Malen, um nicht verrückt zu werden

2017-04-23
Berlin
Malen, um nicht verrückt zu werden

Zum Welttag des Buches möchte ich Euch eine Roman-Biografie vorstellen, die uns auf faszinierende Weise eine Künstler-Persönlichkeit und die Zeitgeschichte näher bringt. Wie schafft es eine Frau, die mehrere Suizide in der Familie und die Judenverfolgung miterleben musste, ihren Lebenswillen nicht zu verlieren und der Nachwelt ein autobiografisches Gesamtkunstwerk zu hinterlassen? Die Rede ist von Charlotte Salomon, und eine Antwort auf die Frage liefert uns Margret Greiner in „Charlotte Salomon – Es ist mein ganzes Leben“. 

Vor ihrer Deportation malte Charlotte Salomon knapp zwei Jahre lang wie eine Besessene, um nicht verrückt zu werden, bannte rückblickend ihr gesamtes Leben auf Gouachen im expressionistischen Stil. So entstand ein gemalter Lebenszyklus von etwa 800 Bildern, angefangen mit ihrer Kindheit und dem großbürgerlichen Leben in einer jüdischen Berliner Familie. Margret Greiner vermittelt uns zunächst das Bild eines sehr lebhaften, trotzköpfigen und besitzergreifenden Mädchens, das nach dem Tod ihrer Mutter von diversen Kindermädchen erzogen wird, darunter eines, das ihre Lust auf das Zeichnen und Malen weckt.

Zwei Männern in ihrem Leben haben wir wohl zu verdanken, dass Charlotte ihrer Berufung als Malerin folgte: Einerseits ihrem Vater, der trotz anfänglicher Rückschläge fest an ihr Talent glaubte, bis Charlotte schließlich auf die Berliner Hochschule für die bildenden Künste zugelassen wurde; andererseits ihrer große Liebe zu einem Gesangslehrer, der fest davon überzeugt war, Charlotte würde etwas Außerordentliches vollbringen, und ihr zu mehr Selbstachtung verhalf. 

Auch die Frauenfiguren, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielten, werden facettenreich charakterisiert – stets aus der Sicht von Charlotte. Ihr Hang zu starken Gefühlsausbrüchen zeigt sich besonders in der Beziehung zu ihrer Stiefmutter und gefeierten Opernsängerin, die sie abgöttisch verehrt. Paula Lindberg, von Charlotte liebevoll Paulinka genannt, schafft es, durch ihre überschwängliche und herzliche Art Charlottes Lebensfreude zu wecken. Im krassen Gegensatz dazu steht Charlottes Verhältnis zu ihren Großeltern, die nach Villefranche emigriert sind und mit denen sie nach Hitlers Machtergreifung eine qualvolle Zeit verlebt. Sie zieht sich schließlich in eine Pension in Saint Jean Cap Ferrat zurück, wo sie mit ihrem Lebensprojekt beginnt.

In kurzen Einschüben beschreibt Margret Greiner, wie Charlotte ein Ereignis in ihrem Leben oder einen Gemütszustand malerisch festhielt. Anhand der angegebenen Nummern kann man einen Teil der Gouachen im Buch, die übrigen auf einer Website betrachten. In dieser hervorragend recherchierten Biografie lässt die Autorin Charlottes Persönlichkeit und ihren Charakter so erspüren, als würden wir in einem Tagebuch lesen. Dabei verzichtet sie auf Sentimentalitäten und öffnet in einer bildreichen Sprache den Blick für Charlottes bewegendes Leben und ihre Bilderwelt.

 
Biografie, Kunst