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Die Welt ablichten

2016-08-01
Barrandale
Die Welt ablichten

Wer war diese Fotografin Amory Clay? Kann man mehr über sie erfahren? Leider nicht, denn diese faszinierende, unerschrockene Frau, von der William Boyd in seinem Roman „Sweet Caress“ („Die Fotografin“) erzählt, ist frei erfunden; auch wenn es einem schwerfällt, dies zu glauben – so real wirkt diese Frauenfigur, die der britische Schriftsteller zum Leben erweckt. 

Zum einen liegt es daran, dass er virtuos geschichtliche Ereignisse mit seiner Fiktion vermengt. Obendrein streut er Tagebuchaufzeichnungen ein, in denen die Ich-Erzählerin in einem Cottage auf der Hebrideninsel Barrandale ihr Leben Revue passieren lässt. Zudem ist der Roman mit Fotos, die Amory Clay angeblich selbst geschossen hat, in Wahrheit jedoch von Flohmärkten oder aus dem Internet stammen, illustriert. 

Als die Protagonistin zum siebten Geburtstag von ihrem Onkel ihre erste Kamera, eine Kodak Brownie Nummer 2, geschenkt bekommt, ist ihre Laufbahn als Fotografin besiegelt. Damit beginnt die Reise einer Frau durch das 20. Jahrhundert, die zu verschiedensten Brennpunkten der Geschichte führt. Im dekadenten Berlin der frühen 1930er Jahre fotografiert sie Szenen in Tanzclubs und Bordellen und löst mit ihrer ersten Ausstellung einen Skandal aus. Als Fotoreporterin einer amerikanischen Agentur gerät sie in eine Schlägerei mit faschistischen Demonstranten. New York und Paris während der Besatzungszeit sind die nächsten Stationen, wo sie sich weiterhin einen Weg durch die von Männern dominierte Welt bahnt. 

Fasziniert hat mich vor allem, wie sich ein männlicher Schriftsteller so tief in die Seele einer mutigen und kreativen Frau, und zugleich in die damalige Zeit einfühlen kann. Wer kommt schon auf die Idee, eine durch den Krieg gezeichnete Vaterfigur zu erfinden, die versucht, an einem schönen Sommertag nicht nur sich selbst, sondern auch seine Tochter in den Tod zu stürzen? Von ihren vielen Wunden und Verletzungen lässt sich Amory keineswegs einschüchtern. Sie fotografiert später überlebende Soldaten des Zweiten Weltkrieges, heiratet den traumatisierten Sholto Farr und wagt sogar eine Reise als Kriegsfotografin nach Vietnam. William Boyd hat einen kühnen und täuschend echten Künstlerroman geschrieben, der das Porträt einer ganzen Epoche zeichnet. 

 
Kunst