Der Sommer des Jahrhunderts

Wie hätte wohl ein Buch über das Jahr 2017 ausgesehen, wenn Florian Illies Momentaufnahmen von aktuellen Geschehnissen und Persönlichkeiten zusammengestellt hätte? Vermutlich hätten die bildende Kunst und Literatur nicht so im Mittelpunkt gestanden wie in seinem Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“, das vor fünf Jahren erschienen ist. Das Konzept finde ich originell: Der Autor und Kunsthistoriker knöpft sich jeden Monat einzeln vor, schildert die aus seiner Sicht erwähnenswerten Ereignisse und hangelt sich so durch das ganze Jahr.
Der Kunsthistoriker erzählt dabei so locker, klug und amüsant, dass man keine Mühe hat, sich in die schnell wechselnden Situationen hineinzuversetzen. Haben wir gerade noch mit Kafka über einen Liebesbrief an die Angebetete Felice gebrütet, befinden wir uns kurze Zeit später bei Asta Nielsen, die ihre ersten Filme dreht. Bemerkenswert ist, dass der Autor nur einzelne Tage im Leben verschiedener Persönlichkeiten beschreibt und doch das Typische an ihrem Wesen erfasst und illustriert.
Er schafft immer wieder einen eleganten Übergang zwischen den Momentaufnahmen und Anekdoten und gibt dem Leser das Gefühl, das Jahr ziehe wie ein Film vor seinem Auge vorüber. Bald fühlt man sich fast angesteckt von den herrschenden Neurosen und der Untergangsstimmung, die Schriftsteller, Maler und Psychoanalytiker gleichermaßen ergreift. Allmählich versteht man, wie daraus die dem Morbiden zugetane Wiener Intelligenz entstand.
Manche Fakten ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch, zum Beispiel, dass Marcel Duchamp immer noch keine Lust hat, die Malerei wieder aufzunehmen. Im Laufe des Buches sind einem die Protagonisten schon so vertraut, dass man das Gefühl hat, auf einen Sprung bei Rilke, Kokoschka, Schnitzler oder Freud vorbeizuschauen, und sich mit einem „What’s up?“ auf den Lippen zu erkundigen, wie die Dinge stehen. Eine erstaunliche Leistung von Florian Illies, die Fülle und Vielfalt eines ganz besonderen Jahres in ein unterhaltsames Büchlein zu packen.