Schnitzeljagd durch 15 Leben

Ich beneide Harry August, Hauptfigur des Romans „First Fifteen Lives of Harry August“ („Die vielen Leben des Harry August“) von Claire North. Er hat mehrere Leben und kann so vieles ausprobieren – als Gelehrter, Abenteurer oder Spion. Seine Missionen führen in rund um die Welt nach London, Berlin, Wien, Leningrad und eskalieren in Peking.
Ich beneide Harry August nicht. Immer wieder wird er im Jahr 1919 geboren mit dem Wissen seiner vorherigen Leben und weiß daher genau, was ihn erwartet.
Zeitreisen sind ein beliebtes Thema und haben schon so manchen Schriftsteller zu originellen Geschichten inspiriert, zum Beispiel „The time traveller’s wife“ von Audrey Niffenegger. Claire North hat sich ein besonders großes Pensum vorgenommen, denn sie berichtet gleich von 15 Lebensläufen, die allerdings tragischerweise sehr ähnlich ablaufen.
Harry August fühlt sich auch im vierten Leben keine Spur klüger oder furchtloser. Er verliert den Glauben an Gott und wendet sich den Wissenschaften zu. Er will die Welt verstehen und wird zum Spion, um Verschwörungstheorien nachzugehen. Dabei hat er genügend Geld und alle Zeit der Welt – eigentlich könnte er sich entspannt zurücklehnen und sein Leben genießen. Sein Wissen über die bevorstehenden Ereignisse setzt ihn jedoch extrem unter Druck – besonders dann, als ihm in seinem elften Leben an seinem Sterbebett ein kleines Mädchen prophezeit, dass der Weltuntergang bevorstehe und nur Harry dies verhindern könne.
Ich stellte mir während der Lektüre oft die Frage, wie es sich wohl lebt, wenn man sein Wissen nicht aus Büchern oder aus zweiter Hand bezieht, sondern aus seinen eigenen Erfahrungen. Als Leser lernt man jedenfalls eine ganze Menge, denn Harry beschäftigt sich als Dozent an der Uni unter anderem mit Physik und erklärt auf sehr verständliche Weise die Beschaffenheit des Universums.
Andererseits wird einem vor Augen geführt, welche Konsequenzen jede noch so kleine Entscheidung haben kann. Wenn der Protagonist durch eine bestimmte Tat ein Unglück verhindern will, löst er dadurch womöglich ein anderes, noch viel größeres aus. Dies kann zu Absurditäten führen wie, dass Harry August einen Mörder jagt, der noch gar keinen Mord begangen hat.
Claire North wirft in ihrem intelligenten Roman auf sprachlich sehr hohem Niveau viele Fragen auf. Was lernen Menschen aus der Geschichte? Welche Gefahr kann Allwissenheit bedeuten? Ein Thema, dass niemals seine Aktualität verlieren wird.