Kopfkino

Nach der Lektüre des Romans „Nachts die Schatten“ von Helwig Arenz fühlt man sich unweigerlich in seine Jugend zurückversetzt. Auch wenn der Protagonist Georg keine direkte Identifikationsfigur für mich war, konnte ich mich gut daran erinnern, wie ich bestimmte Situationen im Elternhaus ganz ähnlich erlebte.
Georg hat es wahrhaftig nicht leicht. Er kämpft nicht nur mit den typischen Unsicherheiten eines Heranwachsenden, sondern muss sich auch noch gegenüber seinen zwei älteren Brüdern Torsten und Kai behaupten. Einerseits bewundert er vor allem Kai, der sich alles traut, und sucht seinen Rat, als er sein erstes Rendezvous vor sich hat. Andererseits fühlt er sich oft unverstanden und ausgeschlossen. Das Einzige, was ihm hilft, sich in der Welt zurechtzufinden, Widersprüchliches zu akzeptieren und Geschehnisse zu verarbeiten, ist seine stark ausgeprägte Vorstellungskraft. Diese geht soweit, dass er sich nicht nur wilde Geschichten rund um seinen Bekanntenkreis ausdenkt und sie im Geiste ausschmückt, sondern auch Geister sieht – zum Beispiel in Gestalt eines Polizisten oder einer Frau im weißen Gewand. Stehen diese Erscheinungen für sein Gewissen oder lebt er nur seine überbordende Fantasie aus? Dies bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.
Der Roman ist keine chronologische Erzählung, sondern vielmehr Moment- und Nahaufnahmen, die Georg in der Ich-Perspektive wiedergibt. Es sind Kleinigkeiten, bestimmte Gesten, die den Protagonisten treffender charakterisieren als jede ausführliche Beschreibung, zum Beispiel seine Gewohnheit, sich Essen in den Mund zu stopfen, um sich nicht am Gespräch beteiligen zu müssen. Das Unsichere, Zaghafte, Holprige und Bemühte in seinem Wesen wird sehr gut vermittelt. Besonders gut gefiel mir die Episode mit dem Titel „Esszimmerwelt“. Beschrieben wird eine scheinbar harmlose alltägliche Szene am Esstisch, in der der Vater Torsten zurechtweist. Welche panischen Gefühle dieses Gespräch, das in ähnlicher Form schon etliche Male stattgefunden hat, in Georg auslöst, entfaltet Helwig Arenz enorm ausdrucksstark. Seine einfallsreichen Metaphern und die Art und Weise, wie er das Geheimnisvolle verdichtet, faszinieren. Der Autor wuchs in Fürth auf und ist auch als Schauspieler tätig. Ihm ist ein zärtlich-einfühlsamer und sehnsuchtsvoller Roman gelungen, der die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens poetisch und berührend schildert.