Entgleiste Beziehung

Meine Mutter flog kürzlich von einer strapaziösen Japanreise nach Düsseldorf zurück und freute sich auf elf ungestörte Flugstunden. Doch daraus wurde nichts, denn der einzige alleinreisende Deutsche im ganzen Flieger saß ausgerechnet neben meiner Mutter und quatschte sie stundenlang voll. Er war wohl dankbar, jemandem, die endlich deutsch verstand, sein Herz ausschütten zu können.
Man kann sich seinen Sitznachbarn eben nicht aussuchen. So wie Cécile, die in dem Roman "6 Uhr 41", ebenfalls ein anstrengendes Familien-Wochenende hinter sich hat und sich im Zugabteil plötzlich neben ihrem Ex-Liebhaber Philippe wiederfindet.
Bis es zu einer Konversation auf der Strecke zwischen Troyes und Paris kommt, muss sich der Leser jedoch gedulden. Keiner traut sich, den anderen anzusprechen. Statt dessen versinken sie jeder in ihre Gedankenwelt und lassen ihre Beziehung, die 30 Jahre zurückliegt, Revue passieren. So erfahren wir jeweils aus der Sicht des anderen immer mehr Details über die Charaktere, ihre Gefühle und ihr letztes gemeinsames Wochenende in London.
Interessant fand ich die Schilderung, wie es zum Bruch zwischen Cécile und Ludec kam. Der Anblick ihres Knies auf dem Beifahrersitz war der Auslöser, dass Ludec die Beziehung beendete. Alles, was er an ihr nicht mehr mochte, konzentrierte sich auf einmal in diesem unschuldigen und harmlosen Knie. Auch wenn das Gefühl des Bedauerns, das sich durch den Roman zieht, stellenweise deprimierend ist, hat mir die feine und subtile Erzählung der Wiederbegegnung gut gefallen.