Opfer. Täter. Mitläufer.
Der Mordfall, der die Geschehnisse in dem Roman "Wolfsstadt" von Bernd Ohm ins Rollen bringt, könnte aus einem skandinavischen Krimi stammen: Eine Gelegenheitsprostituierte wird mit abgetrennten Gliedmaßen in einem See gefunden. Hier hört allerdings jegliche Gemeinsamkeit auf. Der Leichenfundort ist nämlich der Langwieder See in München und der Ermittler ein Kommissar aus Mahlow in Hinterpommern.
Man schreibt das Jahr 1948. Der Kripobeamte Fritz Lehmann hat in den US-Kriegsgefangenenlagern englisch gelernt und will in der bayerischen Hauptstadt ein neues Leben beginnen. Er geht in Bars, hört Jazzmusik und versucht, unter der amerikanischen Besatzung seinen Platz zu finden. Nachts wird er jedoch von Alpträumen heimgesucht: Seine Vergangenheit als Mitglied der OrPo und vor allem eine Massenerschießung im ukrainischen Sarny, an der er beteiligt war, quält ihn immer wieder – erst recht, als ihn sein aktueller Fall zu jüdischen Überlebenden des Holocausts führt. Parallel observiert er seit Monaten den einstigen Sturmbannführer Nowak, mit dem er noch eine Rechnung zu begleichen hat.
All das wird im Bewusstseinsstrom der Hauptfigur erzählt. Manchmal kam es mir so vor, als würde ich in einer Kneipe einem Bekannten lauschen, der in einem nicht enden wollenden Redefluss den Arbeitsalltag im Polizeipräsidium in der Ettstraße, Verfolgungsjagden am Isarhochufer, wo ich noch vor kurzem gewohnt habe, und was ihm dabei durch den Kopf geht, schildert. Mit viel Ironie beschreibt er aus Lehmanns Perspektive das Auftreten der Amerikaner: „...so freundlich und überlegen und ein bisschen amüsiert, dass man da so ein ulkiges deutsches Tierchen vor sich hat, auch so ein bisschen lauernd, ... ganz aus sich heraus kommen die nie vor einem Deutschen, weil man ja schließlich auch besiegter Feind ist.“
Man wünscht sich, er möge immer so fortfahren in diesem lockeren Ton, doch dann schlägt sein Stil rigoros um, wenn er mit verstörender Präzision die Gräueltaten der Naziverbrecher beschreibt. In seinem Autorenblog erklärt Bernd Ohm, der in Augsburg unter anderem Neuere und Neueste Geschichte studierte, warum er sich so intensiv mit dem Thema beschäftigt hat: Nachdem er in geschichtswissenschaftlichen Werken keine überzeugende Erklärung für die Ursachen des Holocausts finden konnte, wagte er den Versuch, durch eine fiktive Erzählung Einblick in den Geist der Menschen, die damals am Werk waren, zu bekommen. Sein 500 Seiten starker Debütroman über Mörder mit schlechtem Gewissen und Opfern, die selbst zu Mördern werden, erfordert Zeit und volle Aufmerksamkeit, doch die Lektüre ist lohnenswert.