mikrokosmos für eine ganze Gesellschaft steht, die subtil seziert wird. Der Sogwirkung dieses Romans kann man sich nur schwer entziehen.
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Handbuch für das Leben

Seinen ersten Job anzutreten, kann ein einschneidendes Erlebnis sein. Für Keiko Furukura, Heldin des Romans „Die Ladenhüterin“ von Sayaka Murata, ist es jedoch weitaus mehr. Für sie gibt es ein Leben vor und nach der Anstellung in einem sogenannten „Konbini“ (Convenience Store), einem 24-Stunden-Supermarkt.
Schon als Kind war Keiko eine Außenseiterin, die sagte und tat, was ihr in den Sinn kam. Ihre Spontanität wurde ihr so lang ausgetrieben, bis sie sich völlig zurückzog und schwieg. In ihrer Stelle als Ladenhilfe weiß sie das erste Mal, wie sie sich zu verhalten hat ohne Anstoß zu erregen. In einer Schulung bekommt sie sogar eine genaue Anleitung – vom Morgenappell über das Tragen der Uniform bis hin zum Auffüllen der Tiefkühlregale.
Das ist Keiko jedoch zu wenig. Um ganz sicher zu gehen, dass sie als vollwertiges Mitglied des Ladens akzeptiert wird, kopiert sie unauffällig das Verhalten und den Tonfall ihrer Kolleginnen. Sie perfektioniert immer mehr ihre Rolle im Supermarkt während sie sich draußen nach wie vor wie ein „Fremdkörper“ fühlt. Dafür sorgen vor allem ihre Eltern und Freundinnen, die sie zur Heirat und zu einem geordneten Leben drängen. Und was passiert, wenn ein weiterer Außenseiter in den Convenience Store und somit in ihr Leben tritt? Er sorgt auf jeden Fall für eine interessante Wende.
Ich habe die Geschichte in einem Zug durchgelesen und musste noch öfter an die eine oder andere Szene denken. Originell finde ich die Idee, dass hie die Hauptfigur keineswegs aus dem Hamsterrad ausbrechen will, sondern in der genormten Welt regelrecht aufgeht. Hinter dem trockenen Humor, der Situationskomik und den skurrilen Figuren verbirgt sich eine Welt, die in Japan durchaus der Realität entspricht, sei es die extrem ausgeprägte Arbeitsethik, die Vorurteile gegen unverheiratete Frauen oder gegen Aushilfskräfte. Ich habe schon viele Bücher über Außenseiter/innen gelesen, doch die Figur der Keiko, die eine ganz ungewöhnliche Berufung gefunden hat, werde ich nicht so schnell vergessen.
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Die Reise seines Lebens

Eine Pilgerreise will gut vorbereitet sein. Die nötige Zeit einplanen, sich mit der Familie abstimmen, das Equipment besorgen … Selten entschließt man sich dazu so spontan wie Harold Fry, Held der Geschichte „The unlikely pilgrimage of Harold Fry“ („Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“) von Rachel Joyce.
Eigentlich wollte der 65-jährige Rentner nur zum nächsten Briefkasten gehen, um einen Antwortbrief abzuschicken. Doch auf dem Weg dorthin wird ihm klar, dass dieser Brief nicht genügt. Er muss Queenie Hennessy, eine frühere Arbeitskollegin, die ihm nach zwanzig Jahren plötzlich einen Abschiedsbrief geschrieben hat, weil sie im Sterben liegt, persönlich treffen. Und so beginnt Harold seinen Fußmarsch von Kingsbridge im Süden quer durch England zum Hospiz in Berwick.
So verrückt das Unterfangen auch klingt, für den Leser wird es nachvollziehbar, weil die Autorin sehr glaubwürdig schildert, wie Harolds Entschluss allmählich in ihm reift. Zum einen hat er das Bedürfnis, in seinem Leben zum ersten Mal etwas drastisch zu verändern, zum anderen treibt ihn – angespornt durch ein Mädchen, das ihm eine bewegende Geschichte erzählt – der Glaube, dass er durch seinen Akt Queenie retten kann.
So wird Harold in jeder Hinsicht aus seiner Komfortzone herausgerissen. Obwohl er weiterhin versucht, möglichst unauffällig zu bleiben, wird er im Frühstücksraum eines Hotels schnell zum Gesprächsthema Nr. 1 und sorgt später sogar für richtigen Medienrummel.
Rachel Joyce schreibt jede Etappe und Begegnung während der Pilgerreise so bildhaft, dass man das Gefühl hat, Seite an Seite mit Harold zu marschieren. Zum ersten Mal nimmt er die Schönheit der Landschaft, an der er als Brauereivertreter so oft vorbeigefahren ist, bewusst wahr. Die intensiven Sinneseindrücke vermischen sich mit seinen Erinnerungen an seinen Sohn David, seine Frau Maureen, an Queenie und seine Reue über all seine Versäumnisse.
Ähnlich wie in ihrem aktuellen Buch „The Music Shop“ geht es Rachel Joyce auch in diesem wunderbaren Roman darum, dass etwas Größeres die Menschen mit ihren Einzelschicksalen verbindet und dass der Glaube an eine Sache mehr wiegen kann als die Vernunft.
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Vinyl über alles

Ich würde mich schon wundern, wenn ich eigentlich Musik von Chopin kaufen wollte und statt dessen mit einem Album von Aretha Franklin nach Hause gehe. Genau das bewirkt Frank, Held der Geschichte „The Music Shop“ („Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie“) von Rachel Joyce.
Frank hat weder eine musikalische Ausbildung, noch spielt er ein Instrument. Doch er versteht etwas von Musik, oder genauer gesagt, welchen Song oder welche Sinfonie ein Mensch in einer bestimmten Lebenslage braucht. Auch der „Mann, der nur Chopin hört“ ist überrascht, dass „Oh No Not My Baby“ von Aretha Franklin ihn über den Betrug seiner Frischvermählten hinweghilft. 
So führt Frank ein geregeltes Leben in seinem Plattenladen, weigert sich strikt CDs in sein Sortiment zu nehmen ... bis eines Tages eine Frau im grünen Mantel das Geschäft betritt – eine in jeder Hinsicht ungewöhnliche Erscheinung, die Frank völlig den Kopf verdreht. Sie fällt in Ohnmacht, verschwindet ganz plötzlich und lässt bei ihrem zweiten Besuch ihre Handtasche da.
Was Frank besonders verwirrt, sind nicht nur seine romantischen Gefühle für sie, sondern dass sie keine Musik mag. Dennoch fragt sie ihn über Stücke wie die „Vier Jahreszeiten“ aus, statt sich das Stück anzuhören, und bittet ihn sogar um Musikunterricht.
Es dauert noch eine Weile, bis ihr Geheimnis gelüftet wird, aber auch danach kann man das Buch nur schwer aus der Hand legen. Zu sehr sind einem die Figuren ans Herz gewachsen, die die Autorin so liebevoll und mit feinem sensiblem Gespür zeichnet wie Frank seine Kunden berät. Außerdem nimmt die Geschichte ständig eine neue Wendung – bis zum finalen Paukenschlag, der nicht nur Musikliebhaber mitreißen wird.
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Mörderjagd in einer Stadt der Extreme

August Emmerich und Ferdinand Winter, Protagonisten des Romans „Die rote Frau“ von Alex Beer, sind nicht zu beneiden. Den Kriminalbeamten der Abteilung ‚Leib und Leben‘ werden trotz der erfolgreichen Aufklärung ihres letzten Falls nur Schreibarbeiten zugeteilt. Dabei würden sie sich viel lieber in einem aktuellen Fall, bei dem der beliebte Stadtrat Richard Fürst ermordet wurde, nützlich machen. Unverhofft bekommen sie die Gelegenheit dazu – allerdings mit einem Haken: Sie müssen die Tat innerhalb von 72 Stunden aufklären.
Alex Beer baut gleich mehrere Spannungselemente ein: Zum einen müssen sich Emmerich und Winter ganz schön ins Zeug legen – schließlich steht ihre zukünftige Karriere auf dem Spiel. Für den allem Anschein nach unschuldig Inhaftierten hängt sogar sein Leben davon ab, ob der wahre Täter gefasst wird. Und es ist nicht einmal klar, ob ein politisches, wirtschaftliches oder persönliches Motiv hinter der Tat steckt.
Erneut skizziert Alex Beer das Nachkriegswien mit all seinen Gesichtern, diesmal noch vielschichtiger als im letzten Fall. Man hat das Gefühl, in jeden Winkel der Stadt einzutauchen, sei es die Straßen voller Hungerleidenden und Kriegsveteranen, das Nachtleben, die Unterwelt, die Palais der Reichen oder die illustre Filmindustrie. Die Autorin schildert die Lebensumstände und Atmosphäre so authentisch, als wäre ihr jedes Terrain vertraut. Nebenbei erläutert sie interessante Details über bedeutende Bauwerke und Lokale, die heute noch existieren.
So stelle ich mir meine ideale Lektüre vor: Ein raffinierter Plot eingebettet in ein facettenreiches historisches Setting und detailliert recherchiertes Zeitgeschehen. Ich freue mich schon auf den nächsten Fall des gut eingespielten Ermittlerduos.
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Inseln der Lebendigkeit

Das WM-Fieber steigt und steigt. Der Fußball spielt auch in dem Buch „Rettet das Spiel!“ eine Rolle. Schließlich sind Fußballspiele „die öffentlichkeitswirksamsten Kulturereignisse unserer Zeit“, so die Autoren Gerald Hüther und Christoph Quarch. Doch inwieweit haben sie ihre spielerische Leichtigkeit und Lebendigkeit bewahren können? Und warum müssen Spiele im allgemeinen  – wie der Buchtitel suggeriert – gerettet werden?
Um diesen Fragen nachzugehen, nehmen uns die Autoren zunächst mit auf eine Zeitreise in die Antike – denn bereits die Griechen waren von der Idee beseelt, das Leben als ein Spiel zu feiern und in vielfältigen Spielen das wahre Menschsein auszubilden. Im Laufe des Buches begegnen wir weiteren Verfechtern des Spiels, zum Beispiel Schiller, der freie Spielräume und Spielzeiten forderte, um der Schönheit zu huldigen, oder die Romantiker, die die Magie des Lebens mit seinen unendlichen Möglichkeiten entfesseln wollten.
In diesem kulturgeschichtlichen Abriss macht das Autorenduo deutlich, dass das Spielen Freiräume öffnet, in denen die Spieler in einer guten Balance von Verbundenheit und Freiheit ihre Geschicklichkeit, Talente und Emotionen zeigen können. Der Homo ludens werde in der heutigen Zeit jedoch immer mehr durch den Homo oeconomicus verdrängt, der nach Effektivität und Produktivität strebt.
In einer Mischung aus philosophischen Gedanken und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beleuchten Hüther und Quark verschiedene Spielvarianten und entlarven auch gefährliche Spielverderber. Stellenweise schien mir die Lobpreisung des Spiels etwas übertrieben und ihre Vorstellungen sehr idealistisch, doch beschreiben sie eine Welt, die auch aus meiner Sicht unbedingt erstrebenswert ist. Das Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für das zwang- und absichtslose Spiel, das das volle kreative Potenzial der Spieler zum Vorschein bringen kann, Lebensfreude weckt und das Gefühl des Miteinanders in Beruf, Familie und Freizeit stärkt.
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Zauberhafter Künstlerroman

Ein Selbstmord in der Familie ist nur schwer zu verkraften. Bei Karl Stiegenauer, Protagonist des Romans „Leinsee“ von Anne Reinecke, ist die Sache jedoch weitaus komplizierter. Sein Vater August hat sich erhängt, weil er ohne seine Frau Ada, die an Krebs erkrankt ist, nicht mehr leben wollte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie die Operation überlebt. Im Leben dieses berühmten Künstlerpaars war für Karl schon als Kind kein Platz. Kein Wunder, dass ihn die Rückkehr in sein Elternhaus in Leinsee überfordert.
Der einzige Halt für ihn ist die achtjährige Tanja, die eines Tages ganz plötzlich im Kirschbaum seines Gartens sitzt und ihn beim Entrümpeln beobachtet. Gerade weil Karl sein Leben im Moment so absurd und surreal vorkommt, passt die Erscheinung des Mädchens, das lauter verrückte Dinge anstellt wie Steinformationen in seinem Garten zu bilden, so gut ins Bild.
Ich war ganz fasziniert von der ungewöhnlichen Beziehung, die sich langsam zwischen ihnen aufbaut. Es bedarf keiner Worte – allein die Präsenz des anderen in der Nähe zu spüren macht die beiden glücklich. Die Rückkehr in seine Heimat und die Begegnung mit Tanja bringt Karl nicht nur dazu, sich den Erinnerungen an eine einsame Kindheit zu stellen, sondern entfacht auch sein künstlerisches Schaffen.
Der Roman hat mich auf der ganzen Linie begeistert: die gut ausgearbeiteten, teils skurrilen Figuren, allen voran der eigenbrötlerische und doch sympathische Karl, der seinen Lebenssinn und seine Heimat neuentdeckt, die Seitenhiebe auf die sich wichtig nehmende Kunstszene und den Promikult, der schwarze Humor (selten wurde ein Polizeibesuch so ungemein witzig beschrieben), Reineckes prägnante und der Situation angepassten Sprache, aber vor allem die bezaubernde Poesie, die sich in der abstrusen und tragikomischen Handlung entfaltet.
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Leben im Konjunktiv

Was haben selbst geerntete Kartoffeln und Dicke Bohnen mit einer Liebesaffäre zu tun? Nichts könnte man meinen, doch die Schriftstellerin Claire-Louise Bennett schafft es, eine Verbindung zu schaffen. In ihrem Roman „Teich“ tauchen noch mehr solcher überraschenden Gedankensprünge auf. Ging es gerade noch um die Gartenarbeit in ihrem Cottage an der irischen Westküste, dreht sich das Thema auf einmal um die Brutalität der Liebe in der Literaturgeschichte.
Die Autorin hat sichtlich Spaß daran, mit dem Leser zu spielen und ihn mitunter auf die falsche Fährte zu führen. Man fragt sich ständig, ist das wichtig, was sie gerade erzählt, oder belanglos und keine größere Aufmerksamkeit wert. Bennett scheint es selbst nicht genau zu wissen oder vermittelt zumindest den Eindruck. Sie erzählt vieles im Konjunktiv und weckt den Anschein, dass sie sich gar nicht festlegen möchte. Viele Sätze leitet sie mit „Ehrlich gesagt“ ein, als sei sie bemüht, ihre wahren Gefühle offenzulegen.
So finden viele Episoden nur in ihrem Kopf statt, manche darunter durchaus humorvoll: Sie stellt sich beispielsweise vor, wie sie sich verhalten würde, wenn sie auf ihrer eigenen Party eingeladen wäre. Die Neugier, welcher schräge Gedanke oder welche ungewöhnliche Formulierung als nächstes kommen wird, trieb mich in erster Linie durch die handlungsarme Geschichte. Obwohl mir die Erzählerin bis zum Schluss unsympathisch blieb, hoffte ich doch in jedem Kapitel, etwas mehr über ihr Leben und ihr Wesen zu erfahren.
Dieser Roman zählt zu jenen, die weniger durch die Handlung als vielmehr durch die unkonventionelle Erzählweise faszinieren, doch diese Faszination ließ bei mir zum Ende hin nach. Zurück blieb ein bitterer Nachgeschmack und die verstörende Erkenntnis, was die selbst gewählte Einsamkeit mit einem Menschen anstellen kann.
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Überleben macht einsam

Wünscht sich nicht jeder Mensch insgeheim, den Alterungsprozess aufzuhalten? Dabei ist das vielleicht gar nicht so erstrebenswert, wie der Roman „How to stop time“ („Wie man die Zeit anhält“) von Matt Haig zeigt.
Der Ich-Erzähler Tom Hazard sieht aus wie 40, ist aber über 400 Jahre alt. Er altert so langsam, dass er alle acht Jahre eine neue Identität annehmen und die Regeln einer bestimmten Organisation beachten muss, um sich und sein Umfeld zu schützen. Zuletzt hat er passenderweise eine Stelle als Geschichtslehrer in London angenommen.
Mir würden ja etliche Berufe und Lebensentwürfe einfallen, die ich in solch einer großen Zeitspanne ausprobieren könnte. Doch was auf dem ersten Blick aufregend und als große Bereicherung erscheint, hat auch seine Kehrseite. Tom hat jedenfalls schon vor langer Zeit nicht nur seine geliebte Frau Rose, sondern auch seine Lebensfreude verloren, weil er einsam ist und das Gefühl hat, alles schon einmal erlebt zu haben. Sein einziger Lebensantrieb ist die Suche nach seiner verschwundenen Tochter Marion, die unter der gleichen Krankheit leidet wie er.
So spontan wie Tom seine Flashbacks erlebt, werden auch wir wie in einer Achterbahn aus der Gegenwart in vergangene Epochen und verschiedene Kontinente katapultiert. Nach und nach erfahren wir nicht nur Einzelheiten über sein persönliches Schicksal, sondern auch von Kriegen, Hexenverbrennungen, geografischen Entdeckungen und seinen Begegnungen mit prominenten Zeitgenossen wie Shakespeare, Captain Cook oder Charlie Chaplin.
In seinem letzten Roman „The Humans“ („Ich und die Menschen“), der mich begeistert hat, ging es um die räumliche Dimension. Nun hat sich Matt Haig die Zeitachse vorgeknöpft und erneut eine brillante Idee intelligent und unterhaltsam umgesetzt. Wie fühlt es sich wohl an, wenn ein Gegenstand oder ein Duft nicht nur eine, sondern gleich unzählige Erinnerungen hervorruft? Seine philosophische Gedanken regen dazu an, über seine eigene Lebenszeit, den Sinn des Lebens und die Liebe nachzudenken und sind auch ein Appell, sich von Ängsten, die das Umfeld in seinem eigenen Interesse bei den Menschen schürt, zu befreien.
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Leben als kreatives Multitalent

Was macht man, wenn man so viele Interessen hat, dass man sich nur schwer auf ein Gebiet spezialisieren kann? Wenn man lauter angefangene Projekte und das Gefühl hat, unstet, oberflächlich und unfähig zu sein? Antworten gibt Anne Heintze in ihrem Buch „Auf viele Arten anders: Das Leben als Scanner-Persönlichkeit“. Sie beleuchtet typische Merkmale einer vielbegabten Person und zeigt am Beispiel von Leonardo da Vinci, wie man sein Potenzial erfolgreich und sinnstiftend einsetzen kann.
Vielleicht mag man sich nicht gleich mit solch einem Genie messen, doch betroffene Leser werden sich sicher an vielen Stellen des Buches wiedererkennen und erleichtert sein, dass sie ihr „Anders sein“ zu ihrem Gunsten nutzen können. Die Autorin und Trainerin stellt dazu verschiedene Intelligenzformen und sieben Ebenen vor, um seinem inneren Antrieb und persönlichen Lebenssinn auf die Spur zu kommen. Interessant sind auch die Erfahrungsberichte von vielbegabten Personen, die ganz unterschiedlich mit ihrer Veranlagung umgehen.
Viele Ratschläge und Exkurse zu den Themen Kreativität und Resilienz gelten nicht nur für Scanner-Persönlichkeiten, sondern ganz allgemein für alle, die in Einklang mit sich selbst leben möchten. Die Art und Weise wie die Autorin den Leser direkt anspricht und zu mehr Selbstbewusstsein und Leichtigkeit ermutigt, ist motivierend und beflügelnd. Zum gleichen Thema hat mir allerdings das Buch „How to be a multipotentialite“ von Emilie Wapnick, das konkrete Berufsmodelle vorstellt und praxisorientierter ist, noch besser gefallen.
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Weit mehr als nur ein Werkstoff

