41 Prosa-Miniaturen

Es gibt Bücher, die einem erst beim zweiten Anlauf gut gefallen. Dazu gehört in meinem Fall „Mikado“ von Botho Strauß. Vielleicht war ich damals auch einfach nicht in der Stimmung für die teils düsteren, teils surrealen Kurzgeschichten.
Zentrales Thema sind die Wechselwirkungen zwischen Menschen, die eine zerstörerische Kraft haben können. Ganz exemplarisch ist die Geschichte „Hunderttausend Grobiane“, in der die Hauptfigur 130 Grobiane, denen er in seinem Leben begegnet ist, bei sich versammelt, um mit jedem einzelnen abzurechnen.
In fast allen Geschichten geht eine Gefahr von den Mitmenschen aus und man steht vor der Frage, ob man sich auf jemanden einlassen darf oder sich zur eigenen Sicherheit abgrenzen muss. Bemerkenswert ist, dass sowohl die Anwesenheit als auch Abwesenheit einer Person Unbehagen auslösen kann. Besonders gut gefiel mir in dem Zusammenhang die Geschichte „Die Lücke“. Zwei unbesetzte Plätze in einem Saal ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich als die Vorstellung selbst. In „Laufsteg“ treiben Models ihre Machtkämpfe und den Versuch, sich voneinander zu differenzieren, auf die Spitze.
Strauß’ Augenmerk gilt vor allem dem ‚tipping point’ – jenem Punkt, an dem das vertraute Verhältnis zwischen Freunden oder zwischen Mann und Frau in völlige Entfremdung oder in etwas Bedrohliches kippt. Das Konstrukt ist so zerbrechlich, wie der Zusammenhalt von Mikado-Stäben. Er beschreibt, wie sich dieses Muster von Generation zu Generation wiederholt. Jedes Verhalten besitzt einen Stammbaum, jedes Gefühl einen Vorfahren. Mich fasziniert, wie prägnant der Autor, der in Berlin lebt, die große Geschichte des menschlichen Unglücks in 41 Prosa-Miniaturen verpackt.