Die Brave und die Böse

Der Roman „Meine geniale Freundin“ von Elena Ferrante gilt in Italien als Kultbuch. Der erste Teil einer vierteiligen Saga, die im Neapel der Nachkriegszeit spielt, ist nun auf deutsch erschienen und fand in der Presse viel Beachtung. Ich las trotzdem die englische Fassung „My brilliant friend“ und tauchte in das Armenviertel Rione ein, in dem die Ich-Erzählerin Lenù und ihre langjährige engste Freundin Lina aufwachsen.
Seit der ersten Begegnung in der Grundschule ist die brave und schüchterne Lenù fasziniert von der unangepassten Schustertochter Lila, die überall aneckt. Obwohl die beiden so unterschiedlich sind, teilen sie ein gemeinsames Ziel: so schnell wie möglich dem Milieu zu entfliehen und ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. Kein Wunder, denn die allerorts herrschende Gewalt und Brutalität sowohl in der Familie als auch zwischen rivalisierenden Clans bekommt der Leser permanent zu spüren. Prügel von den Eltern und Morddrohungen stehen an der Tagesordnung. Als Lila in eine höhere Schule möchte, wird sie von ihrem Vater sogar aus dem Fenster geworfen.
Mal raufen sich die Freundinnen zusammen, lernen Latein und reden über schöne Verse, dann wieder entfremden sie sich oder konkurrieren gegeneinander. Ihre Höhen und Tiefen sind oft gegenläufig: Erlebt Lenù wahre Glücksmomente während eines Sommers auf Ischia, geht es Lina hundsmiserabel. Am Ende deutet sich an, welch gegensätzlichen Wege sie einschlagen werden: Lenù wird Schriftstellerin während Lina schon mit 16 Jahren einen Lebensmittelhändler heiratet.
Obwohl die Geschichte mit einem Cliffhanger endet, bin ich noch nicht sicher, ob ich die Fortsetzung lesen werde. Ich hätte mir weniger Chronik und mehr Reflexionen über Bildung und Freundschaft gewünscht – etwa wie in dem Entwicklungsroman „Der Distelfink“ von Donna Tartt, in dem mich die Freundschaft zwischen den zwei Hauptfiguren und ihre Entwicklung deutlich mehr bewegt hat.