Fünf sind keiner zuviel

Bahnhöfe in japanischen Großstädten sind ein Phänomen. Shinjuku in Tokio zum Beispiel zählt mit bis zu vier Millionen Passagieren täglich zu den verkehrsreichsten Bahnhöfen der Welt. Die Hauptfigur des Romans „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ von Haruki Murakami ist jedenfalls derart fasziniert, dass er sogar Bahnhofsarchitektur studiert, um beim Bau mitzuwirken.
Das ist aber auch so ziemlich das Einzige, wofür sich der Protagonist jemals interessiert hat. Mit 36 Jahren erzählt Tsukuru Tazaki seiner Angebeteten Sara Kimoto von seiner Schulzeit in Nagoya. Damals gehörte er zu einer unzertrennlichen Clique, bestehend aus zwei Mädchen und drei Jungen. Dabei verstand er gar nicht, was sie an ihm fanden. Er kam sich nichtssagend und farblos vor – im wahrsten Sinne des Wortes, denn die anderen vier trugen alle Farbbezeichnungen in ihren Namen. Trotzdem war es die glücklichste Zeit seines Lebens – bis zu dem Zeitpunkt, als er ganz plötzlich ohne jegliche Erklärung aus der Gruppe verstoßen wurde. Erst 16 Jahre später ermutigt ihn Sara, der Sache auf den Grund zu gehen. Tsukurus Reise in die Vergangenheit führt ihn bis nach Helsinki und zu der Erkenntnis, wie stark Selbst- und Fremdbild voneinander abweichen können.
Haruki Murakami zählt zu meinen Lieblingsschriftstellern und spielt auch in diesem Roman seine besondere Stärke aus, vermeintlich gegensätzliche Welten miteinander zu verschmelzen. Aus der Sicht von Tsukuru erleben wir, wie die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Realität und Traum, zwischen vollkommener Harmonie und Zerrüttung zerfließen. Tsukurus Stimmung schwankt zwischen düsterer Todessehnsucht und heiterer Melancholie. Stets findet der Autor den perfekten Ton, um etwa die perfekte Chemie in der Clique oder Tsukurus tiefste Depression zu beschreiben. An Murakamis typischen philosophischen Exkursen und Episoden, die ans Mystische und Fantastisch-Absurde grenzen wie zum Beispiel die Frage, ob sechs Finger wohl nützlich oder eher hinderlich seien, mangelt es auch diesmal nicht. Darüber baut der Autor geschickt einen Spannungsbogen und lässt die Leser bis zum Schluss grübeln, was wohl die vermeintlich perfekte harmonische Gemeinschaft von damals entzweit hat.