Die Poesie des Schweigens

Schon so mancher Schriftsteller hat sich auf Spurensuche in die Vergangenheit begeben. Die Geschichte von „Anna und Armand“, die die Enkelin Miranda Richmond Mouillot niedergeschrieben hat, ist dennoch etwas Besonderes und das nicht nur, weil sie auf einer wahren Begebenheit beruht. Das jüdische Paar floh 1942 in die Schweiz, überlebte den Krieg und kurz danach trennten sich ihre Wege. Seitdem haben sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Miranda ist fest entschlossen, das Schweigen zu brechen und herausfinden, was sie damals entzweit hat.
Schon als Kind fällt ihr die seltsame Beziehung zwischen den Großeltern auf und sie versucht, sich einen Reim darauf zu machen. Ihre Großmutter Anna ist redselig, beschreibt die Kriegszeit als die „Universität ihres Lebens“ und gibt ihr die Gabe, vierblättrige Kleeblätter zu finden, sowie viele Lebensweisheiten mit auf den Weg. Ihr Großvater Armand dagegen, bei dem sie in einem Internatsjahr in Genf lebt, ist verschlossen und reagiert jedes Mal wütend, wenn sie Anna erwähnt. Von ihm erfährt sie lediglich, dass Anna versucht habe, sein Leben zu ruinieren.
Die Alltagssituationen, die Miranda mit ihrem schwer umgänglichen Großvater erlebt, beschreibt sie mit feiner Ironie. Sie stellt fest, wie unterschiedlich Anna und Armand sind, sei es die Art zu kochen, den Haushalt zu führen oder ihre Vorlieben für Musik. Fest steht, dass die Ehe ihrer Großeltern ein explosives Thema ist, das Miranda nicht mehr loslässt – erst recht, als ihr Großvater sie in das südfranzösische Dorf La Roche mitnimmt und ihr ein altes Steinhaus zeigt, dass er mit seiner Frau nach dem Krieg gekauft hat. Miranda fühlt sich aus unerklärlichen Gründen gleich zu Hause und nutzt jede Gelegenheit, um ihre Zeit dort zu verbringen.
Ihre akribische Suche nach ihren familiären Wurzeln hat mich derart gefesselt, dass ich das Buch an einem Tag verschlungen habe. Stück für Stück setzt sie die Puzzleteile zusammen, studiert Dokumente aus Annas Flüchtlingsakte und gerät unter Zeitdruck, weil Armand zunehmend dement wird. Wo Fragen offen bleiben, versucht sie sich, in ihre Großeltern hineinzuversetzen und vernachlässigt dabei fast ihr eigenes Leben und ihre Zukunftspläne. Ihre wiederkehrenden Befürchtungen, ob sie nüchterne Fakten nicht grundlos romantisiert, kommen sehr gut zum Ausdruck. Nicht nur die mysteriöse Geschichte, auch die Sprache der Autorin entfaltet einen besonderen Zauber und man wird sich bei der Lektüre bewusst, dass man das Ergebnis ihrer mühsamen Recherchearbeit, die sie mit Fotos aus dem Familienarchiv und einer Zeittafel illustriert, in Händen hält.