Filmreife Lebensgeschichten

Zufälligerweise habe ich das Buch „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“ genau an Silvester gelesen, an dem auch die erste Erzählung beginnt. Der 18-jährige Leonhard verbringt diesen Tag ganz unspektakulär. Seine Eltern sind nach Belgien gefahren, und er macht sich einen Topf Nudeln und hängt seinen Gedanken nach. Als Leser hat man jedoch schon eine Vorahnung, dass gleich etwas Ungewöhnliches passieren wird. Und so kommt es auch: Am nächsten Morgen liegt eine wildfremde Frau in der Diele.
Das ist ganz typisch für die elf Erzählungen von Judith Kuckart. Es liegt etwas in der Luft und man ist nur einen Hauch davon entfernt, eine positive oder negative Überraschung zu erleben. „Was für ein Vorrat an Leben liegt in der Luft“, heißt es einmal und bringt die Hoffnungen und Sehnsüchte der Figuren zum Ausdruck. An Fantasie mangelt es ihnen dabei wahrlich nicht. Als Leonhard für seinen unerwarteten Gast einen Koffer aus dem Schließfach holt, kommt er sich vor wie in einem Krimi. Auch die pensionierten Lehrerinnen Maria und Emilie, die jedes Jahr zu einer Kur nach Tschechien fahren, lassen sich gern zu Träumereien verleiten. Schon eine Kleinigkeit wie ihren Taxifahrer in Stuttgart, der „so schön ist, dass man ihn vertonen müsste“, Ali Baba zu nennen, verleiht ihrem Leben ein wenig Nervenkitzel.
Judith Kuckart erwähnt immer wieder das Kino und zitiert Filme, so als ob sie die Grenzen zwischen fiktiven und realen Geschichten aufweichen wollte. Tatsächlich sorgen aufregende Begegnungen und Wendungen in Dresden, Stuttgart, Costa Brava oder Shanghai für Szenen, die durchaus filmreif sind. Auch der Polizist Sven kann den Verheißungen, die die Schuhverkäuferin Marilyn verkörpert, nicht widerstehen. Und Karl erlebt nach einer Affäre in Shanghai eine unerwartete Wende in seiner Ehe. Kuckart hat ein interessantes Konstrukt aus verschiedenen Episoden geschaffen, in denen sich die Wege der Figuren kreuzen. Nicht alle Geschichten haben mir gleich gut gefallen, doch ihr ganz eigener Sprachstil und die Art und Weise, wie sie die Glückssuche der Figuren schildert, faszinieren.