Dichtende Zauberjungfer

Seit der Schulzeit habe ich nichts mehr von der Dichterin Annette Droste-Hülshoff gelesen. Das wird sich ändern, nachdem ich den biografischen Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ von Karen Duve gelesen habe.
Eine Frau, die allen Konventionen trotzt und ihrer Leidenschaft folgt, gewinnt schnell meine Sympathie. Annette Droste-Hülshoff, Nette genannt, ist dies besonders hoch anzurechnen, da sie in einer Zeit lebte, in der von Frauen vornehme Bescheidenheit und ein ansprechendes Äußeres erwartet wurde. Sie entspricht kaum diesem Ideal und wickelt die Männer statt dessen mit Klugheit, Verstand und geistiger Anmut um den Finger.
Die Autorin beschreibt den Alltag der Hülshoffs auf Schloss Bökerhof nahe Paderborn wie das Geschehen auf einer Theaterbühne, mal trocken und distanziert, mal sehr nah an den Figuren, und spart nicht mit spöttischen Seitenhieben gegen den westfälischen Adel. Die Familie empfängt viele illustre Besucher, darunter die Grimms und den mittellosen Dichter Heinrich Straube, in den sich Nette verguckt. Auch Straube ist von der dichtenden "Zauberjungfer" sehr angetan. In all den Begegnungen wird die ambitionierte Dichterin sehr lebensnah und treffend charakterisiert. Während sie auf Gesellschaftsabenden gezwungenermaßen Interesse für die Häkelarbeiten der Damen vortäuscht, mischt sie sich viel lieber in die männliche Gesellschaft und tut ihre Meinung über Literatur und Politik kund. Eine besondere Bedeutung kommt dem Gewächshaus des Schlosses zu.
Besonders in Nettes Zuneigung zum Dichter Straube, der als einziger ihr Talent erkennt, zeigt sich, wieviel die Poesie bedeutet. Wie qualvoll muss es für sie sein, wegen ihrer schwachen körperlichen Verfassung dauernd auf Kur gehen zu müssen und weder schreiben noch lesen zu dürfen. Der Titel des Romans bezieht sich auf einen tragischen und folgenreichen Sommer im Jahr 1820, doch aufgehängt an diesem Ereignis entfaltet sich ein großartiges Porträt der Dichterin und ein lehrreiches Sittenbild der damaligen Zeit.