Smartphonebesitzer brauchen keine Bordkarte mehr auszudrucken. Reisedokumente werden schon lange nicht mehr mit der Post, sondern digital verschickt. Tatsächlich verschwindet das Papier immer mehr aus unserem Alltag. Umso mehr weckt es das Material nicht nur nostalgische Gefühle, sondern wird besonders bei Liebhabern wie mir zu einem kostbaren Gut.
Diesem besonderen Zauber huldigt auch das Buch „Papier – Material, Medium und Faszination“, das Nicola von Velsen und Neil Holt aus Köln herausgegeben haben. Der aufwändig gestaltete Bildband widmet sich verschiedenen Aspekten wie Papier als Material, als Medium, als Symbol oder als gedrucktes Buch und ist voll gepackt mit praktischem Wissen. Man staunt über die Vielzahl von Papiersorten, die von A bis Z aufgelistet sind, und die kulturelle Bedeutung als Arbeitsmaterial und Medium.
Zahlreiche Illustrationen veranschaulichen nicht nur die Entwicklung des Herstellungsverfahrens, sondern erzählen auch interessante Geschichten über Schriftsteller wie Emily Dickinson und ihre Notizgewohnheiten oder Arno Schmidt und seine Zettelkästen. Es sind vor allem die persönlichen Geschichten, die das Buch zu etwas Besonderem machen, zum Beispiel die eines Papierkünstlers, der das Handwerk des Papierschöpfens und die magischen Momente beim Herausheben des Schöpfsiebes beschreibt. Eine digitale Nachricht vermag eben nicht so starke Emotionen hervorzurufen wie die Ästhetik von Papier. Das gilt auch für diesen wunderschönen Band, bei dem Inhalt und Form großartig ineinandergreifen. Zum Schwelgen und Nachschlagen werde ich ihn sicher noch öfters in die Hand nehmen.
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Grande Dame der Wiener Moderne

Bei dem Namen Wittgenstein denken die meisten sicher an den Philosophen Ludwig Wittgenstein. Wer kennt schon seine Schwester Margaret und die übrigen sechs Geschwister, die allesamt dank dem vielseitig begabten und geschäftstüchtigen Vater Karl Wittgenstein in sehr luxuriösen Verhältnissen aufwuchsen? Margret Greiner hat sich intensiv mit dem Leben von „Margaret Stonborough-Wittgenstein“ beschäftigt, Briefe und Tagebücher gesichtet und Gespräche mit dem Enkel Pierre Stonborough geführt. Mit ihren bisherigen Werken hat sie mir schon so manch interessante Künstlerinnen und Frauen an der Seite von Künstlern näher gebracht wie Charlotte Salomon, Emilie Flöge oder Charlotte Corinth-Berendsen.
Schon der Anfang der Roman-Biografie weckt die Neugier auf Margaret, kurz „Gretl“ genannt, die nicht nur durch ihr Temperament, sondern auch ihr Interesse für Mathematik, Biologie und Physik aus der typischen Mädchenrolle fällt. Die Autorin beschreibt den Alltag der musisch veranlagten Familie Wittgenstein, die regelmäßig Künstler wie Brahms, Schiele und Klimt einlädt, doch die Begabung der Kinder nicht fördert und sie lieblos erzieht, so lebendig, als säße man selbst mitten im Geschehen.
Die Ehe mit dem vermögenden und rastlosen Amerikaner Jerome Stonborough bringt Margaret nicht die Erfüllung, doch immerhin die Gelegenheit, sich bei jedem Umzug künstlerisch zu verausgaben. Jede Wohnung, ganz gleich ob in Berlin, Paris oder Zürich, wird zu einem ästhetischen Kunstwerk, in dem sie den Stil der Wiener Werkstätte mit der österreichischen Gemütlichkeit kombiniert. Margret Greiner kann so amüsant schreiben! Herrlich die Beschreibung, wie der Bruder Ludwig versucht, mit dem formvollendeten, jedoch völlig unpraktischen Besteck zurechtzukommen, oder wie dumm und oberflächlich Margaret die amerikanischen Frauen findet.
Jedes Kapitel dieser Biografie offenbart eine neue interessante Facette dieser enthusiastischen und kompromisslosen Feministin, der das Wissen und die Kunst genauso wichtig waren, wie die soziale Verpflichtung, Bedürftigen zu helfen und orientierungslosen Menschen den richtigen Weg zu weisen. Sie liebte es, Menschen zu bewegen, und dank dieser Biografie wird ihr dies sicher auch nach ihrer Lebzeit gelingen.
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Einblick in Murakamis Schreibwerkstatt

Nur wenige japanische Schriftsteller haben es geschafft, international so bekannt zu werden wie Haruki Murakami. Wie kam dieser Mann aus Kobe zum Schreiben und wie wurde er zum gefeierten Kultautor? Antworten darauf findet man in seinem Essayband „Von Beruf Schriftsteller“, der nun als Taschenbuch erschienen ist.
Murakami ist der Meinung, dass jeder Mensch in der Lage ist, Geschichten zu schreiben. Doch nur wenige besäßen die Beharrlichkeit und das Durchhaltevermögen, über mehrere Jahrzehnte ein Werk nach dem anderen Werk zu produzieren. Genau das macht in seinen Augen einen Berufsschriftsteller aus.
Einige Stationen aus seinem Leben hat Murakami bereits in seinen Romanen verarbeitet, zum Beispiel, dass er mit seiner Frau einen Jazz-Club leitete oder später an der Waseda-Universität studierte. In diesem Buch verrät er jedoch einige neue Details, zum Beispiel, dass er mit 29 Jahren in einem Baseball-Stadion wie aus heiterem Himmel eine Epiphanie erlebte und beschloss, einen Roman zu schreiben. Oder dass er seinen ersten Roman auf English schrieb und durch die Übersetzung ins Japanische zu seinem eigenen schnörkellosen Stil fand.
Seine Gedanken über allgemeine Themen wie Literaturpreise oder Originalität interessierten mich nicht so sehr wie seine ganz persönliche Einstellung zum Schreiben und seine Schreibgewohnheiten. Dass er kein Notizbuch verwendet, sondern alle Beobachtungen in 'Schubladen' in seinem Kopf archiviert, wundert mich nicht. Tatsächlich wirken viele Romane besonders aus der Anfangszeit, als hätte er zusammenhanglose Erinnerungen miteinander verknüpft und zu einer surrealen Geschichte verwebt. Das Einzige, was mich bei der Lektüre störte, war die sehr schlichte Sprache, die in seinen Romanen meist durch fantasievolle Handlungen wettgemacht wird. So konnte mich dieses Buch nicht ganz so begeistern wie beispielsweise "Das Lesen und das Schreiben" von Stephen King. 
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Becketts Pariser Zeit

Über Samuel Beckett wusste ich bisher nur sehr wenig. Das einzige Theaterstück, das ich von ihm gelesen habe, ist "Warten auf Godot". An dem Buch "Ein Ire in Paris" von Jo Baker reizte mich vor allem der Titel. Weshalb blieb Beckett nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht in seiner sicheren Heimat, sondern kehrte nach Paris zurück, um mit seinen Freunden dem Krieg in Frankreich ins Auge zu blicken?
Offensichtlich fühlte er sich in seinem Elternhaus nutzlos und kreativ blockiert. In Paris konnte er immerhin an der Seite seiner großen Liebe Suzanne in literarischen Kreisen verkehren und sich von seinen Beziehungen zu James Joyce oder Marcel Duchamp inspirieren lassen. Die Tage des unbeschwerten Lebens sind jedoch gezählt. Der Kriegsausbruch zwingt ihn und Suzanne zur Flucht, zunächst nach Vichy, dann nach Arcachon. Ihre physischen und psychischen Leiden während nervenaufreibender Zugfahrten und qualvollen Fußmärschen beschreibt Jo Baker sehr plastisch und schonungslos. An keinem Ort sind die beiden sicher, und die Odyssee setzt sich immer weiter fort. Erst fiebert man mit, wann das Paar endlich in Sicherheit sein wird, später ist man gespannt zu erfahren, wie und wann die schriftstellerische Karriere beginnt. Zudem hat Samuel, der nie namentlich, sondern immer nur in der dritten Person genannt wird, zunehmend unter dem gespannten Verhältnis zu Suzanne zu leiden. 
Die bewegende Romanbiografie vermittelt ein sehr eindrucksvolles Bild des irischen Lyrikers während der Kriegsjahre. Die Bewunderung der Autorin für seine Bereitschaft, größte Opfer zu bringen, um seinen Mitmenschen zu helfen, seinen Willen zu überleben und in der Résistance und beim Wiederaufbau nach dem Krieg mitzuwirken, sind sehr deutlich zu spüren. Das Buch hat nicht nur mein Interesse für Becketts Werke geweckt, sondern wird mir sicher den Zugang und das Verständnis für seine Stücke, Figuren und seine verknappte Sprache erleichtern. 
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Biegen – Brechen – Verbinden

Das Thema Kreativität scheint unsere Kreativität regelrecht zu beflügeln. Warum sonst wurden schon so viele Bücher darüber geschrieben? Bemerkenswert ist jedoch, wie unterschiedlich die Ansätze sind. Hirnforscher David Eagleman und Musikprofessor Anthony Brandt zum Beispiel stellen in ihrem aktuellen Buch „Kreativität - Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft“ eine Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Kunst her. Sie erläutern kreatives Denken sehr anschaulich und zwar anhand von drei Fähigkeiten des Gehirns: Biegen, Brechen und Verbinden. Kann es wirklich so einfach sein? Die zahlreichen Beispiele, die beschrieben und reich bebildert werden, sprechen für sich. 
Schirme beispielsweise gibt es schon seit Urzeiten und dennoch sei die Entwicklung noch nicht zu Ende. Durch Veränderung von Größe, Form, Material, Geschwindigkeit etc. biete das Biegen eine unendliche Vielzahl von Möglichkeiten. Als typisches Beispiel für das Brechen nennen die Autoren kubistische Gemälde oder die unsichtbare Zerstückelung der digitalen Verarbeitung. Dass sie stets beide Bereiche, die Kunst und moderne Technologien gegenüberstellen, und den Unterschied zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kreativität herausstellen, faszinierte mich besonders.
Ich habe schon viele Bücher über Kreativität gelesen und konnte dennoch viele neue Informationen und inspirierende Denkanstöße mitnehmen: zum Beispiel dass Computer – soweit die Künstliche Intelligenz auch fortgeschritten ist – in ihrer Kreativität eingeschränkt sind, da sie im Gegensatz zum Menschen nicht pausenlos daran arbeiten, sich gegenseitig zu beeindrucken. Oder dass man so viele Optionen wie möglich schaffen sollte, um sich dann von dem meisten Ideen wieder zu verabschieden.
Eagleman und Brandt zeigen auf informative und beeindruckende Weise, über welch wertvolles Potenzial der Mensch im Gegensatz zu Tieren verfügt, nämlich sich eine Vielzahl von alternativen Szenarien vorstellen zu können und eine Balance zwischen der Ausnutzung von Erlebtem und der Suche nach Neuem zu schaffen. Die Autoren beschränken sich nicht darauf, die Methoden des kreativen Denkens praxisnah zu erklären, sondern geben viele Anregungen, wie man sie in Schulen und Unternehmen fördern kann und sprechen damit eine sehr breite Leserschaft an. 
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Geheimnisvolles Frauenporträt

Was verbindet die Suche der Galeristin Ina Kosmos nach einem Gemälde mit Georg Tannstetters Aufenthalt am Mailänder Hof 500 Jahre zuvor? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman „Der Augenblick der Zeit“ von Stephanie Schuster.
Ina ist überzeugt, dass das Frauenporträt, das sie auf einer Auktion in London entdeckte, von Leonardo da Vinci stammt. Während ihre Freunde sie dazu ermuntern, ihre frühere Leidenschaft, die Malerei, wieder aufzunehmen, ist Ina regelrecht besessen davon, die Herkunft des Gemäldes, das sie aus verschiedenen Gründen fasziniert, herauszufinden.
Parallel verfolgen wir die Geschichte von Georg Tannstetter, Sterndeuter und Leibarzt von Kaiser Maximilian I. Er wird nach Mailand an den Hof des Herzogs Ludovico Sforza gesandt und lernt dort den Hofkünstler Leonardo da Vinci kennen. Lebendig und bildreich beschreibt Stephanie Schuster die Atmosphäre in den Mailänder Straßen und Gassen und das dekadente Leben am Hofe.
Die beiden Erzählstränge werden geschickt miteinander verwoben und steuern auf eine interessante Auflösung zu. Auch sprachlich passt sich Stephanie Schuster der jeweiligen Zeit an und macht die Handlung dadurch noch authentischer. Dabei gibt sie nicht nur einen Einblick in das vielseitige Talent und Schaffen da Vincis, sondern weckt auch das Interesse für die Entstehung eines Kunstwerks. Dieses Thema kombiniert die Autorin elegant mit der Geschichte einer Galeristin, deren Leidenschaft für die Malerei und Farben neu entfacht wird. Lediglich Inas Romanze mit dem Lichtgestalter Oliver bremst die Handlung ein wenig aus. 
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Unglaubliche Geschichten vom Meister des Zufalls

Nach dem 1200-Seiten Wälzer „4 3 2 1“ von Paul Auster bot mir „Das rote Notizbuch“ wahrlich ein Kontrastprogramm. Es handelt sich um ein Tagebuch aus dem Jahr 1995, in dem Auster Ereignisse aus seinem Leben und aus dem Leben von Freunden festgehalten hat. Die 15 Mini-Geschichten sind nun erstmals auf Deutsch erschienen.
Auster widmet sich darin wieder einmal seinem Lieblingsthema: dem Zufall. Auch in seinen Romanen spielt dieser sehr häufig eine zentrale Rolle. Das Besondere an dem roten Notizbuch ist jedoch, dass es sich um wahre Begebenheiten handelt – das versichert zumindest der Autor. In manchen Geschichten fällt es einem schwer, dies zu glauben.
Überraschende Begegnungen und schicksalhafte Fügungen versetzen den Leser nicht nur ins Staunen, sondern geben auch viel Interessantes über das Leben des Schriftstellers preis. Auster erinnert sich zum Beispiel daran, wie er mit seiner Freundin das Haus eines Bekannten in Südfrankreich betreute und die Zubereitung eines Zwiebelkuchens völlig misslang. Erst wurde er zu früh, dann viel zu spät aus dem Ofen genommen. Glücklicherweise traf just ein Bekannter ein, der das ausgehungerte Paar zum Essen einlud.
Ein fremder Anrufer, der sich offensichtlich zwei Mal verwählte und nach einer Pinkerton Detektei fragte, brachte Auster auf die Idee zu dem Roman „Stadt aus Glas“. Und dass er Schriftsteller geworden ist, verdanken wir möglicherweise einem nahezu traumatischen Erlebnis in seiner Kindheit: Nach einem Baseballspiel ging ihm ein Autogramm seines Lieblingsbaseballspielers durch die Lappen, weil er keinen Stift dabei hatte. Seitdem achtet er immer darauf, einen bei sich zu tragen, um sich Notizen, Ideen und so unglaubliche Stories notieren zu können wie in diesem roten Notizbuch.
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Begegnungen und Verfehlungen

Verbringt man seinen Urlaub eine Zeit lang am Strand, entsteht dort schnell ein kleiner Kosmos mit wiederkehrenden Figuren. Man sieht die gleichen Kinder im Sand spielen und hört das gleiche Paar lautstark streiten. So ähnlich fühlte ich mich bei der Lektüre von „Direkter Zugang zum Strand“ von Jean-Philippe Blondel. Der erste, der die Bühne betritt, ist der kleine Philippe, der mit seiner Familie jeden Sommer zwei Wochen in Capbreton verbringt. Statt sich mit seinen Eltern und Natascha, der Freundin der Mutter, zu langweilen, würde er viel lieber wissen, was er im Mickey Mouse Club verpasst.
Wer sich hinter der Figur Natascha verbirgt, erfahren wir im zweiten Kapitel – eine Frau, die eigentlich Danièle Girard heißt, sich gern auftakelt und einen Mann nach dem anderen erobert. Das ist ihre Art, ein tragisches Erlebnis zu verarbeiten. Und so setzt sich der Reigen fort. In jedem Kapitel wird aus einer neuen Perspektive erzählt und wir tauchen in verschiedenste Gedanken, Überzeugungen und Gefühlswelten ein. Der eine liebt die Wellen, der andere wäre viel lieber in den Bergen, ein dritter träumt von der Welt weit hinter dem Atlantik und plant, nach USA zu reisen.
Der Autor versteht es wieder einmal, leicht und luftig Szenerien zu skizzieren und sogar dramatische Umstände in schwerelose Sätze zu verpacken. Manche Episoden gingen mir richtig nahe, zum Beispiel wie eine brave Tochter sich als einzige in der Familie traut, ihrem ungerechten und nervenden Vater Paroli zu bieten.
So formt sich aus den einzelnen Puzzleteilen allmählich ein Gesamtbild. Blondels Idee und Vorgehensweise sind originell, doch ich tat mich schwer, bei den vielen Figuren den Überblick zu behalten. Als dann auch noch ein dreifacher Zeitwechsel ins Spiel kam, musste ich häufig zurückblättern, um die Zusammenhänge zu verstehen. Ich hätte gern gewusst, was jeweils in den übersprungenen zehn Jahren passiert ist und wie und warum sich die Figuren so entwickelt haben. Das gäbe genügend Stoff für weitere Erzählungen.
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52 Projekte für ein kreatives Leben

„Bin ich kreativ genug, um mich künstlerisch zu betätigen?“ Der Abenteuerin und Autorin Pam Grout, die in Lawrence, Kansas lebt, stellt sich diese Frage erst gar nicht. Sie ist überzeugt, dass das kreative Potenzial in uns jedem steckt und dass es unser tiefster Impuls ist, etwas zu erschaffen. Wie wir dieses Potenzial nutzen können, zeigt sie in ihrem Buch „Entfessle deine Kreativität“.
Darin stellt sie ein 52-Wochen-Projekt vor, das Kurzessays, Anekdoten über Künstler, Kreativitätsübungen und verspielte Ideen für den Alltag beinhaltet. Sie sollen uns in dem Prozess begleiten, uns selbst kennenzulernen, Hemmungen zu überwinden und einfach „Sachen zu machen“ ohne jeglichen Druck. Manche Übungen fand ich so inspirierend, dass ich mich sofort auf sie stürzen wollte, wie eine Idee für eine Talkshow zu entwickeln oder den Umschlag meiner Memoiren zu entwerfen. Für andere hingegen wie kostümiert ins Kino zu gehen oder an einem öffentlichen Ort Jodeln zu lernen wird mir wohl der Mut fehlen. Dann schon eher einen Tag lang Aufzug fahren und Schuhe zeichnen. 
Mir gefällt ihre Metapher, dass jeder von uns mit einem Kreativitätspackage ausgestattet ist, das wir nur anzuklicken brauchen wie eine App. Die Meinung, dass man Geld brauche, um Kunst zu machen, lässt sie nicht gelten, denn jeder sei in der Lage, sich kreatives Kapital einfallen zu lassen. Sie entlarvt noch so manch andere Mythen, die uns im Weg stehen könnten.
Viele Gedanken und Überzeugungen kannte ich bereits aus Büchern von Elizabeth Gilbert, Seth Godin oder Julia Cameron, doch Pam Grout stellt sie in einen neuen Kontext, drückt dem ganzen ihren eigenen Stempel auf und schreibt so unterhaltsam und mitreißend, dass ihr Buch – nachdem ich es durchgeackert habe – einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek inspirierender Bücher bekommt.
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Bedrohliche Dürre

