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Schaffensräume und Lebensträume

2017-05-04
München
Schaffensräume und Lebensträume

Der Ich-Erzähler in dem Roman „Ein Satz an Herrn Müller“ von Elmar Tannert hat ein besonderes Anliegen: Er wünscht sich von dem Raumausstatter Horst Müller, den er in einer Tankstelle kennenlernte, einen Entwurf für seine künftige Wohnung. Ungewöhnlich ist die Form seines Auftrags: Er schreibt Herrn Müller einen Brief über 250 Seiten, der aus einem einzigen Satz besteht. 

Schnell wird klar, dass er sich keineswegs mit einer 08/15-Lösung zufrieden gibt. Seine Ansprüche sind hoch, seine Wünsche speziell: Er ist ein Wohnungsflüchter, der sich eine Hausbar mit begrenzten Öffnungszeiten und ein Badezimmer ohne Badewanne vorstellt. Das Bild seiner Idealwohnung bleibt allerdings vage, da der Erzähler immer wieder vom eigentlichen Thema abschweift und sich in leidvollen Erinnerungen an seine Geliebte und in Reflexionen über das Schriftstellerdasein verliert. War soeben noch vom Arbeitszimmer die Rede, das als Kulisse für Fotografen dienen muss, lässt er sich darüber aus, wie wenig er von den Konterfeis hält, die die Buchumschläge zieren. Er sinniert darüber, warum es ein Maler besser hat als ein Schriftsteller, prangert politische Missstände an und stellt eine Menge provokativer Fragen, zum Beispiel ob der Mensch eine Religion brauche. 

Jeder Absatz im Buch bietet Gelegenheit, kurz Luft zu holen, um sich in den nächsten Gedankenstrom  zu stürzen. So liest sich der längste Satz, der mir bisher untergekommen ist, recht flüssig. Allmählich wurde mir klar, warum der Erzähler seinen Satz partout nicht beenden will und seine Überlegungen immer weiterspinnt: Eine zentrale Metapher schien mir der Kreislauf zu sein, der sich durch verschiedenen Themen zieht. Er philosophiert über Lebensstadien, von der Geburt bis zum „Gefühl, tot zu sein“, spricht vom Leben aus der Sehnsucht statt aus der Erfüllung. Sogar das jämmerliche Schicksal von Kartoffelchips geht ihm nahe. Sein Sprachstil ist anspruchsvoll und pointiert. Wer gerne Bücher über den Sinn des Lebens, künstlerisches Schaffen und Lebensträume liest, wird auf seine Kosten kommen. Der Wohnausstatter gestaltet reale Räume, der Schriftsteller Innenwelten – beides ineinander fließen zu lassen, ist eine geniale Idee. Für meinen Geschmack kam der Part der Raumgestaltung etwas zu kurz, hier hätte ich mir noch mehr Details gewünscht. Zwischendurch stellte ich mir vor, wie Herr Müller wohl auf den Brief reagieren würde. Das wäre doch ein interessanter Stoff für einen Fortsetzungsroman!