Ist Gerechtigkeit möglich?

Wie in dem zuletzt vorgestellten Film „Glass House“ hatte ich es wieder einmal mit einer Geschichte zu tun, in der sich der Sohn gegen seinen strengen und bornierten Vater auflehnt. Diese spielt allerdings vor hundert Jahren im Wilhelminischen Zeitalter und trägt den Titel: „Der Fall Maurizius“. Den Autor Jakob Wassermann entdeckte ich durch seinen grandiosen Roman „Faber – Die verlorenen Jahre“ und brachte mich auf seine Trilogie rund um die Figur Etzel Angergast.
In diesem ersten Buch stößt der 16-jährige Etzel auf den titelgebenden Fall Maurizius, der für seinen Vater, der damals als Staatsanwalt die Anklage vertrat, längst abgeschlossen ist. Vor 19 Jahren wurde Leonhart Maurizius in einem Indizienprozess für den Mord an seine Frau verantwortlich gemacht und zu lebenslänglicher Haft verurteilt, obwohl er seine Unschuld beteuerte. Eine merkwürdige Begegnung mit dem Vater des Häftlings, dessen Begnadigungsbitte und seine mitgebrachten Unterlagen wecken Etzels Interesse für den Fall. Je näher er sich mit den Akten beschäftigt, desto mehr zweifelt er an der Aussage des Kronzeugen Waremme und beschließt, ihn in Berlin aufzusuchen.
Und damit beginnt ein Familiendrama, das an psychologischer Finesse, schockierenden Verstrickungen und zerstörerischer Kraft kaum zu überbieten ist. Etzel verlässt das Elternhaus, um die Unschuld Maurizius’ zu beweisen. Das zwingt den entsetzten Vater, den Fall zu rekapitulieren. Ein Gespräch mit dem Häftling erschüttert schließlich sein Weltbild. Sprachlich virtuos beschreibt Jakob Wassermann, wie aus dem anfangs von allen respektierte, selbstgerechte Staatsanwalt, der streng nach seinen Prinzipien lebte, ein gebrochener, hilfloser Mann wird. Der Roman dreht sich um die Themen Gerechtigkeitssinn, Identitätssuche sowie krankhafte Liebe und zeigt auf beklemmende Weise, wie schnell ein geregeltes Leben aus den Fugen geraten kann. Zuletzt steht man vor der großen Frage: Ist Gerechtigkeit in dieser Welt überhaupt möglich?