Trinkwasser kann schnell zu einem knappen Gut werden, wie die kürzliche Krise in Kapstadt zeigt. Diesem aktuellen Thema widmet sich Maja Lunde im zweiten Roman ihres Klima-Quartetts "Die Geschichte des Wassers". Diesmal wechselt sie zwischen zwei Erzählsträngen und Zeitebenen.
Im Jahr 2017 kehrt die norwegische Umweltaktivistin Signe in ihre Heimat zurück, um die Gletscher zu retten, aus denen Eis exportiert und in teuren Drinks serviert wird. 2041 tauchen wir in eine Welt, in der bereits die Katastrophe unumkehrbar ist. Die Menschen flüchten aus Südeuropa in den Norden, um der Dürre und den Waldbränden zu entkommen, darunter der junge Vater David und seine Tochter Lou.
Leider konnte mich die Autorin diesmal nicht so begeistern wie in ihrem ersten Buch über die Bienen. Ich hätte gern mehr Hintergründe über die Wasserknappheit und die Möglichkeiten dagegenzusteuern erfahren, doch sowohl das Umweltthema als auch die Handlung gehen nicht so in die Tiefe wie erwartet. Zum Weiterlesen angetrieben hat mich die Protagonistin Signe. Ihre starke Verbindung zur Natur, ihre Entschlossenheit zu handeln und die Schwierigkeit, Menschen, die sie liebt, für ihre Ziele und Mission zu sensibilisieren und zu mobilisieren, konnte ich gut nachfühlen. Die dramatische Aktion, in der sie Eisblöcke wie menschliche Gefangene befreit, hat mich besonders bewegt.
Für David und Lou aus der zweiten Geschichte dagegen konnte ich bis zum Schluss keine Sympathie entwickeln. Die wehleidige, widerspenstige Tochter, die kindlichen Dialoge und Davids egoistisches Verhalten störten mich zunehmend. Auch die Beschreibung des Alltags im Flüchtlingscamp ließen es an Dramatik und Emotionen fehlen. Trotz dieser Schwächen ist die zentrale Kritik, dass die Natur dem wachsenden Wohlstand geopfert wird, angekommen und regt zum gewissenhaften Umgang mit unseren kostbaren Ressourcen an.
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Ehetherapie mit Stendhal und Proust

Ich stelle es mir ziemlich aufregend vor, seine Jugendliebe nach dreißig Jahren wiederzusehen – besonders dann, wenn man gerade einen Roman über die Person geschrieben hat und ihr nach der Lesung begegnet und obendrein merkt, dass man sie immer noch begehrt. Für den Ich-Erzähler in dem Roman „Sozusagen Paris“ läuft es allerdings nicht so spannend ab und für den Leser auch nur eingeschränkt.
Das Treffen mit seiner Protagonistin Jutta beginnt zwar vielversprechend, denn nach einem gemeinsamen Abendessen lädt sie ihn zu sich nach Hause ein. Doch dann dreht sich ihr Gespräch fast ausschließlich um Juttas Ehekrise und Tantra-Kurse, während ihr Mann sich nach einem Streit über Chipstüten nebenan zurückgezogen hat.
Navid Kermani hat hier schon eine seltsame Konstellation geschaffen: Jutta erzählt, wie sie ihren Mann kennenlernte und wie es mit ihrer Ehe allmählich bergab ging, während der Ich-Erzähler plant, darüber seinen nächsten Roman zu schreiben. Er entpuppt sich dabei nicht nur als scharfer Beobachter, der Juttas Mimik und Gestik genauestens analysiert und interpretiert, sondern auch als Literaturexperte. Inspiriert vom Bücherregal in ihrem Wohnzimmer zieht er Werke von Proust, Balzac oder Stendhal zu Rate, um über die Liebe und Ehe zu philosophieren und reflektiert gleichzeitig über die Rolle des Romanschreibers und Lektors.
Trotz meiner Begeisterung für die französische Literatur war die Anhäufung von Zitaten sogar mir zuviel angesichts der handlungsarmen Geschichte. Kermanis anspruchsvoller Sprachstil und seine unterhaltsame Selbstironie helfen über manche Längen hinweg, doch im Ganzen konnte mich sein Roman nicht überzeugen.
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Liebeserklärung an die Familie

Nachdem mich „Im Winter“ von Karl Ove Knausgård begeistert hat, war ich sehr gespannt auf den dritten Teil seiner Jahreszeiten-Bände „Im Frühling“. Auch diesmal wendet sich der Autor mit seinen Schilderungen und Gedanken an seine Tochter, die mittlerweile drei Monate alt ist. Diesmal beschreibt er jedoch nicht Dinge des Alltags und der Natur, sondern einen Tag im Frühling, der um 5:40 Uhr beginnt.
Der Familienvater bringt seine drei Kinder zum Hort bzw. in die Schule und fährt dann die Tochter spazieren. Die Umgebung und die explodierenden Farben des Frühlings, die er sehr sinnlich und bildhaft beschreibt, wecken bei ihm verschiedene Assoziationen und Erinnerungen, zum Beispiel an die Gartenarbeit, die Kunst oder Literatur. Man muss fast schmunzeln, wenn er dem Baby beispielsweise den Inhalt des Romans 'Väter und Söhne' von Turgenjew erklärt. „Ist das nicht ein bisschen zu hoch für die Kleine?“, möchte man ihn fast zurufen.
An jenem Tag steht auch ein Besuch in der Klinik Helsingborg auf dem Programm und damit kommt Knausgård zu einem sehr qualvollen Thema: den Depressionen seiner Frau. Mir persönlich nahm dieser schwermütige Teil zu viel Raum ein. Andererseits fand ich es bewundernswert, wie er diese schwere Krise bewältigte und niemals die Hoffnung aufgab. In der Geburt der Tochter sahen sie die lang ersehnte Rettung für die Familie – dies alles erzählt der Autor sanft, liebevoll und zuversichtlich, als ob er sich und allen Leidenden Kraft und Mut zusprechen wollte. Die farbenfrohen, expressiven Bilder von Anna Bjerger bilden eine sehr schöne Ergänzung. 
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"Lesen ist ein großes Wunder"

Ich frage mich, warum ich eine „Gebrauchsanweisung fürs Lesen“ gekauft habe. Das Lesen beherrsche ich ganz sicher, eher bräuchte ich eine Anleitung, wie ich mehr Zeit dafür gewinne oder wie ich meine Gier nach neuem Lesestoff zügeln kann. Vermutlich war ich nur auf der Suche nach einer Erklärung für meine Lesesucht und nach einer Bestätigung, dass trotzdem alles mit mir in Ordnung ist. Zu meiner großen Erleichterung fand ich in dem Büchlein von Felicitas von Lovenberg beides.
Die Verlegerin des Piper Verlags schildert die Vorzüge des vertieften Lesens aus verschiedensten Blickwinkeln. Sie erklärt, wie das Lesen das Selbstbewusstsein und das Einfühlungsvermögen stärkt und den kritischen Geist fördert. Bücher, so schreibt sie, bereichern uns um Erfahrungen, Gefühle und Erkenntnisse und erlauben uns – wie Klaus Piper es nannte – „doppelt zu leben“, da wir bei der Lektüre neue Gedanken formen und das Gelesene individuell vervollständigen. Marie von Ebner-Eschenbach hatte sicher Recht mit ihrer Feststellung „Lesen ist ein großes Wunder“.
Die Autorin streut immer wieder interessante Betrachtungsweisen und Denkanstöße ein: zum Beispiel dass wir heute ein hohes Privileg genießen, Lektüre in Frieden und Freiheit genießen zu können. Oder dass wir mit einem E-Book-Reader unsere Lesegewohnheiten preisgeben und ein Stück Privatsphäre aufgeben. Von Lovenberg bezeichnet unsere gelesenen Bücher als eine Art ausgelagertes Gedächtnis, als eine Bibliobiografie unseres Lebens. Für meinen Bücherschrank ist dieses kleine, aber feine Büchlein jedenfalls sowohl optisch als auch inhaltlich eine Bereicherung und gibt mir das gute Gefühl: Ich bin mit meiner Leidenschaft nicht allein.
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Träumerei und Realität

Was für eine Liebesgeschichte, an der uns die Ich-Erzählerin des Romans „Eine Liebe, in Gedanken“ von Kristine Bilkau teilhaben lässt. Es ist nicht ihre eigene, sondern die ihrer Mutter Antonia, genannt Toni, die gerade verstorben ist. Erst jetzt, während der Wohnungsauflösung, wird ihr bewusst, was sie in der Beziehung zu ihrer Mutter versäumt hat und bereut ihr Desinteresse in den vergangenen Jahren. Vor allem hätte sie gern mehr gewusst über Tonis große Liebe, die sie nun anhand von Briefen, Erinnerungen und eigenen Gedanken zu rekonstruieren versucht.
Toni und Edgar begegnen sich 1964 in einer Straßenbahn in Hamburg. Ihre ersten Rendezvous und ihr Umgang miteinander werden zauberhaft und mit viel Charme geschildert. Besonders Toni habe ich gleich ins Herz geschlossen. Sie ist klug, abenteuerlustig, selbstbewusst und verkörpert die Aufbruchstimmung in den sechziger Jahren. Genau das fasziniert wohl auch Edgar, ein altmodischer und zurückhaltender Gentleman, der seine Gefühle in romantische Briefe verpackt. Ihre gegenseitige Zuneigung wirkt mal zärtlich und fragil, mal leidenschaftlich und intensiv. Als Edgar jedoch eine berufliche Chance in Hongkong ergreift, ist Toni gezwungen, ihre gemeinsamen Träume in Frage zu stellen.
Berührt hat mich nicht nur Tonis Entschlossenheit und Mut, für die Liebe ihres Lebens alles aufzugeben, sondern auch das Thema Nähe und Distanz zwischen Müttern und Töchtern. Die Ich-Erzählerin muss nicht nur Abschied von ihrer Mutter nehmen, sondern auch von ihrer Tochter Hanna, die bald das Elternhaus verlassen wird. Kristine Bilkau baut durch den Wechsel der Zeitebenen nicht nur Spannung auf, sondern schafft auch eine tolle Balance zwischen Beschwingtheit und Melancholie, zwischen Tagträumerei und Realität.
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Die Melancholie des Gewöhnlichen

Es ist schon eine ganz eigenwillige Figur, die Lars Saabye Christensen in seinem Roman „Magnet“ geschaffen hat. Jokum Jokumsen fotografiert gern heimatlose Dinge, die seinen Weg kreuzen. In ihrer Gesellschaft fühlt er sich weitaus wohler als unter Menschen, die ihm ständig zu nah auf die Pelle rücken. Am liebsten möchte er gar nicht auffallen – was ihm schwerfällt bei seiner Größe von über zwei Metern.
Zu der Fotografie findet der Literaturstudent erst über Synne Sager, seine große Liebe, die Kunstgeschichte studiert. Die beiden werden privat, später auch beruflich ein Paar. Er fotografiert und sie organisiert als Kuratorin seine Ausstellungen.
Der Autor nimmt sich viel Zeit, um Jokums Entwicklung und Karriere, die ihn und seine Frau von Oslo nach San Francisco führen, auszurollen. Mit viel Empathie und nuancenreich schildert er die Gedankengänge eines Künstlers, der in der Öffentlichkeit unbeholfen wirkt, an sich zweifelt und trotz seines Erfolgs selten richtig glücklich ist. Manchmal kam er mir so heimatlos vor wie die Gegenstände, die er fotografiert. Nur in einer Sache ist er sich hundertprozentig sicher: der Liebe zu seiner Frau. 
Christensen macht nicht nur die Kunst und Literatur zum Hauptthema seines Romans, sondern überrascht mit stilistischen Kunstgriffen, indem er den Autor als Figur einbaut. Dieser drängt sich dann mitten im Geschehen ganz plötzlich in den Vordergrund und kommentiert seine Geschichte und Erzählweise. Wie in seinen vergangenen Romanen lässt Christensen immer wieder seinen trockenen Humor aufblitzen und ist sprachlich so gewandt, dass die Lektüre von 960 Seiten erstaunlich kurzweilig ist.
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Schwarzer Humor aus dem hohen Norden

Vom Regen in die Traufe. Dieser Spruch beschreibt nicht mal annähernd die katastrophale Lage, in die Jaako in dem Roman „Die letzten Meter bis zum Friedhof“ schlittert. Erst erfährt er, dass er vergiftet wurde und nicht mehr lang zu leben hat, ertappt dann seine untreue Frau Taina in flagranti und wird zu guter Letzt von zwielichtigen Typen einer Konkurrenzfirma bedroht. Ziemlich viel auf einmal zu verarbeiten…
Das Erstaunliche dabei ist, dass er förmlich auflebt, statt in einem Schockzustand zu verharren oder in eine Depression zu verfallen. Zwei Dinge treiben ihn vor allem an, seine verbleibende Lebenszeit so effektiv wie möglich zu nutzen: herauszufinden, wer ihn vergiftet hat, und seine Firma, die Matsutake-Pilze nach Japan exportiert, zu retten. Die Botschaft vieler Aufmerksamkeitstrainings, im Hier und Jetzt zu leben, bekommt hier eine ganz andere Dimension.
Das ist vermutlich der erste Roman eines finnischen Autors, den ich gelesen habe, und er hat mich begeistert. Antti Tuomainen hat einen besonderen Sinn für schwarzen Humor. So fragt sich Jaako, der vor seinem Tod noch eine gute Figur machen will, wie er das Protein im Shampoo seinem Bizeps zuführen kann. Der Autor hat aus seiner originellen Idee eine rasante, tragikomische Geschichte gestrickt, die durch gut gezeichnete bizarre Figuren und viel Situationskomik nicht nur bestens unterhält, sondern auch dazu anregt, jeden Tag so bewusst zu leben, als wäre er der letzte.
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Wenn das Spitzchen ruft

Stimmt es, dass wir uns immer das wünschen, was wir gerade nicht haben? Bestimmt die Sehnsucht unser Leben? Sechs Autorinnen und Autoren sind in dem Band „Sehnsucht“ dieser Frage nachgegangen und haben sich zu mehreren Kurzgeschichten inspirieren lassen. Sie sind mal heiter, mal dramatisch, mal mystisch und düster. Dabei zeigt sich, in welch unterschiedlicher Art und Intensität die Sehnsucht uns befällt.
Das Verlangen nach einem Menschen hat sicher jeder schon erlebt. Doch was macht man, wenn es so destruktive Ausmaße annimmt wie in der Erzählung "Wie ultramarin" von Root Leeb? Ein Augenarzt verzehrt sich förmlich nach einer Patientin, die er nur flüchtig kennt. Für ihn ist die Anziehungskraft unerklärlich und dennoch bringt sie seinen Alltag völlig durcheinander. Die anfangs bittersüße Sehnsucht zwischen zwei Liebenden kann sich mit der Zeit auch in etwas Grausames und Boshaftes verwandeln, wie eine weitere Geschichte der Autorin zeigt. Ihr Vergleich mit zwei Marionetten, die von einer fremden Kraft mal zueinander angezogen, dann wieder voneinander abgestoßen werden, fand ich sehr treffend.
Die Sehnsucht wird in den Geschichten auf ganz unterschiedliche Weise ausgelöst – mal durch ein vorgetragenes Gedicht der Tochter, mal durch den plötzlichen Tod der Mutter. Die Figuren führen uns vor Augen, dass wir uns entweder vergangene Zeiten herbeisehnen und verpassten Chancen nachtrauern oder uns an eine fixe Idee klammern und den Plan kompromisslos durchziehen.
Doch welchen Preis zahlt man, um seine Sehnsucht zu befriedigen? Der Direktor einer Krankenkasse nimmt höchste körperliche Strapazen in Kauf, wenn das Spitzchen ruft. Er hat sich den Aufstieg des Walliser Weißhorns nun mal in den Kopf gesetzt, da führt kein Weg dran vorbei. Ganz zu schweigen von den seelischen Nöten, an denen so manche Figur zugrunde geht. Autor und Herausgeber Rafik Schami hat in diesem Büchlein lauter literarische Perlen versammelt, die die Sehnsucht wecken nach mehr.
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Fesselnd und erschütternd

Familiengeheimnisse, die ans Tageslicht kommen, bieten immer wieder spannenden Stoff für einen Roman. Das ist auch in „Libellenschwestern“ von Lisa Wingate nicht anders – mit dem Unterschied, dass diese Geschichte auf wahren und erschütternden Begebenheiten beruht.
Als die Ich-Erzählerin Avery Stafford eines Tages in einem Altenheim der über 90-jährigen May Crandall begegnet, ahnt sie noch nicht, dass sie ihr Leben verändern wird. May hat Averys Libellenarmband, ein Familienerbstück, wiedererkannt, doch noch kann Avery die fremde Dame nicht einordnen. So beginnt eine dramatische Spurensuche, die der Protagonistin nicht nur Klarheit über ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Zukunft verschaffen wird.
Parallel wird aus Sicht des zwölfjährigen Mädchens Rill Foss erzählt, wie sie und ihre Geschwister 1939 auf dramatische Weise ihrer Familie entrissen und in das Waisenhaus Tennessee Children’s Home Society entführt werden. Der grausame Alltag dort geht einem so nahe, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann. Besonders mit Rill, die zwischen Mutlosigkeit und Entschlossenheit schwankt, einerseits helfen, andererseits weglaufen möchte, leidet man fiebernd mit. Man kann sich kaum vorstellen, dass intakte Familien von Menschen wie der Kinderheimleiterin Georgia Tann aus Profitgier auseinander gerissen wurden.
Beide Zeitebenen bewegen sich immer rasanter aufeinander zu und erzeugen so eine ungeheure Spannung. Dabei gelingt es der Autorin, sowohl für die erwachsene Avery als auch die junge Rill einen authentischen Sprachstil zu finden. Zugleich bekommt man einen Einblick in die Thematik aus verschiedenen Perspektiven: aus Sicht der betroffenen Kinder, der Mitarbeiter eines Kinderheims, aber auch der neuen hoffnungsfrohen Eltern. Es geht um Familienzusammenhalt, starke Geschwisterliebe und den Umgang mit dem Älterwerden. All das hat Lisa Wingate in einen Schicksalsroman verpackt, der meine Erwartungen übertroffen hat.
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Ausgewählte Lieblingstexte zum 75. Geburtstag

Zum 75. Geburtstag von Elke Heidenreich ist bei Random House ein Hörbuch erschienen, das ausgewählte Lieblingstexte von ihr über „Frauen und Leidenschaften“ versammelt. Dass es im ersten Kapitel um Frauen und Bücher geht, überrascht nicht. Die Literaturexpertin bringt darin nicht nur ihre Liebe zu Wörtern zum Ausdruck, sondern nimmt in ihrer typisch ironisch-bissigen Art auch das schwierige Verhältnis von Männern zu belletristischer Lektüre aufs Korn.
Ihr Ton wird jedoch immer ernster, besonders dann, wenn es um die schreibende Frau in den vergangenen Jahrhunderten geht. Sie erinnert an Schriftstellerinnen wie Virginia Woolf, die den „Wahnsinn des Schreibens“ nicht aushielt und Selbstmord beging oder an jene, die sich minderwertig, überfordert oder sich der Erwartung der Gesellschaft nicht gewachsen fühlten. Bewunderung und Anteilnahme ist herauszuhören, wenn Heidenreich darüber reflektiert, wieviele Frauen ihren Männern den Rücken freihielten oder als Muse dienten, damit diese sich künstlerisch entfalten konnten.
Ich lernte einige mir noch unbekannte Seiten der Autorin kennen wie ihre Liebe zum Meer oder zu weißen Rosen. Sie streut Zitate aus Rosengedichten von Gottfried Benn ein und erklärt, woher der Begriff Rosenkrieg kommt oder welche Bedeutung Rosen in der Literatur hatten. Ihrer unverkennbaren rauhen Stimme, die den passenden Stellen Nachdruck verleiht, folgt man in ihren ausschweifenden Betrachtungen gerne.
Im letzten Kapitel widmet sie sich ihrer Leidenschaft für Hunde und gesteht, dass sie ihrem Freund ziemlich wenig, ihrem heißbeliebten Mops dagegen fast alles durchgehen lässt. Hier findet Heidenreich wieder zu ihrem witzigen Ton und Esprit zurück, den sie einfach am besten beherrscht. Das Hörbuch fasst die Themen, die ihr am Herzen liegen, sicher gut zusammen, ist für eine Geburtstagsausgabe jedoch ungewöhnlich wehmütig und kritisch.
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Literarische Streifzüge durch Hoppers Amerika

