Bankerin trifft Aussteiger

Es gibt Momente im Leben, da stellt man alles, was man bisher erreicht hat, in Frage. Annabelle, Hauptfigur des Romans „L‘Odeur de l‘herbe après la pluie“ („Der Duft von Gras nach dem Regen“) von Patrick Jacquemin erlebt diesen Moment an einem Sonntag im Juni. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau in der Finanzwelt und hätte allen Grund, zufrieden zu sein. Als sie beim Essen mit Freunden auf ihr Privatleben zu sprechen kommen, stellt sie nicht nur fest, dass sie keines hat, sondern dass sie völlig ausgebrannt ist und fällt in ein emotionales Tief. Nach einem heftigen Gefühlsausbruch in ihrem Auto beschließt sie kurzerhand, alles hinter sich zu lassen und in ihren Heimatort Langres zu fahren.
Unterwegs durch malerische Landschaften hat Annabelle nicht nur ein intensives Naturerlebnis, sondern lernt auch den Bauern Georges Lesage kennen, der allein einen kleinen Hof bewirtschaftet. Gegensätzlicher könnten ihre Lebensstile nicht sein: Der Siebzigjährige besitzt weder einen Traktor noch ein Handy, nicht einmal ein Telefon und lebt in völligem Einklang mit der Natur und seinen Büchern. Annabelles Frage, ob ein Traktor nicht viel höhere Erträge erzielen würde als seine Ochsen, lässt ihn völlig unbeeindruckt. Wie zu erwarten nähern sich die beiden durch tiefgründige Gespräche allmählich an.
Annabelle ist einerseits fasziniert vom einfachen und naturverbundenem Leben, kann sich andererseits von ihrem Umfeld in Paris nicht ganz lösen. Auch wenn die Handlung wenig Überraschungen bietet und die Geschichte nicht ganz meine Erwartungen erfüllt hat, haben mich Georges Lebensweise und seine philosophische Gedanken zum Nachdenken gebracht. Man muss nicht gleich zum Einsiedler werden, doch selbst als Stadtmensch kann man der Schönheit der Natur mehr Aufmerksamkeit schenken, achtsamer mit der Tier- und Pflanzenwelt umgehen und sich bewusst machen, dass wir Menschen genauso wie die Natur Teil dieses Universums sind.