Das Gift der verschwiegenen Wahrheit

Nach langer Zeit kam ich mal wieder in den Genuss eines Hörbuchs, das mir eine Bekannte lieh. Bei Hörbüchern werde ich normalerweise leicht abgelenkt und verliere schnell den Faden. Beim Roman „I saw a man“ von Owen Sheers passierte mir das allerdings nicht. Dafür sorgte nicht nur der mysteriöse Anfang und die vielen Wendepunkte, sondern auch an Devid Striesow, der die Geschichte als neutraler Betrachter und dennoch sehr eindringlich und dramatisch vorträgt.
Zunächst lernen wir den Protagonisten Michael Turner kennen, der eine Weile in New York lebte, um sich vom Journalisten zum Schriftsteller weiterzuentwickeln und dort ein erfolgreiches Buch über zwei Außenseiter der amerikanischen Gesellschaft veröffentlichte. Er lernt die Fernsehjournalistin Caroline kennen, heiratet sie und lässt sich mit ihr in Wales nieder. Das Eheglück ist jedoch von kurzer Dauer, denn seine Frau kommt bei ihren Recherchen für eine Reportage in Pakistan ums Leben.
Und schon sind wir bei dem schicksalhaften Moment, der eine Katastrophe in zwei Familien in weiter Entfernung auslöst. Schuld an Carolines Tod ist der amerikanische Offizier Daniel McCullen, der vom Luftwaffenstützpunkt in der Wüst Nevadas die Drohne abschoss. Nun werden die Geschehnisse aus seiner Sicht geschildert und wir erfahren, dass er Michael einen persönlichen Brief schreibt, um sein Gewissen zu erleichtern.
Michael mietet derweil in London eine Wohnung und versucht, den Tod seiner Frau zu verarbeiten. Halt und Trost findet er bei seinen Nachbarn Josh und Samantha Nelson, mit denen er sich anfreundet. Als er eines Tages das Haus der Nelsons durch die Hintertür betritt und eine fatale Entscheidung trifft, wird er von einem Moment auf den anderen selbst zum Schuldigen und tritt eine neue Ereigniskette los. Um Verlust und Schuld, Wahrheit und Geheimnisse geht es in diesem Roman, der sich keinem bestimmten Genre zuordnen lässt. Werden sich die drei Männer, die sich jeder auf ihre Weise schuldig gemacht haben, ihrer Verantwortung stellen? Michaels Romanmanuskript „Der Mann, der den Spiegel zerbrach“ könnte Aufschluss darüber geben.