Jedes Gemälde erzählt eine Geschichte. Ein Gemälde kann aber auch zu einer ganz neuen Geschichte inspirieren. Prädestiniert dafür sind die Bilder von Edward Hopper, die viel Freiraum für Fantasien bieten und mich schon immer fasziniert haben. Das dachte sich wohl auch Lawrence Block, als er sein Buchprojekt „Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper“ ins Leben rief. 17 amerikanische Autoren, darunter so namhafte wie Jeffrey Denver, Joyce Carol Oates oder Stephen King, haben zu einem Gemälde ihrer Wahl einen Kurzkrimi verfasst.
Dabei gehen die Schriftsteller ganz unterschiedlich vor. In „Zimmer am Meer“ zum Beispiel beschreibt Nicholas Christopher genau, was auf dem Bild zu sehen ist, und weitet dann die Szenerie immer weiter aus, so dass wir spätestens dann der Fantasie des Autors überlassen sind. In der Geschichte „Hotel Lobby“ dagegen wartet man als Leser förmlich darauf, dass das Bild Eingang in die Geschichte findet. Ist es dann endlich so weit, werden die Figuren regelrecht lebendig und man kommt sich vor wie in einer spannenden Filmszene, in der sich die Figuren in jedem Augenblick in Bewegung setzen werden.
Was erzählen uns diese New Yorker Stadtszenen und Momentaufnahmen von einsamen Menschen in Wohnungen, Büros und Motels? Diese Frage wird in „Nachtfalken“ sogar ganz explizit gestellt und zwar an ein Mädchen, das in einem Museum das gleichnamige Bild von Hopper betrachtet und von einem Privatdetektiv beschattet wird. Die 23-jährige möchte sich in der Tat von dem Bild zu einer Story inspirieren lassen.
Sowohl die Bilder des amerikanischen Malers als auch die Kurzgeschichten, die daraus entstanden sind, entrücken uns auf magische Weise der Wirklichkeit. Neben Krimis hätte ich mir allerdings noch andere Genres gewünscht. Es wäre interessant zu erfahren, zu welchen neuen Bildern diese Geschichten Edward Hopper wiederum inspiriert hätten.
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Odyssee durch das besetzte Frankreich

Der Zeugenbericht von Françoise Frenkel mit dem Titel „Nichts, um sein Haupt zu betten“ ist unglaublich und ergreifend zugleich. Die polnische Jüdin erfüllte sich nach ihrem Literaturstudium in Paris einen Traum und eröffnete 1921 eine französische Buchhandlung in Berlin. 19 Jahre später, kurz vor Ausbruch des Krieges, musste sie das Geschäft aufgeben und nach Paris flüchten. Ab da beginnt eine Odyssee quer durch das besetzte Frankreich über Avignon, Vichy und Nizza bis in die Schweiz, die man sich kaum vorstellen kann, würde die Autorin sie nicht so fesselnd und authentisch schildern.
Sie berichtet von den Lebensverhältnissen während der Vichy-Regierung, als die Bevölkerung den Besatzern und ihrem dekadenten Lebensstil möglichst aus dem Weg ging. Die Lage spitzt sich jedoch immer mehr zu, und bald stehen Diebstähle, Erpressungen, Flucht, Verhaftungen und Deportationen auf der Tagesordnung. Was die Menschen damals nicht alles versucht haben, um sich in Sicherheit zu bringen!
Das Besondere an ihrem Bericht ist, dass Frenkel immer wieder die Menschlichkeit hervorhebt, die sie in ihrem durch Einsamkeit, Angst und Schrecken geprägtes Leben erfahren hat. So beschreibt sie viele bewegende Szenen der Solidarität, zum Beispiel auf der Post, wo sich Menschen voller Hoffnung und Erwartung zusammenfanden und sich Mut zusprachen, im Zug, wo Reisende sich gegenseitig Fotos von Familienangehörigen und Mitbringsel zeigten und Lebensmittel schenkten oder im Hotel Roseraie, das Flüchtlinge verschiedenster Nationalitäten aufnahm.
Wie anders wäre ihr Leben verlaufen, wenn Frenkel nicht Menschen voller Güte und Fürsorge wie das Ehepaar Marius getroffen hätte, die ihr in Nizza Unterschlupf boten und ihr Leben riskierten. Sie versäumt ebensowenig, ihre Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur und der Städte zu beschreiben und die Stimmung an der Promenade des Anglais oder auf einem Blumenmarkt atmosphärisch wiederzugeben. Ihr Zeugenbericht ist ein Juwel und hat sich stark in mein Gedächtnis eingeprägt.
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Heldenreise durch die Dolomiten

Auch wenn man nicht viel gemein hat mit dem zwölfjährigen Domenico, der am Ufer des Codalonga angelt und sich seinen Träumen hingibt, kann man sich sofort in seine Gefühlswelt hineinversetzen. Das liegt vor allem an der Sprachkraft Matteo Righettos, der in seinem Roman "Das Fell des Bären" die klare Bergluft in den Dolomiten, den Duft der Bäume und die archaische Landschaft mit allen Sinnen erspüren lässt.
Domenico, der mit seinem Vater Pietro Sieff in Colle Santa Lucia lebt, träumt davon, etwas Großes zu erleben und ein außergewöhnliches Leben zu führen. Er hätte nicht geahnt, dass sich so schnell eine Gelegenheit dazu ergibt: Sein Vater will mit ihm auf die Jagd gehen und den Bären erlegen, der seit geraumer Zeit die Gegend unsicher macht und um den sich viele Mythen ranken.
Während des mühsamen Aufstiegs auf der Suche nach der rotäugigen Bestie kommen sich Vater und Sohn unerwartet näher, und das macht das Besondere dieser Geschichte aus. Der Sohn lernt eine ganz neue Seite seines bisher so abweisenden und griesgrämigen Vaters kennen und erlebt seine Anerkennung und die emotionale Nähe wie eine Neugeburt. In einer schnörkellosen Sprache und mit viel Feingefühl entfaltet der Autor vor der Kulisse der imposanten Bergwelt nicht nur eine körperliche Grenzerfahrung, sondern vor allem Domenicos Wechselbad der Gefühle zwischen existenzieller Angst, Staunen, Stolz und tiefer Rührung.
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Die Entdeckung des Delfter Blaus

Zu manchen Romanfiguren findet man sofort einen Draht. Catrijn aus "Nachtblau" von Simone van der Vlugt war bei mir so ein Fall. Auf wenigen Seiten wird erzählt, wie sie ihren Mann Govert auf einem Fest kennenlernte, ihn heiratete und nach seinem plötzlichen Tod seine Farm erbte. Da musste ich einfach wissen, wie ihr Leben weitergeht und begleitete die junge Witwe auf eine schicksalhafte Reise quer durch Holland.
Catrijn hält es nicht lange in ihrem Heimatdorf De Rijp, denn sie wollte schon immer in die Großstadt und sich am liebsten der Malerei widmen. Welch ein Glück, dass sie den Weltenbummler Mattias van Nulandt kennenlernt und erfährt, dass sein Bruder Adriaen eine Haushälterin sucht. Bei der angesehenen Kaufmannsfamilie in Amsterdam kommt sie nicht nur das erste Mal mit Delfter Porzellan in Berührung – sie lernt auch Rembrandt und seinen Schüler Nicolaes Maes kennen, der Adriaens Frau Brigitta Malstunden geben soll. Als Catrijn heimlich eine chinesische Vase malt, stellt sie die Weichen für ihre Zukunft: Sie darf in der Porzellan-Manufaktur von Adriaens Bruder Evert in Delft als Keramikmalerin einsteigen.
Doch ihre dunkle Vergangenheit, die nur peu à peu preisgegeben wird und sie einholt, sowie lebensbedrohliche Schicksalsschläge legen ihr immer wieder Steine in den Weg. Bis zum Ende fiebert man mit dieser klugen, talentierten und mutigen Protagonistin mit, die mit ihren ausgefallenen Ideen das Keramikgeschäft ankurbelt. Diesen Part hätte ich mir noch detaillierter gewünscht. Nichtsdestotrotz erfährt man in diesem gut recherchierten Buch viel Interessantes über die damaligen Lebensumstände, Standesunterschiede, die Atmosphäre in Alkmaar, Amsterdam und Delft und nicht zuletzt die Geschichte des berühmten Delfter Porzellans. Auch wenn ich mich für Porzellan nicht so sehr interessiere, habe ich Lust bekommen, die Keramikmanufaktur „Royal Delft“ zu besuchen.
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"Was soll nur aus dir werden?"

In dem Buch „Schriftstellerinnen“, das ich Euch kürzlich vorstellte, habe ich eine Autorin vermisst: Fanny Lewald, eine der berühmtesten und erfolgreichsten deutschen Autorinnen des neunzehnten Jahrhunderts. Durch Zufall stieß ich auf ihren Roman „Meine Lebensgeschichte“ aus dem Jahr 1861. Diese Biografie beschreibt nicht nur ein Stück spannende Emanzipationsgeschichte, sondern auch wie eine Frau zu ihrer Berufung fand.
Der erste Teil handelt von ihrer Kindheit in Königsberg und schildert Verhältnisse, die wir uns heute kaum vorstellen können: Sie lebt mit acht Geschwistern, die schon in frühen Jahren lernen, vielzählige Arbeiten selbst zu erledigen wie Obsttrockenen, Einkochen, Wurstherstellung, Putz- und Näharbeiten. So pflichtbewusst Fanny die Haushaltsarbeiten auch erledigt, lebt sie erst richtig auf, als sie in die Schule eintritt. Sie muss sich zwar zum ersten Mal die Anerkennung anderer hart erarbeiten, doch schnell sind ihr Ehrgeiz und ihr Bildungshunger geweckt. Schon bald steht ihr Entschluss fest, dass sie „wie ein Mann studieren“ will.
Was mir besonders an der Biografie gefällt, ist, dass Fanny Lewald nicht nur Ereignisse und Erlebnisse chronologisch aneinanderreiht. Vielmehr reflektiert sie rückblickend ihr Verhalten und stellt heraus, welche Erkenntnisse in den jeweiligen Lebensphasen besonders lehrreich für sie waren. In ihrem 15. Lebensjahr stellt sie zum Beispiel fest, dass auch Kinder gegenüber ihren Eltern Rechte haben, und beschließt für sich, niemals jemanden gegen ihren Willen zu heiraten wie ihre Tante. Auch das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern, die sie bedingungslos liebt, hat mich berührt. Von ihrer Mutter, die mit Fannys intellektueller Überlegenheit nicht umzugehen weiß, fühlt sie sich unverstanden. Gegenüber ihrem Vater ist sie hin- und hergerissen zwischen absolutem Gehorsam und dem Drang, sich von seiner Kontrolle loszulösen.
Ein weiteres einschneidendes Erlebnis war sicher die erste Reise, die sie mit ihrem Vater nach Berlin und Baden-Baden unternahm. Besonders nach der Begegnung mit weiblichen Bühnenkünstlerinnen sehnt sie sich immer mehr nach Freiheit und Selbstständigkeit. Der quälenden Frage „Was soll aus dir werden?“, die seit ihrer Jugend auf sie lastet, kann sie mit 34 Jahren endlich etwas entgegensetzen: Sie findet Freude am Schreiben und beginnt, Zeitungsartikel zu schreiben und ihre ersten Romane zu verfassen.
Ich bewundere die Autorin, die jeden kleinsten Winkel ihrer Gedanken, ihrer Seele und ihres Herzens offenlegt. Ihr Leben stellt sie als permanenten Lernprozess dar, der sicher nicht nur den Leserinnen ihrer Zeit Mut machte. Auch heute kann man von ihrem Lebensmut und ihrem Willen, auf eigenen Füßen zu stehen und authentisch zu leben, noch sehr viel lernen.
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Abgründe einer Ehe

Ein frisch vermähltes junges Paar in einer überschwänglichen Liebesszene am Strand in Maine. Die Eingangsszene des Romans "Licht und Zorn" lässt Unheilvolles vermuten, zumal die Autorin bereits kleine Risse in dieser vermeintlich perfekten Idylle andeutet. So ist man im ersten Teil, der aus der Sicht des Ehemannes und Sunnyboys Lancelot, genannt Lotto, geschildert wird, ständig in einer Habachtstellung. Wann wird die dunkle Seite der schönen, aber stillen und mysteriösen Ehefrau Mathildes ans Licht kommen? Wird die Hals über Kopf geschlossene Ehe in die Brüche gehen?
Die ganz Zeit wundert man sich, was Mathilde eigentlich so treibt, während Lotto zunächst vergeblich auf eine gute Rolle wartet und vom erfolglosen Schauspieler allmählich zum gefragten Dramaturg avanciert. Dass Mathilde diejenige ist, die im Hintergrund die Fäden zieht und ihrem Ehemann den Rücken frei hält, erfahren wir erst im zweiten Teil mit dem Titel Zorn.
Lauren Groff erzählt scharfsinnig und ironisch von einer eher abschreckenden Ehe aus zwei Perspektiven. Bemerkenswert dabei ist, dass Mathilde keineswegs mit ihrem narzisstischen Ehemann abrechnet, denn sie hat sich nicht ausnutzen lassen, wie man meinen könnte, sondern selbst ihren Mann manipuliert. Auch wenn die Konstruktion und die unterschiedliche Erzählart der zwei Teile ungewöhnlich ist, wollte bei mir bis zum Schluss der Funke nicht überspringen. Die Art und Weise, wie die Autorin die Abgründe dieser komplexen Ehe entlarvt, war für mich auf die Dauer zu deprimierend.
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Die turbulente Kindheit des Eric Lauritzen

Der Sohn“ ist der sechste Band der Brückenbauer-Reihe, die aus der Feder des schwedischen Schriftstellers Jan Gillou stammt. Diesmal wird das Schicksal der Familie Lauritzen aus der Sicht des Enkels Eric erzählt. Er wächst im Stockholmer Vorort Saltsjöbaden und führt das typische Leben der Oberschicht. Im Gegensatz zu seinem Vater, der ihm wegen jeder Bagatelle eine Tracht Prügel verpasst, hält sein Großvater große Stücke auf ihn und plant, ihm das Familienimperium zu vererben. Es kommt jedoch anders. Der Großvater stirbt, die Eltern lassen sich scheiden und Eric und seine Mutter müssen ihre Lebensverhältnisse völlig umstellen.
An folgenschweren Wendungen fehlt es dem Roman nicht und dennoch hatte ich das Gefühl, dass die Geschichte ein wenig dahinplätschert. Eric spielt mit seinen Freunden Cowboy und Indianer, träumt von einer Schwimmkarriere und trainiert hart, leidet später chronisch unter Geldmangel, erlebt die erste Liebe und Enttäuschungen mit einem Mädchen und gerät in ernsthafte Schwierigkeiten. Das alles wird sprachlich flüssig, doch sehr geradlinig und durchweg chronologisch erzählt, so dass ich das Gefühl hatte, in einem Tagebuch zu lesen, das alle Erlebnisse, auch die weniger interessanten, enthält.
Immerhin bekommt man einen guten Einblick in die 50er Jahre, in der sich die Jugend für Coca Cola, Elvis Presley und Jeanshosen begeisterte. Die detailreich beschriebenen Sportereignisse waren nicht so mein Fall. Für mich bot die Figur leider zu wenig Identifikationspotenzial. Über seine Mutter hingegen, die sich für keinen Job zu schade ist und immer wieder neuen Mut fasst, hätte ich gern mehr gelesen.
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Eine amerikanisch-italienische Amour Fou

Beziehungen sind zum Scheitern verurteilt. So könnte das Fazit lauten, das man aus dem Roman „Sie und Er“ von Andrea de Carlo zieht. Da wäre zunächst einmal „Sie“, die Amerikanerin Clare Moletto, die mit 20 nach Italien gezogen ist, noch zwischen den beiden Kulturen schwankt und unter ihrer Andersartigkeit leidet. Nach einer gescheiterten Ehe mit einem untreuen Musiker führt sie eine unglückliche Beziehung mit dem langweiligen Mailänder Anwalt Stefano.
Bei einem Autounfall lernt Clare „ihn“, den Erfolgsautor Daniel Deserti kennen. Sie entwickelt starke Gefühle für ihn, die jedoch durch Fehlinterpretationen und verpasste Momente immer wieder in eine Art Hassliebe kippen. Auch der geschiedene Daniel fühlt sich stark zu Clare hingezogen. Ein romantisches Happy End ist jedoch lange Zeit nicht in Sicht. Das unaufhörliche Hin und Her zwischen Anziehung und Abstoßung zieht sich über mehrere hundert Seiten hin.
Ich konnte nur staunen über die Einfühlungsgabe des Autors, besonders was die Gefühlswelt einer romantisch veranlagten, unsicheren und desillusionierten Frau angeht. Schonungslos seziert de Carlo auch den Männertyp, den Daniel verkörpert und etwas zu klischeehaft geraten ist: ein gut aussehender, zur Trinksucht neigender, zynischer Frauenversteher, der seiner Partnerin das Gefühl gibt, etwas ganz Besonderes zu sein. Clare ist sich sicher, seine Masche durchschaut zu haben, und ist trotzdem seiner Anziehungskraft verfallen.
Man erkennt viele typische Themen der Romanwelten de Carlos wieder: Mailand als abstoßendes und doch faszinierendes Moloch, die Literaturwelt, die Spannung zwischen Anpassung und Aufbegehren und die Sehnsucht nach einem einfachen Leben. Diesmal dominiert allerdings die Bitterkeit der Figuren, die manchmal so lähmend wirken wie die mehrmals beschriebene unerträgliche Hitze in der Großstadt. Ich fragte mich auch, warum Clare nicht endlich die Beziehung zu Stefano beendet, wenn der Gedanke an eine gemeinsame Zukunft mit ihm sie so sehr abschreckt.
Abgesehen von einigen Längen gelingt es de Carlo, die unergründlichen Gefühle eines verliebten Menschen mit allen Höhen und Tiefen und die einzigartigen kostbaren Momente, in der man wahre Liebe verspürt, in ein bewegendes Liebesdrama zu packen.
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Niederrheinische Humoresken

Eine Telefon-Flat-Rate zu haben, ist nicht immer von Vorteil, wie eine der Humoresken aus „Aber sonst geht es mir gut“ von Markus Orths zeigt. So muss der Ich-Erzähler Martin Kranich lange Monologe seiner Mutter über sich ergehen lassen, die von einem Thema zum nächsten springt: von Kreuzworträtseln über den Mangel an Schulen in der Nachkriegszeit bis zum plötzlichen Tod eines Nachbarn. Als sie ihre Sorgen schildert, wer sich denn bloß nach ihrem Tod um ihre Grabpflege kümmern wird und dass sie sich am liebsten senkrecht begraben lassen würde, um es selbst erledigen zu können, musste ich nicht nur lachen, sondern auch eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Mutter feststellen.
Diese Figur, so erfahren wir am Ende, ist angelehnt an die Großmutter des Autors Elisabeth Orths, deren großer Mitteilungsdrang und Plauderton ihn zu seinen „Niederrhein“-Texten inspiriert hat. Sie kommt in diesem Büchlein mehrmals vor, genauso wie der Verleger V, mit dem sich Martin während einer langen Autofahrt so gern über Musil unterhalten würde, statt ständig von den Ansagen Uschis aus dem Navigationsgerät unterbrochen zu werden. Markus Orths nimmt den Literaturbetrieb ordentlich aufs Korn und beschreibt kuriose sowie absurde Szenen aus dem Leben eines Schriftstellers.
Die bunte Mischung aus satirischen Novellen, die größtenteils schon in anderen Erzählbänden erschienen sind, bieten gute Unterhaltung, hätten für meinen Geschmack aber ruhig noch etwas bissiger sein dürfen – bis auf die Erzählung „Das große O“, die ich einfach genial fand. Wer hätte gedacht, dass eine schwierige Prüfung, zu der der Held der Geschichte zu spät und mit Wissenslücken erscheint, zu einem so überraschenden Ergebnis führt! Von dieser Sorte hätte ich mir noch mehr gewünscht.
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Eine Liebe zwischen Grenzgängern

