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Der Große Bericht

2016-04-26
London
Der Große Bericht

Was wäre, wenn man seine Umwelt nur noch in Mustern, Rastern und Algorithmen wahrnehmen würde? Eine ungefähre Vorstellung davon bekommt man in dem Roman „Satin Island“ von Tom McCarthy.

Dies beginnt bereits mit der Hauptfigur, die keinen individuellen Namen trägt. Sie nennt sich „U“, gleichklingend wie „You“, als sei die Figur übertragbar auf jede Person, den Leser eingeschlossen. Als Firmenanthropologe erforscht U die Menschheit im Auftrag einer Beratungsgesellschaft in London. Die Beschreibung einer Szene am Flughafen in Turin zeigt, dass sich seine Arbeitsweise und die  beruflichen Gewohnheiten schon längst in seinen Alltag eingeschlichen haben. Während er auf einen verspäteten Flieger wartet, beobachtet er das Treiben um sich und scannt alle Informationen, die auf ihn herein prasseln, ab. Auf mehreren Bildschirmen werden Berichte von Ölkatastrophen übertragen, Kinder tollen um ihn herum, auf seinem Handy blinken Nachrichten aus dem Büro. Sein Sitznachbar spricht ihn in einem Mischmasch aus Französisch, Holländisch, Deutsch und Amerikanisch an. Reale Bilder und Fernsehaufnahmen verschmelzen dabei zu einer vielschichtigen Collage und U fühlt sich leicht überfordert.

Wenn sich schon so eine einfache Alltagssituation derart wirr für ihn darstellt, wie wird es ihm dann erst beim Koob-Sassen-Projekt ergehen? Bei diesem Auftrag soll er DEN Großen Bericht über die Menschheit schreiben, einen universales ethnografisches Werk, das das gesamte Zeitalter abbildet – das bedeutet, alle Daten zu katalogisieren, sie durch Skizzen, Diagramme und Muster in eine Ordnung zu bringen und das ganze Bild zu sehen. U weiß nicht so recht, wo er anfangen soll und stellt fest, dass allein die Klimaanlage in seiner Firma so umfassend ist, dass sie ein eigenes Buch verdient. Was der Protagonist im großen Stil betreibt, kennt man selbst im kleinen Maßstab. Ganz ähnlich ergeht es mir, wenn ich die ständig wachsende Zahl von Mails, Dokumenten und Fotos sichte, archiviere und versuche, ein System hineinzubringen.

Interessant fand ich den Gedanken, dass der große Bericht möglicherweise schon längst von einem binären System geschrieben wurde und dass es dafür keiner menschlichen Anstrengung bedarf. Ich bin bisher schon so einiges von Schriftstellern und Philosophen gelesen, die sich mit dem Sinn des Universums und des Lebens beschäftigen. Das Thema aus der Sicht eines Anthropologen zu betrachten, war trotz der fehlenden Handlung eine interessante Leseerfahrung.