Die vier Leben des Archibalds

Ich habe lange überlegt, ob ich den neuesten Roman von Paul Auster mit dem Titel „4 3 2 1“ lese. Ich bin zwar ein großer Fan des amerikanischen Schriftstellers, doch seine letzten Bücher haben mich nicht so überzeugt. Ich war auch nicht sicher, ob ich mir die Geschichte von Archibald Ferguson in vier Varianten auf 1.000 Seiten wirklich antun will. Das englischsprachige eBook war allerdings so günstig, dass ich doch zuschlug. Eine sehr gute Entscheidung, wie sich herausstellte!
Archibalds Eltern, Rosie und Stanley, spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle, so dass ihnen viel Platz eingeräumt wird. Rosie überlegt seitenweise Argumente für und gegen eine Heirat mit Stanley und gibt damit schon einen Vorgeschmack auf Austers Hauptthema: die vielzähligen Optionen, die ein Mensch in seinem Leben hat, und die gravierenden Folgen einer einzelnen Entscheidung.
„Was wäre wenn?“ Diese Frage taucht erneut auf, als der junge Archibald mit gebrochenem Bein im Bett liegt und darüber sinniert, was alles hätte passieren können, wenn er nicht auf den Baum geklettert wäre. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich verstanden habe, dass die vier Lebenswege nicht nacheinander erzählt werden – was zwar anstrengender, doch reizvoller ist, da es den direkten Vergleich der Lebensabschnitte ermöglicht.
Als Archibald seine unglückliche Liebe zu Amy Schneidermann schildert, dachte ich schon „Werde ich das nun in vier Variationen lesen?“ Tatsächlich wiederholen sich bestimmte Themen wie seine Liebe zum Lesen, Schreiben, zu Baseball, zu Paris und zu besagter Amy. Wie unterschiedlich Archibald Nummer eins bis vier eine Paris-Reise oder die Beziehung zu Amy erleben, macht gerade die Spannung aus. Es kommt auch vor, dass die Figuren ganz andere Wege gehen und sich schließlich doch in einer ähnlichen Situation wiederfinden.
Faszinierend sind auch die Geschichten in der Geschichte und die eingestreuten philosophischen Gedanken, zum Beispiel darüber wie viele Dinge gleichzeitig passieren. Jede der vier Erzählungen übt eine eigene Sogwirkung aus, weil es Paul Auster versteht, Gefühlsleben und Atmosphäre plastisch zu schildern und sogar mit dem Weltgeschehen zu verquicken. Das Durcheinander im Inneren und Äußeren wird fantastisch verwoben, als Archibald und Amy das lang ersehnte Wochenende in Zweisamkeit verbringen, während auf Kennedy das Attentat verübt wird.
Dieser Roman ist ein nicht nur ein Geniestreich, sondern auch fesselnder Lesestoff, der um die großen Themen des Lebens kreist. Es hat mich sogar dazu inspiriert, aus Spaß meine eigenen vier möglichen Lebenswege zu skizzieren. Ob daraus mal ein 1.000 starker Roman wird, ist allerdings fraglich.