Kann man sein Leben auf 200 Seiten erzählen? Sylvie Schenk zeigt in ihrem Roman „Schnell, dein Leben“, dass es geht. Und wie es geht! Es funktioniert deshalb, weil sie ihren Fokus auf ein zentrales Thema richtet: die Schwierigkeit einer deutsch-französischen Beziehung in der Nachkriegszeit.
Ungewöhnlich ist nicht nur die Kürze, sondern auch die Form des Romans: Erzählt wird nicht in der Ich-, sondern Du-Form, so als ob die Hauptfigur Louise ihr Leben aus einer Distanz betrachten und reflektieren wollte. Louise wächst in einer katholischen, bürgerlichen Familie auf und erkennt früh, dass Frauen stark benachteiligt sind. Sie will Sprachen studieren und von Männern unabhängig sein. Daher wendet sie sich von ihrem Verehrer und Frauenheld Henri ab und entscheidet sich für ein Leben mit dem deutschen Austauschstudenten Johann, den sie an der Universität in Lyon kennenlernt.
Es ist eine Liebesgeschichte mit Hindernissen zwischen Louise, die eifrig die deutsche Sprache lernt und versucht, sich als Aushilfslehrerin in einem deutschen Dorf einzuleben, und Johann, der seit seinem Studium so frankophil ist, dass er am liebsten als Franzose leben würde. Die kulturelle Annäherung sowie die Last der Vergangenheit beschreibt Sylvie Schenk mehrdimensional und nuancenreich. Louise’ Eltern sind entsetzt, dass ihre Tochter ausgerechnet einen Deutschen heiratet. Auch Henri, deren Eltern von den Nazis umgebracht wurde, versucht, ihr die Heirat auszureden und konfrontiert sie mit einer Schuld, die auf Johanns Vater lastet. Louise dagegen wird von ihren Schwiegereltern mit offenen Armen aufgenommen, auch wenn ihre Vorstellung von Frankreich sehr klischeebehaftet ist.
Wie findet man zu seiner eigenen Identität? Durch seine Familie, die Sprache, die Ehe oder die Liebe? Diese Fragen stellt sich Louise immer wieder und hält sich am liebsten in der Natur auf, wo sich alle Rollen und Bewertungen auflösen, wo sie einfach nur selbst sein kann. Sylvie Schenk schreibt in einem Stil, der auf den ersten Blick wie ein Zeitungsbericht sachlich und nüchtern daherkommt, doch das täuscht. Gerade durch die Straffung und die klare Sprache gewinnt der autobiografisch inspirierte Roman eine ungeheure Intensität und Sogwirkung. Absolut lesenswert!
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Tiefsinnig und skurril

Ich mag Kurzgeschichten, die eine verblüffende Wendung nehmen. In dem Band „Weltfrieden ist aus“ von Peter Coon sind so einige von dieser Sorte dabei. Gleich die erste Erzählung, in der eine Frau ein ‚Opfer‘ unter den Passanten sucht, das für sie Geld abheben soll, führt den Leser zunächst in die Irre, bis der Aha-Effekt eintritt. Auch die titelgebende Story ist sehr originell oder wärt Ihr je auf die Idee gekommen, in der Bäckerei etwas anderes zu kaufen als Backwaren?
Der Autor aus Witten erzählt von Alltagssituationen und normalsterblichen Menschen, in die man sich leicht hineinversetzen kann: zum Beispiel von einem Vegetarier, der sich auf einer Grillparty mit seinen Tofuwürstchen fehl am Platz vorkommt oder einer Frau, der die gut gemeinten Beziehungstipps einer Freundin eher schaden. Da gibt es frustrierte Männer, die nur schwer ihre latente Wut und Aggression im Alltag zurückhalten können, oder sich schier verrückt machen, weil sie eine unvollständige Nachricht bekommen haben.
Witzige Einfälle, die immer weiter bis ins Abstruse gesponnen werden, wechseln sich ab mit kritischen Gedanken über die Liebe, Politik, den technischen Fortschritt und heutigen Lebensstil. Die Erzählungen von Peter Coon bringen den Leser – ähnlich wie seine Kurzgeschichtensammlung "Märzchen im November" – mal zum Schmunzeln, mal zum Nachdenken und beweisen wieder einmal: In der Kürze liegt die Würze. 
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Kleider, Kunst und Klimt

Wer kennt nicht Gustav Klimt und sein weltberühmtes Gemälde „Der Kuss“? Aber Emilie Flöge, die Frau an seiner Seite? Von ihr hatte ich noch nie etwas gehört – bis ich auf das Buch von Margret Greiner stieß. Dank ihrer Romanbiografie „Auf Freiheit zugeschnitten“ lernte ich wieder einmal ein bemerkenswertes Künstlerpaar kennen, das sich gegenseitig in ihrem künstlerischen Schaffen beflügelte.
Als Emilie Flöge mit siebzehn Jahren den zwölf Jahre älteren Gustav Klimt bei einem steifen Sonntagnachmittagskaffee kennenlernte, ahnte sie ja noch nicht, welchen Einfluss der Maler auf ihr Leben haben würde. Wie spannend muss es für sie gewesen sein, die Gründer der Wiener Werkstätte mitzuerleben und Teil einer neuen Bewegung zu sein. Noch arbeitet sie mit ihren zwei Schwestern in einer Schneiderei, doch sie träumt davon, selbst Kleider zu entwerfen statt fertige zu ändern. Angesteckt von der Euphorie, die die Gründung der Wiener Secession auslöste, und von der Energie und Kreativität der jungen Künstler, festigt sich bei ihr immer mehr die Überzeugung, etwas ähnlich Innovatives leisten zu können.
Wie schon in ihrem Roman „Charlotte Salomon“ lässt Margret Greiner viele Detailkenntnisse über Kunst, Gesellschaft und Politik einfließen und erweckt die Aufbruchsstimmung im Wien der Jahrhundertwende zum Leben. Nur die feinen Wiener Frauen waren von ihrer konservativen Einstellung schwer zu lösen. Umso bewundernswerter ist Emilies Mut und Wille, einen eigenen Modesalon zu eröffnen und die Kleidung zu reformieren, sprich sie von Mieder und Korsett zu befreien. Sie ist klug genug, die Revolution in der Mode als sanfte Neuerung zu verkaufen. Denn im Gegensatz zu vielen Künstlern, die mit ihren Ideen scheiterten, hat Emilie Flöge einen ausgeprägten Geschäftssinn und Hang zum Perfektionismus. Im ‚Salon Flöge’, den sie mit ihren Schwestern betreibt, erwarten die Kundinnen nicht nur eine ausführliche Stilberatung, sondern auch Lebensberatung.
Die Autorin lässt immer wieder ihren trockenen Humor aufblitzen, zum Beispiel wenn sie erzählt, wie Emilie die Pariser Stoffhändler mit Wiener Naschereien becirct. Geprägt durch die Wiener Werkstätte entwickelt die Modeschöpferin ihren eigenen Stil, der das Schlichte und Natürliche zum Ideal erhebt und Freiheit und Schönheit vereint. Obwohl die Biografie recht kurz ist, bekommt man doch ein sehr prägnantes Bild dieser fortschrittlichen und selbstständigen Frau, die sich von den zahlreichen Affären Klimts nicht einschüchtern ließ und selbst die Regeln in ihrer Beziehung bestimmte. Trotzdem hätte ich mir noch mehr Details aus ihrem Arbeitsalltag und ihren Kreationen gewünscht. Zu oft drängte sich Klimt, sein Schaffen und seine Krisen in den Vordergrund. Aber er war nun einmal ein wesentlicher Teil ihres Lebens. Nach der Lektüre gewinnt man jedenfalls den Eindruck, dass sie die glücklichsten Momente ihres Lebens nicht in ihrem Atelier, sondern während der Urlaube am Attersee verbracht hat – mit ihrer einzigen großen Liebe Gustav Klimt an ihrer Seite. 
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Ungewöhnlicher Kunstkrimi

Alfred Omega, Protagonist des Romans „In Boston?“ von Russell H. Greenan, besitzt eine besondere Gabe. Er kann auf Knopfdruck in Tagträume verfallen, die ihn in verschiedenste Epochen und Orte katapultieren. Täglich verbringt er zwei Stunden im Bostoner Public Garden und erlebt Abenteuer im Mittelalter oder am anderen Ende der Welt. Aber er besitzt noch ein weiteres Talent: Er ist ein begnadeter Maler, der sich dem Stil der Renaissance verschrieben hat.
Trotzdem kann er genauso wenig wie seine Kollegen und Freunde Leo Kerner und Benjamin Littleboy von seiner Kunst leben. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm dennoch nicht. Er ist von seiner Genialität überzeugt und wagt es sogar, sich mit Gott zu messen. Als er den Kunsthändler Victor Darius kennenlernt, scheint sich das Blatt zum Positiven zu wenden. Auch privat hat er Grund zu Freude: Er verliebt sich in die Galeristin Veronika und heiratet sie. Beide Begegnungen haben jedoch fatale Folgen und verwickeln ihn in Kunstskandale, Täuschungen, Intrigen und Morde.
Dieser Roman lässt sich keinem einzelnen Genre zuordnen. In erster Linie geht es darum, wie man sich eine Künstlerexistenz aufbaut und mit den seelischen und finanziellen Nöten und Qualen umgeht, die so manchen sogar in den Tod treiben. Die Gefühle, die ein Künstler gegenüber seinen Werken hat, beleuchtet Greenan ebenso eindrucksvoll wie die Ausbeutungen, Täuschungen und Betrügereien im Kunsthandel. Nach der Lektüre kann man sich nur noch kopfschüttelnd den Romantitel ins Gedächtnis rufen und sich fragen: „Ist das alles wirklich passiert in Boston?“
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Spannende Milieustudie

Albert Hieronymus Lasser hätte wohl nie gedacht, dass er durch einen Werbespot für Fertiggerichte sein großes Comeback als Schauspieler feiern würde. Zu schade, dass er dies nicht mehr miterlebt. Als ihn sein früherer Freund Oscar besucht, liegt Albert tot auf dem Boden. Ein paar Tage zuvor war er noch quicklebendig gewesen. Oscar hatte ihn ganz zufällig in einem Café wiedergetroffen und hätte gern mehr über seinen Freund erfahren, den er fünf Jahre nicht gesehen hat.
Um seinen Nachlass zu regeln, zieht Oscar für einige Wochen in die einst gemeinsame Wohnung, und damit fangen die Probleme für ihn erst richtig an. Der Titel des Romans „Der Freund von früher“ von Wolfgang Mueller ist treffend gewählt, denn es geht um die Erinnerungen des Ich-Erzählers an eine enge Freundschaft, an ein vergangenes Lebensgefühl und das fehlende Stück in der Chronik, das Oscar nach dem mysteriösen Todesfall nun zu rekonstruieren versucht.
Auf Alberts PC entdeckt er einen Briefwechsel zwischen dem Verstorbenen und einer geheimnisvollen Emma. So lernen wir gemeinsam mit Oscar nach und nach nicht nur die verborgenen Seiten des einst gefeierten und vergnügungssüchtigen Schauspielers kennen, sondern auch die vielen Gesichter Berlins samt den Kreativen, Glamourösen und geldgierigen Immobilienspekulanten. Oscar hatte bewusst die Szene und das wilde Leben hinter sich gelassen und sich mit seiner Freundin in Spandau niedergelassen, aber auch dort ist er nicht wirklich zufrieden mit seinem Leben.
Derweil wird der Werbespot mit dem toten Star auf allen Kanälen gesendet und gefeiert. Wegen des großen Erfolgs soll sogar eine Fortsetzung gedreht werden – mit Oscar als Double. Dies ist eine gelungene Pointe, denn im Laufe der Handlung wächst Oscar tatsächlich ohne viel Zutun immer mehr in die Rolle seines Freundes hinein. Die Beschreibung der Dreharbeiten mit Seitenhieben auf den Starkult und die Medienszene sind ein himmlisches Lesevergnügen!
Ich habe den Roman an einem Tag verschlungen, denn er bietet alles, was für mich eine gute Geschichte ausmacht: Spannung, Tempo, eine sympathische Hauptfigur, Humor, viel Lokalkolorit und eine Portion Gesellschaftskritik. Selten hat ein Toter eine so starke Präsenz gehabt wie in diesem Buch. Unbedingt lesen!
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Ein Lebenskünstler mischt ein Dorf auf

An einem selbst gewählten Ort mit der Frau, die er liebt, ein selbstbestimmtes Leben führen – diesen Traum glaubte Pietro, Ich-Erzähler in dem Roman „Als Durante kam“ verwirklicht zu haben. Er lebt mit seiner österreichischen Freundin Astrid und Hund Oscar zurückgezogen im norditalienischen Val del Poggio. Sie betreiben eine Weberei und führen scheinbar ein erfülltes Leben. Dass dem nicht so ist, wird ihm auf schockierende Weise bewusst, als aus dem Nichts ein Fremder auftaucht. Durante nennt er sich, trägt Cowboystiefel, einen seltsamen Hut und soll auf dem Hof Morlacchi Reitstunden geben. Seine entwaffnende Ehrlichkeit, Sorglosigkeit, aber auch Einfühlungsvermögen bringt die kleine geschlossene Gesellschaft im Dorf völlig aus dem Konzept.
Pietro fühlt sich in jeder Hinsicht dem Eindringling unterlegen und geht sofort auf Konfrontationskurs. Ihm passt es zum Beispiel gar nicht, dass er den Frauen reihenweise den Kopf verdreht, auch Astrid und deren Schwester Ingrid, die zu Besuch kommt. Noch fataler ist wohl die Tatsache, dass Ingrids Interesse an Durante ihn mehr stört als die seiner Lebensgefährtin. Spätestens da muss er sich eingestehen, dass schon zuvor seine Beziehung und noch vieles mehr in seinem Leben im Argen lag. Durante hat ihm lediglich auf schmerzliche Weise die Augen geöffnet.
De Carlo zeichnet wieder einmal meisterhaft gegensätzliche Charaktere und Lebensentwürfe. Durante, der nur im Augenblick lebt und Besitz und Verpflichtungen ablehnt, macht Pietro nur allzu deutlich, wie festgefahren sein eigenes Leben ist. Ähnlich wie in „Zwei von Zwei“, einer meiner Lieblingsbücher, taucht er tief in die Seelennöte der Figuren ein und umkreist Fragen wie: Wieviele Optionen kann und sollte man in seinem Leben ausschöpfen? Wann merkt man, ob man sein Leben aus Überzeugung oder aus Gewohnheit führt? Welche Opfer fordert grenzenlose Freiheit? Nach einem Roadtrip mit Durante, der noch mehr Überraschungen birgt, kommt Pietro immerhin einer Antwort näher.
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Gewagte Expedition

Es gibt Regionen, über die ich lieber lese als sie selbst zu bereisen. Dazu gehört zum Beispiel Alaska. Wie gut, dass es Romane wie "At the bright edge of the world" („Das Leuchten am Rand der Welt“) von Eowyn Ivey gibt, die uns auf eine abenteuerliche Reise mitnehmen – in diesem Fall sogar auf eine ziemlich beschwerliche. Colonel Allen Forrester geht im Jahr 1885 im Namen der US-Armee auf eine Expedition, um den Wolverine River in Alaska zu erforschen. Seine ebenfalls naturbegeisterte Frau würde ihn zu gern begleiten. Sie ist jedoch schwanger und muss in der amerikanischen Garnison Vancouver zurückbleiben.
Was Allen und Sophie während der langen Zeit der Trennung erleben, erfahren wir aus ihren Tagebucheinträgen. Die Texte sind sinnlich und emotional so aufgeladen, dass man sich den Figuren sehr nahe fühlt, Sophie vielleicht noch ein wenig mehr als Allen. Gemeinsam mit dem Expeditionsteam lernen wir die Kultur, Lebensumstände und den Aberglauben der Ureinwohner kennen und erleben die Natur von ihrer atemberaubend schönen, aber auch kräftezehrenden Seite kennen. Nach der Beschreibung mehrerer lebensbedrohlicher Situationen tut es richtig gut, wieder einen Blick nach Vancouver zu werfen, wo Sophie sich immer mehr für die Naturfotografie begeistert. Das junge Ehepaar verbindet nicht nur ihre starke Liebe, sondern auch ihre Leidenschaft für die Natur und ihre Hingabe und Ausdauer bei ihren Projekten.
Abgerundet wird die Geschichte durch Zeitungsberichte über die Expedition, Fotografien und starke Nebenfiguren wie Sophies Dienstmädchen Charlotte und Freundin Evelyn. Das ganze bettet Eowyn Ivey wiederum geschickt in eine Rahmenhandlung, aus der hervorgeht, dass Walter Forrester den Nachlass seines Großonkels dem Museum in Alpine, Alaska zur Verfügung stellen möchte. Die Tagebücher von Allen und Sophie sind sicher nicht nur ein historisch bedeutendes Zeitdokument, sondern auch Ausdruck einer Liebe, die sich weder durch räumliche Trennung und noch durch schwere Schicksalsschläge erschüttern lässt.
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Filmreife Lebensgeschichten

Zufälligerweise habe ich das Buch „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“ genau an Silvester gelesen, an dem auch die erste Erzählung beginnt. Der 18-jährige Leonhard verbringt diesen Tag ganz unspektakulär. Seine Eltern sind nach Belgien gefahren, und er macht sich einen Topf Nudeln und hängt seinen Gedanken nach. Als Leser hat man jedoch schon eine Vorahnung, dass gleich etwas Ungewöhnliches passieren wird. Und so kommt es auch: Am nächsten Morgen liegt eine wildfremde Frau in der Diele.
Das ist ganz typisch für die elf Erzählungen von Judith Kuckart. Es liegt etwas in der Luft und man ist nur einen Hauch davon entfernt, eine positive oder negative Überraschung zu erleben. „Was für ein Vorrat an Leben liegt in der Luft“, heißt es einmal und bringt die Hoffnungen und Sehnsüchte der Figuren zum Ausdruck. An Fantasie mangelt es ihnen dabei wahrlich nicht. Als Leonhard für seinen unerwarteten Gast einen Koffer aus dem Schließfach holt, kommt er sich vor wie in einem Krimi. Auch die pensionierten Lehrerinnen Maria und Emilie, die jedes Jahr zu einer Kur nach Tschechien fahren, lassen sich gern zu Träumereien verleiten. Schon eine Kleinigkeit wie ihren Taxifahrer in Stuttgart, der „so schön ist, dass man ihn vertonen müsste“, Ali Baba zu nennen, verleiht ihrem Leben ein wenig Nervenkitzel.
Judith Kuckart erwähnt immer wieder das Kino und zitiert Filme, so als ob sie die Grenzen zwischen fiktiven und realen Geschichten aufweichen wollte. Tatsächlich sorgen aufregende Begegnungen und Wendungen in Dresden, Stuttgart, Costa Brava oder Shanghai für Szenen, die durchaus filmreif sind. Auch der Polizist Sven kann den Verheißungen, die die Schuhverkäuferin Marilyn verkörpert, nicht widerstehen. Und Karl erlebt nach einer Affäre in Shanghai eine unerwartete Wende in seiner Ehe. Kuckart hat ein interessantes Konstrukt aus verschiedenen Episoden geschaffen, in denen sich die Wege der Figuren kreuzen. Nicht alle Geschichten haben mir gleich gut gefallen, doch ihr ganz eigener Sprachstil und die Art und Weise, wie sie die Glückssuche der Figuren schildert, faszinieren.
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Antrag auf ein neues Leben

