"Schöne Aussicht"

Im Stadtviertel Uhlenhorst, dem geografischen Mittelpunkt Hamburgs, spielt die Geschichte „Töchter einer neuen Zeit“ von Carmen Korn – allerdings nicht in der heutigen Zeit, sondern vor knapp hundert Jahren. Das Alsterufer dort trägt den Namen ‚Schöne Aussicht’, da sie einen Blick auf den Michel, den Fernsehturm und zahlreiche Kirchtürme bietet.
Und welche Aussichten hatten die Frauen in der damaligen Zeit? Davon erzählt diese Geschichte, die sich um vier Frauen, ihre Freundschaft und ihre unterschiedlichen Lebenswege dreht. Henni und Käthe zum Beispiel beginnen im Frühjahr 1919 eine Ausbildung zur Hebamme an der Frauenklinik Finkenau. Henni ist ehrgeizig, hat viele Pläne, doch als sie sich in den Arzt Lud verliebt und schwanger wird, verläuft ihr Leben anders als erwartet während Käthe sich politisch engagiert und die Kommunisten unterstützt. Einen Einblick in höhere gesellschaftliche Schichten und in schicke Villen der Gründerzeit gibt uns die Figur Ida, die in eine unglückliche Ehe mit einem reichen Bankdirektor gezwungen wird. Da sich die Haushälterin Mia um alles kümmert, hat Ida nicht viel mehr zu tun, als ihrer Liebe zum Chinesen Tian nachzutrauern.
Durch die Heirat mit Lud lernt Henni seine Schwester Lina kennen – für mich die interessanteste Figur in dem Roman, da sie die Aufbruchsstimmung, die Neugier und den Mut zu einem emanzipierten Leben am stärksten verkörpert. Sie kann nicht nachvollziehen, warum ihre Schwägerin, die so viele Pläne und Ehrgeiz hatte, in jungen Jahren eine Familie gründet. Lina vertritt die Ideen der Reformpädagogik und unterrichtet an einer Versuchsschule, interessiert sich für den Expressionismus und zieht in eine Mansarde – bereit für einen Neuanfang.
Was die Handlung betrifft, hätte ich mir etwas mehr Spannung und überraschende Wendungen gewünscht. Doch die Stärken des Romans liegen für mich woanders. Carmen Korn versteht es, durch detailreiche Beschreibungen Figuren, Schauplätzen und der damaligen Epoche Leben einzuhauchen. Die Sehnsüchte der Figuren und ihre wachsende Angst vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten sind immer wieder präsent. Auch die Charakterisierung der Männer kommt nicht zu kurz: zum Beispiel Käthes Mann, ein linker Romantiker, der in die KPD eintritt, Lud, der sich etwas Kindliches bewahrt hat und bei Frauen das Gefühl auslöst, ihn behüten zu wollen, oder der Arzt Theo Unger, der kein Glück bei Frauen hat.
Wer weiß, ob ich bei der Buchversion der Geschichte mit der gleichen Aufmerksamkeit gefolgt wäre wie diesem Hörbuch. Die Autorin liest selbst und beweist ein großes Talent dafür. Mal kühl-sachlich, mal empathisch zieht sie mit ihrer unverwechselbaren Stimme die Hörer in den Bann. Man kann nur hoffen, dass die porträtierten Frauen und ihre Nachfahren im nächsten Band der Trilogie auf schönere Aussichten im Leben hoffen dürfen.