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Geschichten über Geschichten

2017-08-03
Chania
Geschichten über Geschichten

Als passionierte Leserin verschlinge ich Tag für Tag neue Geschichten, mal kürzer mal länger. Selten mache ich mir dabei Gedanken über das Verhältnis zwischen Erzähler und Leser – außer es handelt sich um ein Buch von Ali Smith. In ihren Romanen und Kurzgeschichten geht es nämlich meist um das Erzählen selbst. Das war schon in ihrem letzten Buch mit dem Titel „Wem erzähle ich das?“ so. In ihrer aktuellen Kurzgeschichtensammlung „Ganz andere Geschichten“ rückt sie erneut die Beziehung zwischen Erzähler und Leser bzw. Zuhörer in den Vordergrund und lässt sie sogar als Protagonisten auftreten.

Schon in der ersten Erzählung „Gottesgabe“ legt die schottische Schriftstellerin verwirrende Fährten. Besteht ein Zusammenhang zwischen einer kleinen Rettungsaktion im Garten und der Erinnerung an einen Urlaub in Griechenland? Dies bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. Fest steht, dass man ihre Geschichten mit größter Aufmerksamkeit liest – denn darum scheint es ihr auch beim Erzählen zu gehen: seine Umgebung mit Aufmerksamkeit zu betrachten, genau hinzusehen und auf Details zu achten, sei es das Kommen und Gehen am Eingang eines Supermarkts oder eine Menschenschlange an der Bushaltestelle. Sie beobachtet die sich ständig verändernde Nähe und Distanz zwischen den Menschen oder auch zwischen Mensch und Tier. Aus diesen Alltagsszenen zaubert sie ungewöhnliche, häufig in sich verschachtelte Geschichten, die mal witzig, mal melancholisch, mal romantisch, mal unheimlich sind. Die für Kurzgeschichten typischen überraschenden Pointen findet man hier weniger – dafür eine sehr interessante Form des experimentellen Schreibens.

Ein Thema, das Ali Smith besonders beschäftigt, scheint die Verletzlichkeit zu sein. In einer Geschichte wird um ein Haar eine Drossel getötet, in einer anderen isst ein Mädchen so wenig, dass sie immer weiter abmagert und kurz davor ist, sich ganz aufzulösen. Man könnte meinen, dass der Autorin Geschichten deshalb so wichtig sind, weil sie dadurch vergängliche Momente und Zustände konservieren kann. Am besten gefiel mir „Eine Geschichte von Liebe“, die zeigt, welche Macht der Erzähler auf den Zuhörer ausüben und welche Spielchen er mit ihm treiben kann. In letzter Zeit hörte ich öfters, dass das Vorlesen auch unter Erwachsenen wieder in Mode gekommen ist. Das würde Ali Smith bestimmt gefallen.