Es gibt Menschen, für die ist die Firma das zweite Zuhause. Aber was wäre, wenn es ihr einziges ist? So wie bei Albert Glück, Protagonist des Romans „Das Glücksbüro“ von Andreas Izquierdo. Der Vollblut-Beamte hat sich im Keller eines Amtes für Verwaltungsangelegenheiten häuslich niedergelassen und das Gebäude seit 30 Jahren nicht verlassen.
In seinem abgesteckten kleinen Spielfeld fühlt er sich wohl und führt seine Arbeit mit großer Sorgfalt und Hingabe aus. Schwierig wird es, wenn er mit etwas Unbekanntem konfrontiert wird – zum Beispiel mit dem Formular E45, das es nicht geben dürfte, das zudem nichts beantragt und zum wiederholten Male auf seinem Tisch landet. Gezwungenermaßen begibt er sich auf die Suche nach der Antragstellerin und lernt so die Künstlerin Anna Sugus kennen und lieben. Sie stellt sein Leben völlig auf den Kopf und bringt immer mehr Farbe in seinen tristen Alltag. Durch sie erkennt er, dass hinter den Formularen, die er Tag für Tag höchst effizient abarbeitet, Menschen mit individuellen Sorgen und Nöten stecken. Und Albert ist der Einzige, der sich im Paragrafendschungel so gut auskennt, dass er ihnen helfen und ein wenig Glück in ihr Leben bringen kann.
Wer schon einmal in einem Unternehmen gearbeitet hat, wird einiges wiedererkennen, zum Beispiel die typischen Sticheleien unter Kollegen, der pünktliche Run in die Kantine oder der Sektumtrunk, der täglich in irgendeiner Fachabteilung stattfindet. Diese kleinen Seitenhiebe hat der Autor in eine äußerst charmante und herzerwärmende Geschichte verpackt. Sie zeigt, dass man sich aus Angst oder Bequemlichkeit in sein Schneckenhaus zurückziehen oder sich hinaus trauen, Anteil am Schicksal anderer nehmen und Positives bewirken. Andreas Izquierdo, der in Köln lebt, hat ein wundervolles Buch voller Humor und Poesie über die Liebe und Menschlichkeit geschrieben.
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Der Sommer des Jahrhunderts

Wie hätte wohl ein Buch über das Jahr 2017 ausgesehen, wenn Florian Illies Momentaufnahmen von aktuellen Geschehnissen und Persönlichkeiten zusammengestellt hätte? Vermutlich hätten die bildende Kunst und Literatur nicht so im Mittelpunkt gestanden wie in seinem Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“, das vor fünf Jahren erschienen ist. Das Konzept finde ich originell: Der Autor und Kunsthistoriker knöpft sich jeden Monat einzeln vor, schildert die aus seiner Sicht erwähnenswerten Ereignisse und hangelt sich so durch das ganze Jahr.
Der Kunsthistoriker erzählt dabei so locker, klug und amüsant, dass man keine Mühe hat, sich in die schnell wechselnden Situationen hineinzuversetzen. Haben wir gerade noch mit Kafka über einen Liebesbrief an die Angebetete Felice gebrütet, befinden wir uns kurze Zeit später bei Asta Nielsen, die ihre ersten Filme dreht. Bemerkenswert ist, dass der Autor nur einzelne Tage im Leben verschiedener Persönlichkeiten beschreibt und doch das Typische an ihrem Wesen erfasst und illustriert.
Er schafft immer wieder einen eleganten Übergang zwischen den Momentaufnahmen und Anekdoten und gibt dem Leser das Gefühl, das Jahr ziehe wie ein Film vor seinem Auge vorüber. Bald fühlt man sich fast angesteckt von den herrschenden Neurosen und der Untergangsstimmung, die Schriftsteller, Maler und Psychoanalytiker gleichermaßen ergreift. Allmählich versteht man, wie daraus die dem Morbiden zugetane Wiener Intelligenz entstand.
Manche Fakten ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch, zum Beispiel, dass Marcel Duchamp immer noch keine Lust hat, die Malerei wieder aufzunehmen. Im Laufe des Buches sind einem die Protagonisten schon so vertraut, dass man das Gefühl hat, auf einen Sprung bei Rilke, Kokoschka, Schnitzler oder Freud vorbeizuschauen, und sich mit einem „What’s up?“ auf den Lippen zu erkundigen, wie die Dinge stehen. Eine erstaunliche Leistung von Florian Illies, die Fülle und Vielfalt eines ganz besonderen Jahres in ein unterhaltsames Büchlein zu packen.
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In den Fängen eines Sprachmagiers

Saša Stanišić entführt uns in seinem Erzählband „Fallensteller“ in verschiedenste, teilweise merkwürdige Orte. In Stockholm stiehlt der Ich-Erzähler mit seinem Freund Mo ein Gemälde einer aus Syrien geflüchteten Malerin, um ihr den Verkaufserlös zukommen zu lassen. In Rio steigt der Justitiar Georg Horvath, der die Übernahme einer Brauerei regeln sollte, in ein falsches Taxi und landet auf einmal im Dschungel. In Fürstenfelde will sich ein Fallensteller nicht nur um die Rattenplage, sondern um viele andere Probleme kümmern. Die Szenerie wirkt oft surreal, der Erzählton mal schelmisch, mal melancholisch.
Zu den skurrilen Charakteren zählt auch Ferdinand Klingenreiter, der 50 Jahre in einem Sägewerk gearbeitet hat, und auf einer Betriebsfeier endlich seinen Traum verwirklichen kann: als großer Zauberer aufzutreten. Nicht nur Klingenreiter, auch der Autor selbst ist ein Zauberer, und zwar ein Sprachmagier der besonderen Art. Er jongliert mit neuen Wortschöpfungen und verwirrt mit abstrusen Satzkonstruktionen und Verdoppelungen.
Seine Sprachakrobatik hat mich fasziniert. Zu seinen Geschichten und Figuren konnte ich jedoch keinen richtigen Zugang finden. Vielleicht waren sie mir einfach zu abgefahren. Eine Ausnahme bildet die Geschichte über einen Jungen, der nicht ins Ferienlager fahren will, weil er alles, was damit zu tun hat, kategorisch ablehnt: die Natur im Allgemeinen und Folienkartoffeln im Besonderen. "Ich hasse die Farbe Grün", „Ich finde Bäume nur als Schrank super“, „Wir unterhalten uns schon seit mehreren Sätzen“ oder „Schöne und gute Ideen sind schön und gut, aber…“ zählen zu den besten Sätzen in diesem Buch, das ich ansonsten etwas gewöhnungsbedürftig fand.
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Die vier Leben des Archibalds

Ich habe lange überlegt, ob ich den neuesten Roman von Paul Auster mit dem Titel „4 3 2 1“ lese. Ich bin zwar ein großer Fan des amerikanischen Schriftstellers, doch seine letzten Bücher haben mich nicht so überzeugt. Ich war auch nicht sicher, ob ich mir die Geschichte von Archibald Ferguson in vier Varianten auf 1.000 Seiten wirklich antun will. Das englischsprachige eBook war allerdings so günstig, dass ich doch zuschlug. Eine sehr gute Entscheidung, wie sich herausstellte!
Archibalds Eltern, Rosie und Stanley, spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle, so dass ihnen viel Platz eingeräumt wird. Rosie überlegt seitenweise Argumente für und gegen eine Heirat mit Stanley und gibt damit schon einen Vorgeschmack auf Austers Hauptthema: die vielzähligen Optionen, die ein Mensch in seinem Leben hat, und die gravierenden Folgen einer einzelnen Entscheidung.
„Was wäre wenn?“ Diese Frage taucht erneut auf, als der junge Archibald mit gebrochenem Bein im Bett liegt und darüber sinniert, was alles hätte passieren können, wenn er nicht auf den Baum geklettert wäre. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich verstanden habe, dass die vier Lebenswege nicht nacheinander erzählt werden – was zwar anstrengender, doch reizvoller ist, da es den direkten Vergleich der Lebensabschnitte ermöglicht.
Als Archibald seine unglückliche Liebe zu Amy Schneidermann schildert, dachte ich schon „Werde ich das nun in vier Variationen lesen?“ Tatsächlich wiederholen sich bestimmte Themen wie seine Liebe zum Lesen, Schreiben, zu Baseball, zu Paris und zu besagter Amy. Wie unterschiedlich Archibald Nummer eins bis vier eine Paris-Reise oder die Beziehung zu Amy erleben, macht gerade die Spannung aus. Es kommt auch vor, dass die Figuren ganz andere Wege gehen und sich schließlich doch in einer ähnlichen Situation wiederfinden.
Faszinierend sind auch die Geschichten in der Geschichte und die eingestreuten philosophischen Gedanken, zum Beispiel darüber wie viele Dinge gleichzeitig passieren. Jede der vier Erzählungen übt eine eigene Sogwirkung aus, weil es Paul Auster versteht, Gefühlsleben und Atmosphäre plastisch zu schildern und sogar mit dem Weltgeschehen zu verquicken. Das Durcheinander im Inneren und Äußeren wird fantastisch verwoben, als Archibald und Amy das lang ersehnte Wochenende in Zweisamkeit verbringen, während auf Kennedy das Attentat verübt wird.
Dieser Roman ist ein nicht nur ein Geniestreich, sondern auch fesselnder Lesestoff, der um die großen Themen des Lebens kreist. Es hat mich sogar dazu inspiriert, aus Spaß meine eigenen vier möglichen Lebenswege zu skizzieren. Ob daraus mal ein 1.000 starker Roman wird, ist allerdings fraglich.
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Miniaturen über das Universum und den Alltag

Pünktlich zur kalten Jahreszeit ist „Im Winter“, der zweite Teil eines vierbändigen Projekts von Karl Ove Knausgård, erschienen. Der Titel hätte auch ebenso gut „Das Leben“ lauten können, denn darum geht es in dieser Essay-Sammlung. Das deutet bereits das erste Kapitel an, in dem der Autor in einem Brief seine ungeborene Tochter darauf vorbereitet, was sie nach der Trennung vom Mutterleib erwartet.
Es folgen Betrachtungen über Alltagsgegenstände, Lebewesen, Naturerscheinungen und abstrakte Themen, die in ihrer Auswahl willkürlich erscheinen. Manche haben einen Bezug zum Winter, manche nicht. Der norwegische Schriftsteller hat dabei einen ganz eigenen Stil: Erst beschreibt er sachlich Form und Funktionalität eines Elements wie Wasser oder eines Möbelstücks wie einen Stuhl. Daraus lässt er überraschende Assoziationen und Gedanken entfalten, die oft das ganze Universum umfassen.
Eines haben die Miniaturen gemeinsam: Sie sind alle angetrieben von Knausgårds immenser Neugier, Wissbegierde und Bewunderung für seine Umwelt. Er versucht das Leben zu begreifen, indem er Gesetzmäßigkeiten ausarbeitet, nach Parallelen zwischen der materiellen Welt und den Lebewesen sucht und Gegenstände bin ins Kleinste seziert.
Nach den Naturbeschreibungen zu Beginn des Buches, die eher trist, dunkel, teilweise mystisch sind, tut es richtig gut, wenn der Autor aus seinem Familienleben plaudert. Er beschreibt Geburtstagsrituale, die Unordnung im Kinderzimmer oder Weihnachtsvorbereitungen und bringt dabei nicht nur Farben, Fülle und Lebensfreude ins Spiel, sondern strahlt auch eine unglaubliche Wärme aus. Besonders gut gelingt ihm dies in der Episode „Weihnachtsgeschenke“. Darin beschreibt er, wie leblose Gegenstände wie ein Kuscheltier mit seinem neuen Besitzer eine Bindung eingehen und eine völlig neue Bedeutung gewinnen – erst als ständiger Begleiter, später als wertvolle Kindheitserinnerung.
Es ist erstaunlich, welche tiefgründigen Gedanken banale Alltagsgegenstände wie Zahnbürsten oder Q-Tips bei Knausgård auslösen. Sein Buch liest sich wie ein Appell, auf das Besondere, Staunenswerte im Leben, das sich einem nicht sofort erschließt, zu achten. Es enthält außerdem sehr schöne Aquarelle von Lars Lerin, die mit den Essays stimmig sind. Es könnte gut sein, dass ich bei meinem nächsten Waldspaziergang die Winterlandschaft mit anderen Augen sehe als bisher.
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Hymne an die weibliche Leselust

Lesende Frauen waren offenbar ein beliebtes Sujet in der Malerei. Blättert man in dem Kunstband „Frauen und ihre Bücher“ von Johannes Thiele versteht man auch warum. Malern wie Auguste Renoir, Jan Vermeer oder Thomas Sully ist es gelungen, diesen Zustand sinnlichen Vergnügens und tiefster Vertrautheit auf wunderbare Weise einzufangen. Die Porträtierten sind so vollkommen in ihrer Beschäftigung versunken, dass der Maler sich wie ein Eindringling fühlen musste.
Johannes Thiele hat nicht nur eine großartige Bildauswahl aus verschiedensten Epochen zusammengestellt – er kommentiert und interpretiert sie auch informativ, pointiert und voller Empathie. Am Gesichtsausdruck der Leserinnen erkennt man teilweise, um welche Art von Lektüre es sich handelt. Ein errötetes Lächeln könnte auf leichten, frivolen Lesestoff deuten, ernste Gesichter auf schwere Kost oder emotionsgeladene Briefe.
Die Bandbreite der dargestellten Frauen reicht von jungen Mädchen über vornehme Salondamen bis hin zu selbstbewussten, eleganten Frauen. Interessant ist auch die Vielfalt der Leseplätze. Manch ein Dienstmädchen nutzte jede freie Minute, um sich mit seinem Roman in ein Kämmerchen zurückzuziehen und ungestört lesen zu können. Andere liegen ausgestreckt auf einem Canapé und wirken durch ihre Anmut, Schönheit und Versunkenheit unnahbar. Und doch fühlt man sich als Lesebegeisterte diesen Frauen und ihrer Leidenschaft sehr nahe. Ein Kunstband, das sich sehr gut als Weihnachtsgeschenk eignet. 
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Raus aus Stroodle und Tracebook

Es ist Liebe auf den ersten Blick, als Richard Westermann, Hauptfigur des Romans "Westermann und Fräulein Gabriele" auf einer Beerdigung Olympia begegnet. Allerdings handelt sich nicht um ein weibliches Wesen, in das sich der Vorstand eines IT-Konzerns verguckt hat, sondern um die Schreibmaschine des verstorbenen berühmten Schriftstellers Rupertus Höfer. Durch Zufall ist Westermann auf dessen Trauerfeier geraten und fühlt sich von dem altmodischen Gerät magisch angezogen. Der Kontrast zu seiner aktuellen Produktentwicklung, eine ausspähsichere Krypto-Box, könnte größer nicht sein.
Da der Erbe und Besitzer der Olympia sich partout nicht von ihr trennen will, sucht sich Westermann einen Ersatz und findet bei einem Händler das Exemplar Gabriele, Jahrgang 58. Vor dem Kauf inspiziert er das Gerät bis in den letzten Winkel und testet jedes Detail, als ob er einen Neuwagen Probe fahren würde. Man fragt sich, warum er so besessen davon ist, eine muffig riechende Schreibmaschine zu ergattern. Will er die Reaktion seiner Kollegen testen? Ein besonderes Statement setzen? Oder leidet er einfach unter einer Midlife Crisis?
Auch seine Mutter Yolanda zeigt wenig Verständnis, zumal sie gerade genau den umgekehrten Weg geht. Im Senioren-Internet-Café hat sie Blut geleckt, schafft sich einen PC an und nervt seinen Sohn mit „i-Mehls“ und „Tracebook“. Dieser reagiert höchst alarmiert, weiß er doch, welche Gefahren im Netz lauern, wenn man unbedarft seine Daten preisgibt. Diese Erfahrung muss auch der Erbe Rupert Höfers machen, der vergeblich versucht, die digitalen Spuren seines Vaters zu löschen. Dieser mag tot sein, doch sein Profil lebt im Netz auf makabre Weise weiter.
Mit bissigem Humor, Situationskomik und witzigen Wortschöpfungen, aber auch tiefgründig nimmt Katharina Münk die moderne Arbeitswelt aufs Korn und beleuchtet die Digitalisierung aus der Sicht verschiedener Generationen: aus der Sicht Westermanns, der des Datenhypes überdrüssig ist und sich in der analogen Welt wieder erden kann, seiner Mutter, die endlich in der digitalen Welt mitmischen und dazugehören möchte oder seines Sohnes, für den der Sound der Schreibmaschine so außergewöhnlich klingt, dass er ihn in sein Online-Archiv verschwundener Töne aufnimmt. Klack klack, pling, pling … Diese Geräusche wecken ebenso nostalgische Gefühle wie auch diese charmante Story.
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Gelungene Shakespeare-Adaption

Wie viele Schriftsteller haben sich wohl auf die eine oder andere Weise von Shakespeare inspirieren lassen? Im „Hogarth Shakespeare-Projekt“ haben acht renommierte Autoren ein Drama ihrer Wahl sogar ganz konkret neuinterpretiert, darunter auch der britische Journalist und Schriftsteller Edward St Aubyn. In seinem Roman "Dunbar und seine Töchter" hat er sich „King Lear“ vorgeknöpft und aus dem Stoff eine zeitlose, dramatische Familiengeschichte gestrickt.
Sie beginnt in einem Sanatorium in Cumbria im Nordwesten Englands. Henry Dunbar, Chef eines Medienimperiums, wurde von seinen zwei intriganten und machthungrigen Töchtern Abigail und Megan mit Medikamenten vollgepumpt und in die Klinik abgeschoben. Es gelingt ihm jedoch, gemeinsam mit dem trinkfreudigen Komiker Peter Walker auszubrechen. Während Peter nur an einer Sauftour interessiert ist, wird aus Dunbars Flucht eine Reise zur Selbsterkenntnis. Schon bald trennt er sich von seinem Begleiter und versucht, trotz seiner schwachen körperlichen Verfassung allein einen Pass zu überqueren. Dabei reflektiert er voller Reue über sein verpfuschtes Leben, seine geliebte Frau, die er durch einen Unfall verlor und seine jüngste Tochter Florence, die er zu Unrecht enterbte.
Die körperliche Grenzerfahrung und der völlige Kontrollverlust im tiefsten Wald führen bei Dunbar zu einer seelischen Läuterung. In starken Metaphern beschreibt der Autor, wie psychische und physische Schmerzen sowie Innen- und Außenwelt miteinander verschmelzen. Es kommt einem vor, als suche der einst machthungrige und skrupellose Unternehmer mit dem quälenden Aufstieg auf den Berg die Nähe Gottes, seine Gnade und Erlösung.
Währenddessen starten sowohl die „bösen“ Töchter als auch Florence mit ihren jeweiligen Verbündeten eine große Suchaktion. Die Spannung wird dadurch erhöht, dass in vier Tagen eine Aufsichtsratssitzung geplant ist, die über die Zukunft des milliardenschweren Konzerns entscheiden soll. Was die Skrupellosigkeit und Grausamkeit von Abigail und Megan betrifft, werden alle Register gezogen. Ihre Kaltblütigkeit und Gewaltbereitschaft erinnert an so manche Figur aus Shakespeares Vorlage. Edward St Aubyn hat in seinem fesselnden Roman nicht nur den Stoff von King Lear geschickt in die Neuzeit versetzt, sondern auch den Fall und die Läuterung eines Menschen, nachdem er auf die nackte Existenz reduziert wurde, stilistisch und dramaturgisch überzeugend umgesetzt.
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Diese Lektüre macht glücklich

