Es war einmal im Greyerzerland

Der Roman „Königskinder“ von Alex Capus beginnt mit einer Szene, die jedem Paar bekannt vorkommen dürfte. Tina und Max sind mit ihrem Wagen im Berner Oberland unterwegs und diskutieren über den angemessenen Zeitpunkt, die Scheibenwischer einzuschalten. In großen Lebensfragen, so heißt es, ist sich das Ehepaar einig, doch in praktischen Dingen wie Spülmaschinen oder Fahrradhelme gerät es ganz schnell in Streit.
Sie fahren trotz Verbot über den verschneiten Jaunpass, bleiben im Schnee stecken und müssen die Nacht im Auto verbringen. Wie gut, dass Max die Gegend kennt und ein talentierter Erzähler ist. So unterhält er Tina und uns Leser mit einer Geschichte, die sich zur Zeit der Französischen Revolution an diesem Schauplatz zugetragen haben soll.
Sie handelt von dem jungen Kuhhirten Jakob Böschung, der auf einer entlegenen Berghütte im Greyerzerland ein bescheidenes Leben führt. Er verliebt sich in die reiche Bauerntochter Marie-Françoise, doch für ihren strengen Vater kommt eine Heirat nicht in Frage. So verdingt sich Jakob zunächst bei der französischen Armee, später als Hirte am Hof Ludwigs XVI., wo er dessen Schwester Elisabeth dabei helfen soll, ihren künstlich geschaffenen Bauernhof in Gang zu halten.
Alex Capus schildert in knappen Worten und doch sehr plastisch die dekadente Gesellschaft am Hof. Einfach großartig, wie er die Eigenheiten jeder Schicht illustriert: den jähzornigen reichen Bauern, die Prinzessin, die „zu sinnlicher Ahnungslosigkeit verpflichtet“ ist, den verstoßenen Kastraten oder das gut vernetzte Dienstpersonal – keinesfalls boshaft, sondern mit einem Augenzwinkern und einer sprachlichen Treffsicherheit, dass man immer wieder schmunzeln muss. In das Ganze eingebettet ist die Geschichte der reinen Liebe zwischen Jacob und Marie-Françoise…, wobei ich mich schon hin und wieder fragen musste, worüber sich solch ein Paar wohl gestritten hat, als es eben keine Scheibenwischer, Spülmaschinen oder Fahrradhelme gab.
Alex Capus hat nicht nur eine historische und eine moderne Liebesgeschichte elegant miteinander verzahnt, sondern thematisiert auch die Fabulierkunst, die Glaubwürdigkeit einer Geschichte und das Spiel mit der Fantasie und Erwartungshaltung des Zuhörers.