Jazz-Session am Krankenbett

Man stelle sich folgende Situation vor: Eine geliebte Person liegt nach einem Autounfall im Koma. Noch völlig geschockt von der Nachricht eilen drei Nahestehende in die Klinik in Hudson und erleben dort nur noch mehr unangenehme Überraschungen. So ergeht es den Protagonisten in dem neuen Roman von Nataša Dragnič „Einatmen, Ausatmen“.
Der Erste, der das Krankenzimmer betritt, ist Giorgias Ehemann Konrad, ein Philosophieprofessor, der sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen hat. Verheiratet sind sie nur noch auf dem Papier, denn nach dem Tod ihrer gemeinsamen Tochter verließ sie ihn und ging ihren eigenen Weg als Jazz-Sängerin.
Als zweiter betritt der 38-jährige Ben die Bühne. Der Drummer ist Giorgias Lebensgefährte, gründete mit ihr eine Band und macht sich Vorwürfe, dass er sie nach einem Auftritt allein Auto fahren ließ. Als er Konrad begegnet und erfährt, er sei ihr Ehemann, fällt er aus allen Wolken. Gibt es noch mehr, was er über Giorgia nicht wusste? Ja, gibt es, denn zu guter Letzt gesellt sich ein weiterer Unbekannter zu ihnen: Césco, ein venezianischer Brückenbauer und Saxofonist, der sich als Giorgias bester Freund ausgibt und gesteht, sie sei schon immer seine wahre Liebe gewesen.
Durch diese interessante Konstruktion wird Giorgias Person, ihr Charakter und ihr vergangenes Leben Stück für Stück enthüllt. Abwechselnd erzählen die Männer aus ihrer Perspektive, was sie mit Giorgia verbindet, und versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Wer von ihnen war wichtiger in Giorgias Leben? Originell ist die Idee, jeder Figur ein passendes Instrument zuzuordnen und die Kapitel wie verschiedene Musikstücke wiederzugeben.
So wechselt die Geschichte zwischen Dissonanz und Harmonie, denn seltsamerweise führt der Wettstreit zwischen den so gegensätzlichen Männern auch zu einer ungewollten Verbrüderung, da klar wird, dass Giorgia ihnen so einiges verschwiegen hat. Auch jetzt schweigt sie wieder, wenn auch gezwungenermaßen. Gerade das lässt viel Raum für Fantasie, da sie nicht in der Lage ist, sich zu den Streitereien zu äußern, etwas richtigzustellen oder aufzuklären. Immerhin lässt die Autorin sie stumm „zu Worte“ kommen in Form eines Gedankenstroms ohne Punkt und Komma.
Zum Schluss wird deutlich, dass sowohl Konrad als auch Césco zu feige waren, um sich auf die Liebe zu Giorgia einzulassen und ihre Chance verspielt haben. Der eine, weil er Angst vor seinen eigenen Gefühlen hatte, der andere, weil er die Gefühle anderer nicht verletzen wollte. Mit viel Gespür für feine Nuancen zeigt Nataša Dragnič in ihrem Roman, wie alles, was eine Jazz-Session ausmacht wie richtiges Timing, Tempo, Stimmigkeit und Intensität, auch in zwischenmenschlichen Beziehungen zum Erfolg oder Scheitern führen kann.