Mal ehrlich: „Warum Lesen glücklich macht“, muss uns Leseratten doch keiner erklären. Trotzdem konnte ich nicht umhin, mir das schon etwas ältere Buch von Stefan Bollmann zuzulegen und mir seine Gründe zu Gemüte zu führen. Manchmal möchte man ja einfach nur in seinen Ansichten und Erfahrungen bestätigt werden. Und so war es dann auch.
Der Autor erläutert nicht nur, worin der Reiz von Büchern besteht, sondern auch, was sie leisten und welchen Einfluss sie auf unser Leben haben können. Als Leser empfinden wir Geschichten wohl deshalb so spannend, weil sie die Welt interpretieren und die Möglichkeit bieten, uns darin wieder zu erkennen. Für den begeisterten Leser und Schriftsteller Thoreau zum Beispiel waren Bücher nicht bloße Unterhaltung, sondern Mittel zur Selbsterkenntnis. Sie zeigen auf, was alles möglich wäre, und öffnen uns die Augen in einer viel größeren Dimension als Eltern, Freunde oder der Schulunterricht in der Lage wären.
So bezeichnet Stefan Bollmann den Moment, in dem man erkennt, dass die Gestaltung der Zukunft in der eigenen Hand liegt, als „gefährlichen Augenblick“. Der Schriftsteller Graham Greene erlebte solch einen Moment bei der Lektüre von „The Viper of Milan“ von Marjorie Bowen. Von da an wusste er genau, dass er selbst schreiben wollte. Andere schöpfen aus Büchern Kraft für Neuanfänge oder erleben Momente der Selbstvergessenheit.
In jedem Fall können Leser durch Romane in verschiedenste Rollen schlüpfen und ihren eigenen Gefühls- und Erlebnishorizont erweitern. Stefan Bollmann erklärt uns außerdem, was Leser mit Jägern und Sammlern gemein haben und ergänzt seine Ausführungen mit interessanten Bildern, zum Beispiel von Manuskriptseiten aus Marcel Prousts Roman „A la Recherche du temps perdu“ und seinen amerikanischen Reisetagebüchern. Auch die Lektüre von „Warum Lesen glücklich macht“ macht glücklich.
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Schmökerspaß statt Einkaufsstress

„Ich habe keine Lust, an einem Samstag Nachmittag zum Apple Store zu fahren.“
„Aber mein iPhone X ist abholbereit! Ich muss sofort dahin!!“
„Ok, dann parke ich im Gasteig und gehe auf die Bücherschau während Du Dein Handy abholst.“
„Deal.“
Nach diesem kurzen Dialog mit Harry kam es dazu, dass ich letzten Samstag ganz unverhofft eine Stunde auf der diesjährigen Münchner Bücherschau schmökern konnte. Das war mir eh viel lieber, als bei eisiger Kälte in Haidhausen zu bummeln. So konnte sich jeder von uns einer Sache widmen, die für ihn das Lebenselixier war: Harry seinem künftigen Handy und ich den Büchern.
Beim Hin- und Herschlendern zwischen den Verlagsständen schnappte ich interessante Gespräche auf, zum Beispiel „Mein Verlag ruft heute an. Ich muss endlich mein Buch schreiben.“ Ein paar Stände weiter saß eine ältere Frau über einem Kochbuch gebeugt und schrieb eifrig ein Kürbissuppen-Rezept ab. Es wäre witzig, jetzt jemanden zu treffen, den man gar nicht erwartet, zum Beispiel eine Studienfreundin, einen Ex-Freund oder jemanden aus dem Fitness-Studio, dachte ich, während ich die Bücherregale abklapperte. Tatsächlich traf ich einen alten Bekannten – allerdings nicht physikalisch, sondern in gedruckter Form. Ich stieß auf ein Buch von Hans-Herbert Holzhamer, bei dem ich mein erstes Praktikum absolviert habe, als er noch Ressortleiter bei der Süddeutschen Zeitung war. Ihm habe ich meine ersten journalistischen Erfahrungen zu verdanken.
Am Stand von Piper fiel mir der Buchtitel „Ich versteh die Welt nicht mehr“ ins Auge. Gleich darunter las ich „Gebrauchsanweisung für das Leben“. Na, die beiden sollten sich doch zusammentun. Eine Gebrauchsanweisung für das Leben auf 240 Seiten klingt ganz schön vermessen, macht aber neugierig. Landet also auf meine Leseliste. Auch die historischen Romane aus dem Gmeiner-Verlag haben mein Interesse geweckt, zum Beispiel „Die Naschmarkt-Morde“ von Gerhard Loibelsberger. Obwohl ich regelmäßig in Buchhandlungen schmökere und die Neuerscheinungen der Verlage studiere, mache ich auf der Bücherschau doch jedes Jahr interessante Neuentdeckungen. Meine Bücherliste war zum Schluss gut gefüllt, unter anderem mit folgenden Titeln:
„Der große Meaulnes“ von Henri Alain-Fournier
„Das Buch der verlorenen Bücher“ von Giorgio van Straten
„Ein feines Gespür für Schönheit“ von J. David Simons
„Robinsons blaues Haus“ von Ernst Augustin
„Max“ von Markus Orths
„Ein fast perfektes Wunder“ von Andrea de Carlo
„Besser nie als spät: Neue Gedanken und Notizen“ von Tomi Ungerer
Ich finde, Harry ist ziemlich viel entgangen, aber dafür ist er jetzt glücklicher iPhone X Besitzer.
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Zauberberg der Alternativkultur

Ob die Gründer der Kooperative „Monte Verità“ je geahnt hätten, das sie unseren heutigen Lebensstil so stark prägen würden? Alles begann mit einer Gruppe von sechs Aussteigern, weiß Stefan Bollmann in seinem aktuellen Buch „Monte Verità“ zu berichten. Zwei Musikerinnen, ein demissionierter Soldat, ein Maler, ein Fabrikantensohn sowie ein aus der elterlichen Gewalt entflohenes Mädchen – sie alle träumten von einem gesünderen, naturnahen und autonomen Leben fernab von der Großstadthektik und frei von gesellschaftlichen Konventionen. Unter anderem inspiriert durch das Sanatorium des Schweizer Naturheilers Arnold Rikli beschlossen die sechs Lebensreformer, auf einem Hügel oberhalb Asconas mit Blick auf den Lago Maggiore eine Heilstätte für Körper, Seele und Geist zu gründen. 
Dieser Teil des Buches zählt für mich zu den spannendsten, denn nicht nur ihre Vision, sondern auch die Probleme und Hindernisse, auf die sie stoßen, passen in die heutige Zeit. Sie teilen zwar alle ein gemeinsames existenzielles Anliegen, doch bei der Umsetzung gehen ihre Vorstellungen weit auseinander. Ida Hofstein, neben Henri Oedenkoven die treibende Kraft, verachtet den Künstler Gustav Gräser, der zwar große Reden schwingt, aber keinen nützlichen Beitrag leistet. Idealismus prallt auf Realismus, Handlung „ohne Zwang“ auf anarchisches Sich-Treiben-Lassen. Nach der Gründung besteht das Hauptproblem darin, wirtschaftlich tragfähig zu sein. Immerhin sorgt der "Zauberberg der Alternativkultur" für internationales Aufsehen, da die Monte Veritaner nicht nur ein alternatives Leben führen, sondern es gern auch zur Schau stellen.
Auch wenn die Gruppe auseinanderfällt, entwickelt sich die Institution weiter, von einer Naturheilanstalt, in der Bewegung an der frischen Luft, Sonnenbaden und vegetarische Ernährung auf der Tagesordnung stehen, zu einer Wirtschaft- und Lebensgemeinschaft und später sogar zu einer Tanzschule. Die Gegend rund um Locarno zieht immer mehr Künstler und Literaten, Pazifisten und Anarchisten an. Stefan Bollmann hat sehr akribisch recherchiert und zeigt eindrucksvoll, in welchem Umfeld eine Idee entstand, die viele Spuren hinterlassen hat, sei es in der veganen Ernährung, unserem heutigen Körperideal, im modernen Ausdruckstanz oder der florierenden Fitness- und Wellnessbranche. Das zentrale Motiv „Du kannst dein Leben ändern“ passt mehr denn je in unsere heutige Zeit.
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Lyriker mit Inselbegabung

Eine Sicherungskopie seines Lebens erstellen – keine leichte Aufgabe, die sich der Ich-Erzähler B. in dem autobiografischen Roman „Der Insulaner“ von Henning Boëtius vorgenommen hat. Zumal die Zeit drängt, denn B. muss einen Gehirntumor operieren lassen und hat Angst, alles zu vergessen, was seine Identität ausmacht. In einem Narkosetraum erzählt er einem Analytiker seine ganze Lebensgeschichte.
Auf Vollständigkeit legt B. großen Wert, denn er berichtet nicht nur chronologisch, sondern holt weit aus und macht uns zunächst mit der Herkunft seiner Eltern vertraut. Alle geschilderten Details sollen schließlich dazu dienen, herauszufinden, wie und warum B. so geworden ist wie er ist.
Die Schauplätze wechseln unter anderem zwischen Föhr, Rendsburg und Frankfurt. Er schildert nicht nur seinen eigenen Lebensweg vom hochbegabten Physiker zum experimentierfreudigen Dichter, sondern charakterisiert auch sehr sorgfältig die Menschen, die ihn begleitet und beeinflusst haben, wie Verwandte, Mitschüler und Lehrer. Dabei gibt es eine Konstante in seinem Leben: die Suche nach einem Freund, einem Seelenverwandten. Er wird jedoch immer wieder enttäuscht. Weder sein Vater, seine Schulkameraden noch die Mädchen und Frauen, in die er sich verliebt, können ihm das ersehnte Gefühl der Nähe geben. Er fragt sich, ob er sie durch seine klugen Belehrungen vertreibt oder ob es in der Natur des Menschen liegt, allein zu leben wie ein Insulaner.
Seine einziger Verbündeter ist die Natur, die neben dem Erzähler die zweite Hauptrolle in dieser Geschichte spielt. Je grausamer B. die Wirklichkeit erlebt, desto mehr Trost spendet ihm das Meer. In den Naturbeschreibungen zeigt sich die überbordende Fantasie und Fabulierkunst des Autors am deutlichsten. Es geht aber auch um das Vergessen, Erinnern und Rekapitulieren. Seine „Lebensbeichte“ ergänzt B. durch Tagebucheintragungen seiner Mutter und Briefinhalte. Er lässt die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes lebendig werden, denn manchmal hat er Halluzinationen und begegnet auf dem Weg zwischen Hotel und Institut Gespenstern der Vergangenheit.
Der Roman hat einige Längen, zum Beispiel die Schilderung des alljährlichen Weihnachtsfests oder seine Erlebnisse auf hoher See. Die außergewönliche Lebensgeschichte ist jedoch mit viel sprachlicher Finesse und schonungsloser Offenheit geschrieben, dass sich die Lektüre der knapp 1000 Seiten lohnt.
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Memoiren einer Gesellschaftslöwin

„Ein Tag mit Kunst ist ein guter Tag.“ Mit diesem Satz hat mich Gabriele Henkel geködert. Sonst hätten die Memoiren der Ehefrau von Konrad Henkel mit dem Titel „Die Zeit ist ein Augenblick“ vermutlich nicht mein Interesse geweckt. Dieser Satz umschreibt sehr treffend ihr Leben, das sie mit großer Hingabe der Kunst widmete.
Es ist bezeichnend, dass die Autorin nicht chronologisch vorgeht, sondern mit dem Kapitel „Das Glück der Liebe“ beginnt. Damit macht sie gleich deutlich, dass es sich um keine Lebensgeschichte, sondern um Reminiszenzen handelt, die sich vor allem um die Liebe zu ihrem Mann, zu der Kunst und ihren zahlreichen Freunden drehen. Diese Momentaufnahmen geben Einblick in ihren illustren Lebensweg von der Tochter eines Chefarztes über die Unternehmensgattin zur Kunstmäzenin und Professorin für Kommunikationsdesign.
Wenn sie erzählt, wie sie mit 16 Jahren nach London zog, sich dort verliebte und den Journalismus für sich entdeckte, fühlt man sich ihr fast nahe. Doch wenige Seiten später erinnert sie sich an hundert rote Rosen, die ihr der Regisseur William Wyler aufs Hotelzimmer schickte, und an eine Segeltour mit Fiatchef Gianni Agnelli, und man taucht in eine völlig fremde Welt ein.
Schon als junge Journalistin hat sie es mit hochrangiger Prominenz zu tun. Nach der Heirat mit Konrad Henkel, der nach dem Tod seines Bruders die Leitung des Konzerns übernimmt, weitet sich der Kreis weiter rapide aus. Manchmal hatte ich das Gefühl, in einem Who’s Who Kompendium zu blättern und fühlte mich erschlagen von den vielen Namen. Bemerkenswert ist jedoch, dass Gabriele Henkel offensichtlich nicht viel von oberflächlichen Bekanntschaften hielt. Aus jedem Satz spricht ihre Zuneigung und Bewunderung für ihre Freunde und deren Arbeiten heraus. Wenn sie regelmäßig Salonabende organisierte und mit fantasievollen Dekorationen und Kunstinstallationen für Furore sorgte, war dies ihre Art der Wertschätzung und Würdigung der Gäste.
Gabriele Henkel baute die umfangreiche Kunstsammlung des Henkel-Konzerns auf. Dabei konnte ich so manch Interessantes über meine Heimatstadt Düsseldorf als Mittelpunkt der avantgardistischen deutschen Kunstszene erfahren. Mir imponiert, wie Gabriele Henkel sich immer wieder neuen Aufgaben stellte und zum Beispiel als Professorin Seminare und Studienreisen organisierte. Immer wieder fragte ich mich: „Wo nimmt die Frau nur ihre Energie her?“ So allmählich verstand ich ihren Antrieb: Nachdem sie als Kind die Kriegszeit und später viele tragische Krankheits- und Todesfälle miterleben musste, wollte sie wohl so lange es geht ihren Leidenschaften nachgehen und so viele schöne Augenblicke wie nur möglich sammeln. Am 28. September ist Gabriele Henkel mit 85 Jahren gestorben.
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"Ich will mir selbst gehören"

Margret Greiner versteht es einfach ein Frauenleben fesselnd zu zeichnen. Nach „Charlotte Salomon“ und „Emilie Flöge“ ist „Charlotte Berend-Corinth und Lovis Corinth“ die dritte Romanbiografie, die ich von ihr gelesen habe. Charlotte Berend ist die erste Schülerin von Corinth, der 1901 seine erste „Malschule für Weiber“ gründete und sich damals noch mit Unterricht finanziell über Wasser hielt. Ohne Sentimentalitäten beschreibt die Autorin, wie sich die beiden bei ihrem ersten gemeinsamen Urlaub an der Ostsee näher kommen und den besonderen Augenblick, in dem sich Charlotte in den zwanzig Jahre älteren Mann verliebt und sich mit Haut und Haaren für ihn entscheidet.
Es beginnt ein aufregendes und abwechslungsreiches Leben, in dem Charlotte in die höhere Gesellschaft eingeführt wird, Atelierfeste erlebt und ihre große Liebe heiratet. Margret Greiner hebt immer wieder hervor, welche Stütze sie für den Künstler war, der von Depressionen gepeinigt wurde. Sie baut ihm sogar ein Haus in Urfeld am Walchensee, damit er sich künstlerisch verwirklichen kann und stellt ihre künstlerischen Ambitionen zurück. Zu ihren Stärken zählt aber nicht nur ihr Durchhaltevermögen, sondern auch ihr Antrieb, Neues zu entdecken und zu erfahren. Sie taucht in das Berliner Nachtleben ein, erlebt die lesbische Liebe, was wiederum ihre Kunst beflügelt. Und wieviel Reisen diese Frau unternommen hat! An die Riviera, nach Rom, St. Moritz, Andalusien, Ägypten ... Auch nach dem Tod ihres Mannes gibt es keinen Stillstand. Sie lebt zehn Jahre in Italien und emigriert in die USA.
Diese spannende und hervorragend recherchierte Lebensgeschichte beschreibt eine komplexe Persönlichkeit, die aus tiefer Liebe ihren Mann unterstützt und sich dennoch bis zum Schluss selbst treu blieb. Schade, dass so wenige Werke von der Malerin erhalten geblieben sind.
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Eine Schreibreise zu sich selbst

Rewrite your life“ fordert uns Tatijana Milovic in ihrem Buch mit gleichnamigem Titel auf. Das klingt fast so, als könnten wir einfach unser Leben umschreiben, eine Art Wunschbiografie entwerfen. Unser Leben können wir vielleicht nicht so schnell ändern, doch unsere Sicht auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wie das geht, erklärt sie anhand von vier Rewriting-Prinzipien. Danach gilt es, unsere Glaubenssätze aufzuspüren, unsere authentische Stimme zu finden, Erlebnisse in einen neuen Zusammenhang zu setzen und loszulassen.
Am Anfang war mir noch nicht klar, in welche Richtung mich der Ratgeber führt. Geht es um autobiografisches Schreiben oder darum, mein Leben zu reflektieren und mich neu zu orientieren? Allmählich verstand ich, wie beides ineinander greift. Was mir besonders gefiel, waren die vielen Erzählformen, die sie vorstellt – immer unter dem Aspekt, sich dabei schreibend selbst zu erforschen. In Märchen könnte man sich zum Beispiel überlegen, welche Aufgaben der Held meistern und welche Wandlungen er durchmachen wird. Wenn mich ein Erlebnis stark aufgewühlt hat, wäre eher die Form des Dramas geeignet, um eine Geschichte daraus zu spinnen. Ich ertappte mich während der Lektüre dabei, wie ich an Situationen aus jüngster Vergangenheit dachte, die das Zeug zu einem Bühnenstück mit viel Pathos und fetzigen Dialogen hätten. Spätestens da war meine Fantasie und meine Schreiblust in Gang gesetzt.
Ihr schöner und flüssiger Stil tut sein übriges, um ihre Texte nicht nur zu genießen, sondern selbst zur Feder zu greifen. Mir gefällt auch ihr Bild der Schreiblokomotive, denn ich fühlte mich tatsächlich so, als würde ich durch verschiedene Erzählformen reisen und dabei Möglichkeiten entdecken, verschiedene Stimmen in mir zu aktivieren. Das Buch enthält nicht nur viele inspirierende Gedanken und Schreibübungen, sondern ist auch optisch sehr ansprechend aufgemacht. Nach der Lektüre fühlte ich mich beschwingt und beflügelt, mich schreibend in neue Gefilde zu wagen.
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Von der Vergangenheit eingeholt

Vincent, Ich-Erzähler des Romans „This is not a love song“ von Jean-Philippe Blondel schwant nichts Gutes, als seine Frau Susan sich eine kleine Auszeit wünscht. Eine Woche ganz für sich, während ihre Eltern auf die Kinder aufpassen. Noch weniger begeistert ihn ihr Vorschlag, in der Zeit seine Familie in Frankreich zu besuchen. Doch allmählich freundet er sich mit der Idee an, zumal es seinem Ego gut tun würde, in seiner Heimat mit seiner Laufbahn zum erfolgreichen Unternehmer und glücklichen Familienvater zu prahlen.
Gleich am Anfang werden die unterschiedlichen Elternpaare von Susan und Vincent vorgestellt, und man ahnt, dass Familie und Herkunft eine zentrale Rolle spielen werden. Im Gegensatz zu den bisherigen Kurzbesuchen wird Vincent diesmal eine ganze Woche Zeit haben, die Diskrepanz zwischen seiner Jugend in der französischen Provinz und dem derzeitigen erfüllten Leben in London zu spüren. Schon damit baut der Autor eine Spannung auf, denn man hat bereits eine leise Vorahnung, dass Vincent nach dieser Woche nicht mehr der Gleiche sein wird.
Ich konnte mich auf vielen Ebenen erstaunlich gut mit der Hauptfigur identifizieren. Mir ist zwar meine Geburtsstadt, die ich mit 19 Jahren verließ, nicht verhasst wie Vincent seine, doch das euphorische Gefühl, in einer anderen Großstadt, wo einen niemand kennt, völlig neu anzufangen, konnte ich gut nachvollziehen. Obwohl der Erzähler keinen Hehl daraus macht, wie arrogant und selbstgefällig er geworden ist und auf den Lebensstil anderer herabsieht, war er mir sympathisch; wahrscheinlich gerade weil er so ehrlich und schonungslos seinen Charakter offenlegt. Durch eingestreute Rückblenden, die schildern, wie er zum Schulversager und Außenseiter wurde und mit seinem besten Freund Étienne kurz vor dem Absturz stand, versteht man langsam, warum er so wurde, wie er heute ist.
Blondels Stärke besteht darin, mit wenigen Worten viel auszusagen, zum Beispiel über die enge und doch ambivalente Freundschaft zwischen Vincent und Étienne. Überraschend war nicht nur die Wende in der Geschichte, sondern auch das Verhalten manch einer Figur, die so viel Größe zeigte, dass sie mir Tränen in die Augen trieb. Dieser feine, elegant geschriebene Roman, der um Themen wie Freundschaft, Familie, Zusammenhalt und Schuldgefühle kreist, hat mich schlichtweg umgehauen.
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Reise durch die Rockgeschichte

