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Zerbrechliches Leben

2017-03-01
Winnepeg
Zerbrechliches Leben

„Our house was taken away on the back of a truck one afternoon late in the summer of 1979“. So beginnt der Roman „All my puny sorrows“ („Das gläserne Klavier“) der kanadischen Schriftstellerin Miriam Toews. Dieser originelle Satz genügte, um mich für den Kauf dieses Buches zu entscheiden. Nun könnte man eine skurrile und vergnügliche Familiengeschichte erwarten. Zum Glück war ich vorgewarnt, dass dem nicht so ist. Ganz im Gegenteil: Die Ich-Erzählerin Yolandi erzählt von der bedingungslosen Liebe zu ihrer selbstmordgefährdeten Schwester Elfrieda, kurz Elf.

In Rückblicken erfahren wir, wie sie als Kinder von Mennoniten in der kanadischen Provinz aufwuchsen. Schon immer stand Yoli im Schatten von Elf und deren künstlerischen Begabung. Doch Elf hat das Suizid-Gen des Vaters geerbt und will nicht mehr leben. Nach einem missglückten Selbstmordversuch landet sie in der Psychiatrie eines Krankenhauses. 

Yoli lässt uns hautnah erleben, wie schwer es ist, sich in einen Menschen mit Todessehnsucht hineinzuversetzen. Was geht in ihren Köpfen vor? Wie kann man ihre Lebenslust wieder wecken? Während der Krankenbesuche fragt sich Yoli, ob Elf über Gründe nachdenkt, am Leben zu bleiben oder über Möglichkeiten, ihr Leben zu beenden. Dabei hätte sie allen Grund, glücklich zu sein: Sie hat einen Ehemann, der sie über alles liebt, und wird als Konzertpianistin umjubelt. Ist ihr Leben so perfekt, dass sie es nun beenden kann? Yoli dagegen sieht ihre Existenz als gescheitert: sie ist beruflich erfolglos, pleite und und schlägt sich nach zwei missglückten Ehen als alleinerziehende Mutter durch. Und doch legt sie eine unbändige Energie, Hartnäckigkeit und Leidenschaft an den Tag, wenn es darum geht, ihre Schwester am Leben zu erhalten. Während sie überlegt, ob sie Elf nicht in ein gefährliches Land schicken sollte, wo es ums nackte Überleben geht, verlässt sich Elfs Ehemann Nic lieber auf die regelmäßige Einnahme der Medikamente. Auch wenn sie unterschiedlich mit ihrer Situation umgehen, teilen sie doch den Glauben an ein Wunder und die Hoffnung, dass sie doch noch auf Welttournee gehen könnte. Trotzdem erscheint es Yoli zunehmend grausam, jemanden gegen seinen Willen zum Leben zu zwingen. Umso zerrissener fühlt sie sich, als Elf sie bittet, sie in die Schweiz zu begleiten und ihr beim Sterben zu helfen. 

Miriam Toews kehrt in diesem autobiografisch geprägten Roman ihr Innerstes nach Außen und zieht uns in ihre widersprüchliche Gedankenwelt hinein. Auch wenn die Geschichte bedrückend und aufwühlend ist, sorgt sie durch witzige und ironische Passagen auch für heitere Momente und bietet mit großer Erzählkraft vielfältige Einsichten in ein ernstes Thema. 

 
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