Wer hätte nicht gern eine Million Dollar, um ein sorgloses Leben als Rockgitarrist zu führen. Das denkt sich auch Thomas Dupré, Hauptfigur des Romans „Vintage“ von Grégoire Hervier. Als Musikjournalist und Verkäufer in einem Pariser Gitarren-Laden hält er sich finanziell über Wasser. Kein Wunder, dass er das Angebot eines Kunden nicht ausschlagen kann: Er soll für ihn den Beweis liefern, dass die sagenumwobene E-Gitarre Gibson Moderne existiert hat.
Von diesem Auftrag ahnt er noch nichts, als er den mysteriösen Käufer Lord Charles Winsley in den schottischen Highland aufsucht. Dieser hat gerade die seltene, wertvolle Gitarre Les Paul Goldtop erworben – unter der Bedingung, dass man sie ihm persönlich überbringt. So landet Thomas im Boleskine House in Loch Ness, einem Landhaus, das einst dem Led Zeppelin-Gitarristen Jimmy Page gehörte, und in dem er nun vom Lord empfangen wird. Dieser zeigt ihm stolz seine umfangreiche Sammlung von Kultgitarren. Seine Freude ist jedoch getrübt, denn angeblich ist ihm das wertvollste Stück durch einen Diebstahl abhanden gekommen: ein Original der Gibson Moderne. Damit die Versicherung einen Schadenersatz zahlt, bittet er Thomas für einen Finderlohn von 1 Million Dollar den Beweis für die Existenz zu erbringen.
Und so beginnt für Thomas ein Road-Trip, der über viele legendäre und prestigeträchtige Stationen in Memphis und Australien führt und sich als gefährlicher herausstellt als erwartet. Ging das 1957 entworfene E-Gitarren-Modell tatsächlich in Produktion oder gab es womöglich nur einen Prototypen? Der Autor lässt in dieser wendungsreichen Story viel Wissen über die Geschichte des Blues und Rock’n’Rolls einfließen. Stellenweise wurde ich von der Begeisterung und Leidenschaft der Figuren regelrecht angesteckt, dann wieder ließ meine Aufmerksamkeit vor lauter Fachsimpelei etwas nach. Doch die sympathische Hauptfigur und ihre spannende Jagd auf die Gitarre hält auch Musiklaien bis zum Schluss bei der Stange.
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Sanfte Schatzsuche

Aus Erfahrung weiß ich: Am meisten quält man sich, wenn man sich nicht entscheiden kann. Annette Sewing würde uns in dieser Situation sicher die Perlentaucher-Methode empfehlen. In ihrem gleichnamigen Buch erklärt uns die Ärztin und Coach, wie wir mit vier einfachen Fragen so ziemlich jede Lebenssituation meistern können. Als ich die vier Fragen las, war mein erster Gedanke: Diese Art der Umkehrung von Aussagen kenne ich doch schon aus „The Work“ von Byron Katie. Tatsächlich las ich wenige Seiten später, dass die Autorin lange Zeit mit dieser Vorgehensweise gearbeitet hat, bevor sie ihr eigenes Konzept entwickelte und ihre Coaching-Praxis in Lübeck eröffnete. 
Die fünffache Mutter berichtet nicht nur, wie die Methode ihr selbst in vielen kritischen Situationen geholfen hat, sondern beschreibt auch verschiedene „Tauchgänge“ mit ihren Klienten. Die Beispiele zeigen, dass sich die Methode in verschiedenen Lebens- und Themenbereichen einsetzen lässt, zum Beispiel um ein negatives Erlebnis zu verarbeiten und Frieden zu finden, die Beziehung zu seinen Kindern zu verbessern oder Klarheit für den nächsten Karriereschritt zu finden. Sie zeigt, wie man die Methode steigern kann, wie man neue Themen, die dabei hochkommen, wiederum der Vier-Fragen-Technik unterziehen kann und macht einen interessanten Exkurs zu unseren Grundbedürfnissen Sicherheit, Dominanz und Stimulanz.
So erlebte ich ihr Buch selbst wie einen Tauchgang. Was mit vier simpel klingenden Fragen begann, gewann durch ihre Ausführungen immer mehr an Tiefe. Schicht für Schicht deckt Annette Sewing auf, wie wir tief in uns hineinspüren und Antworten finden können, die unseren wahren Gefühlen entsprechen und durch logische Argumentation allein nicht sichtbar sind. Ich fand es sehr angenehm, wie die Autorin mich in einer schnörkellosen Sprache, Offen- und Sanftheit an das Thema heranführte – und war am Ende überrascht zu lesen, dass ihr die Sanftheit der Methode besonders am Herzen liegt. Mission erfüllt.
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Wettfahrt um den Erdball

Wenn wir heute auf Reisen gehen, genießen wir die Muße fernab von der Hektik des Alltags. Davon kann in dem Roman „Die schnellsten Frauen der Welt“ kaum die Rede sein. Denn wie der Titel schon sagt: Um Schnelligkeit und nichts anderes ging es bei der Weltumrundung, die zwei Journalistinnen am 14. November 1889 antraten. Statt in 80 Tagen, die Jules Vernes Romanfigur Phileas Fogg gebraucht hatte, wollen Nellie Bly von der Zeitung 'New York World' und Elizabeth Bisland von der Zeitschrift 'Cosmopolitan' bereits nach 75 Tagen wieder in ihrer Heimat New York zurück sein. Matthew Goodman hat die Wettfahrt der beiden Frauen, die in entgegensetzte Richtungen aufbrachen, in einen mitreißenden Roman verpackt.
Zunächst werden die zwei Protagonistinnen vorgestellt, die höchst gegensätzlich sind. Nellie Bly hat sich als investigative Journalistin einen Namen gemacht und schreckt vor keinem Abenteuer zurück, auch nicht vor einer Weltumrundung, die sie selbst der Redaktion vorschlägt. Dagegen steht ihre Kontrahentin aus vornehmem Hause gar nicht gern im Rampenlicht, liebt Gedichte, Romane und wird von ihrem Arbeitgeber zu der strapaziösen Reise mehr oder weniger gezwungen.
Denn strapaziös ist sie gewiss – die Reise, die unter anderem über London, Brindisi, Suez, Singapur, Hongkong und San Francisco führt. Man leidet mit Nellie Bly mit, der die Seekrankheit arg zu schaffen macht, und fühlt die Verzweiflung Elizabeth Bislands nach, die benommen vor Kälte, Hunger und Erschöpfung versucht, ihren Dampfer zu erreichen. Genauso detailreich wie die Wege werden auch die Städte und die Atmosphäre geschildert, in die sie, wenn auch nur kurz, eintauchen. Goodmans Beschreibungen sind so üppig mit Lokalkolorit garniert, dass ich das Gefühl hatte, hautnah dabei zu sein, das Rattern der Züge zu spüren, den Curry in Indien zu schmecken oder die Seeluft in Yokohama zu riechen. Vermutlich ging es den Zeitungslesern damals genauso, die gespannt auf Neuigkeiten der rasenden Reporterinnen warteten und mitfieberten.
Darüber hinaus erfuhr ich viel Interessantes über die damalige Zeit, zum Beispiel über die Zeitungsbranche, die statt Frauen lieber studierte Männer mit klassischer Bildung einstellte, den harten Konkurrenzdruck im Schiffbau, die rasante Ausweitung des Eisenbahnnetzes oder den Komfort amerikanischer Züge, die neben Schlaf- und Speisewagen auch über Bibliotheks- und Salonwagen, Stenografen und Kammerzofen verfügten. Diese in rasantem Tempo erzählte historische Reportage führt mitten durch das Herz des viktorianischen Zeitalters und wird nicht nur Reiselustige begeistern. 
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Schreibstudium – und dann?

Viele verdienen ihren Lebensunterhalt damit, Texte zu schreiben. Manche haben dafür studiert, manche nicht. Welche Möglichkeiten bieten sich eigentlich Absolventen von Schreibschulen? Wie stehen sie zu ihrem Beruf und haben sich ihre Erwartungen erfüllt? Einen Eindruck von ihren Erfahrungen bekommt man in der Anthologie „Irgendwas mit Schreiben“, herausgegeben von Jan Fischer und Nikola Richter.
Dabei muss es nicht einmal ein einzelner Beruf, der aus einem Schreibstudium in Hildesheim oder Leipzig resultiert. Martina Hefter zum Beispiel arbeitet als Lektorin, Schreibcoach, Autorin und unterrichtet in einem Poledance-Studio. Sie sieht sich als Künstlerin, die auch Texte schreibt und wäre dafür, dass Schreibschulen mit Kunst-, Theater-, Musik- und Tanzhochschulen zusammengelegt würden.
Die Kunst steht auch in dem Beitrag von Luba Goldberg-Kuznetsova im Mittelpunkt. Sie bedauert, dass manche Übungen und Pflichtseminare am Literaturinstitut in Hildesheim nur dazu da sind, das Schreibinstitut als wissenschaftliche Institution zu rechtfertigen. Ihrer Meinung nach gehört das Schreiben von Literatur zu den Künsten und sollte deshalb nicht im wissenschaftlichen Kontext betrachtet und bewertet werden.
Jacqueline Moskau stellt fest, dass es keinen allgemeingültigen Ausbildungsweg zum Schriftsteller gibt. Ein Schriftsteller-Dasein könne man sich ebenso wenig wie ein literarisches Lebenswerk als konkretes Ziel setzen und planen. Sie teilt mit den Lesern ihre Gedanken über den idealen Schreibraum, die Frequenz, das Auskommen und wieviel gesellschaftlicher Umgang gut tut.
Doch auch ganz andere Arten von Diplomautoren kommen zu Wort wie zum Beispiel ein „Fastfood-Journalist“, der für eine Versicherungszeitung schreibt oder ein ehemaliger Schreibschulstudent, der zum Schreibschuldozenten wurde. Beim Fernsehen, so berichtet ein anderer, liege die Kunst darin, industrielle Fertigung von Texten mit Kreativität zu verbinden und ein gutes Arbeitsklima zu schaffen und zu erhalten. Mal kritisch, mal witzig und selbstironisch erzählen die Autoren und Autorinnen von ihren Lebensläufen und geben Einblick in typische Hürden, Krisen, Träume und Ambitionen.
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Spuk oder Verschwörung?

Emma Garnier versteht es, auf wenigen Seiten den Leser vollkommen in den Bann zu ziehen. In ihrem Roman „Grandhotel Angst“ wirft sie im Prolog gleich zwei Köder aus: Sie katapultiert uns ins Jahr 1899 und in einen paradiesischen Ort vor der Kulisse der Seealpen, an dem wir gern ein wenig länger verweilen möchten, und konfrontiert uns zugleich mit einer kriminellen Tat, die nichts als Fragen aufwirft.
Rückblenden verraten uns in Versatzstücken, wie die Protagonistin Nell innerhalb einer Woche in ihre ausweglose Lage geriet. Dabei fing alles so traumhaft für sie an: Die Ankunft in dem idyllischen Bordighera an der ligurischen Küste mit ihrem frisch angetrauten Mann und die Aussicht auf unbeschwerte Flitterwochen im Luxushotel Grandhotel Angst. Doch von Tag zu Tag benimmt sich ihr Ehemann seltsamer, hüllt sich in Schweigen, wenn es um seine verstorbene Frau Kate geht, und trifft sich mit zwielichtigen Geschäftspartnern.
Noch bedrohlicher empfindet Nell das Hotel, in dem merkwürdige Dinge geschehen – besonders nachdem sie von der Legende rund um Lucrezia erfährt, die nicht nur von ihrem einstigen Grundstück vertrieben und verbrannt wurde, sondern Nell offenbar sehr ähnlich sieht. Überall wittert Nell Gefahr und ist sich nicht sicher, ob diese von der herumgeisternden, auf Rache sinnenden Lucrezia oder von einem perfiden Komplott ihres Ehemannes ausgeht.
Die Autorin verwebt bewusst das glamouröse und romantisch anmutende Ambiente mit gruseligen Elementen, die an Hitchcocks Verfilmung „Rebecca“ oder an Schauerromanen von Edgar Allan Poe erinnern. Ihre Beschreibungen – sei es die opulente Hotelausstattung, die mediterrane Landschaft oder das vornehme Gebaren der reisefreudigen Engländer – regen das Kopfkino an und verzeihen so manche Übertreibungen und kleine Schwächen in der Handlung. Das Grandhotel Angst und seine Legende existieren tatsächlich und haben Emma Garnier zu ihrem Thriller inspiriert. Ihr gelingt es, die einstige Pracht des Hotels und die Atmosphäre jener Zeit spannend und mit einem Hauch von Mystik aufleben zu lassen.
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Wege zu einer kreativen Karriere

Es hat seinen Grund, warum nicht nur der Titel des Buches „Mut zur Kreativität“ von Doreen Virtue mit dem Wort „Mut“ beginnt, sondern jedes der insgesamt 17 Kapitel. Denn an Kreativität, so die Überzeugung der amerikanischen Autorin, mangelt es den Menschen nicht, jedoch an Mut.
Der erste Teil des Buches hat mich stark angesprochen, weil sie erläutert, wie wichtig die eigenen Gefühle für den kreativen Prozess sind. Unter diesem Aspekt hatte ich das Thema Kreativität noch nicht betrachtet. Die Psychologin und Familientherapeutin empfiehlt, besonders auf unsere Ängste und Unsicherheiten zu achten, da genau diese Gefühle uns Menschen miteinander verbinden. Nutzen wir diese Gefühle als Ausgangspunkt für Kreativität, sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir mit unserer Kunst andere berühren. Das würde auch erklären, warum mich bestimmte Kunstwerke wie ein abstraktes Gemälde von Picasso, das weder ästhetisch noch harmonisch ist, mich in meinem tiefen Inneren anspricht. Sie sind vermutlich einem authentischen Gefühl entsprungen, das unverfälscht und kreativ zum Ausdruck gebracht wurde.
Aus dem Grund rät Doreen Virtue auch davon ab, seine Vision durch äußere Faktoren wie die Meinung anderer oder Markttauglichkeit zu verwässern. Nur so gelang es ihr wahrscheinlich, ihr erstes Buch nach vier Absagen weiteren 40 Verlagen zuzusenden und nicht den Mut zu verlieren, bis sie schließlich vier Zusagen erhielt. Mir gefällt ihre Anregung, seine Kreativität als ein Geschenk zu sehen, das man sich selbst macht und als Nebeneffekt auch anderen helfen kann. Doch wie geht man auf andere zu und macht auf seine Kunst aufmerksam? Dazu gibt Doreen Virtue im zweiten Teil des Buchs viele praktische Tipps, von der Unterstützung durch Agenten und Netzwerken über die eigene Website bis hin zu Fachportalen und passenden Veranstaltungen.
Auf einige Wiederholungen hätte die Autorin verzichten können. So geht sie mehrmals auf typische Verzögerungstaktiken und Ausreden ein, warum viele Menschen dauerhaft im Vorbereitungs-Modus bleiben, statt aktiv zu werden. Andererseits macht sie dadurch deutlich, dass genau aus dem Grund unzählige Ideen in der Schublade landen und nie in ein konkretes Projekt umgesetzt werden. Doreen Virtue, die auf Hawaii lebt, stammt aus einer hellseherisch begabten Familie und ist vor allem durch ihre Engel-Therapie bekannt geworden. Auch in diesem Buch geht sie darauf ein, wie Engel uns die Richtung weisen und uns auf dem Weg zu einer kreativen Karriere unterstützen können. Durch ihre ausgewogene Mischung aus spirituellem und praktischem Wissen und ihrem motivierenden und einfühlsamen Schreibstil macht sie den Lesern Mut, mögliche Hindernisse und Glaubenssätze aus dem Weg zu räumen, um ein kreatives Leben zu führen, das einen nicht nur erfüllt, sondern auch finanziell versorgt.
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Einstein oder Phoenix

Als ich das erste Mal von dem Begriffspaar Taucher und Scanner hörte, war es für mich ein Aha-Erlebnis. Ganz klar konnte ich mich zwar nicht zuordnen, aber tendenziell erkannte ich in mir die Scannerin, die im Leben möglichst viel entdecken und ausprobieren möchte statt bei einer Sache in die Tiefe zu gehen. Auch die Amerikanerin Emilie Wapnick zählt sich zu dieser Gruppe, hat allerdings einen neuen Begriff geschaffen: Sie nennt sich ‚Multipotentialite‘. In ihrem Buch „How To Be Everything“ beschreibt sie viele Möglichkeiten, wie diese Menschen ihre vielfältigen Interessen beruflich und privat ausleben können.
Wapnick stellt fest, dass ‚Multipotentialites‘ im Vergleich zu Spezialisten eher mit einem negativen Image zu kämpfen haben und spricht aus eigener Erfahrung. Sie tummeln sich auf vielen Feldern und beherrschen nichts gescheit – so die verbreitete länder- und kulturübergreifende Meinung. Damit holt die Autorin geschickt alle Betroffenen ab und zeigt Verständnis für ihre häufigsten Sorgen: Kann ich als Multipotentialite überhaupt von meinem Beruf leben? Wird in der Regel nicht ein Spezialist gegenüber einem Multitalent bevorzugt? Wie stark leidet die Produktivität? Und erst das Selbstbewusstsein?
Die Autorin räumt mit gängigen Vorurteilen auf und betont, dass es auf Expertise und Erfahrung allein nicht ankommt, obwohl die meisten Karrierebücher eher darauf ausgerichtet sind. Sie ist überzeugt, dass Scanner-Typen viele wertvolle Fähigkeiten mitbringen wie schnelles Lernvermögen, Flexibilität, die Fähigkeit, größere Zusammenhänge zu erkennen, Dinge zu kombinieren, auf andere Gebiete zu übertragen und neue originelle Ideen hervorzubringen.
Konkret stellt sie vier verschiedene Arbeitsmodelle vor, die sehr schlüssig sind und zudem sehr treffende Namen haben. Der „Group Hug Approach“ wird diejenigen ansprechen, die möglichst viele ihrer Interessen und Fähigkeiten in einen Hauptberuf einbringen möchten. Der „Slash Approach“ dagegen sieht mehrere parallele Tätigkeiten vor, so dass keine Langeweile aufkommt. Beim „Einstein Approach“ geht man einem Hauptberuf nach, den man gern ausübt und mit dem man verschiedenste Hobbies finanzieren kann. Der „Phoenix-Approach“ wird diejenigen begeistern, die aus einem Posten das Maximale herausholen, um dann zur nächsten herausfordernden Tätigkeit zu wechseln und sich so immer weiter entwickeln. Auch eine Kombination aus den Modellen wäre denkbar, die die Autorin mit vielen Beispielen belegt. Hunderte von Leuten hat Emilie Wapnick befragt, die ein glückliches und finanziell stabiles Leben führen. Viele haben sich statt zielstrebiger Karriereplanung für eine facettenreiche Lebensgestaltung entschieden.
Das Buch ist se