Wenn Liebe blind macht

Bücher erlauben es uns, nicht nur in vielfältige Rollen zu schlüpfen, sondern auch in verschiedenste Berufe hineinzuschnuppern. Das ist eine besonders große Bereicherung, wenn die Details so gut recherchiert werden wie von William Boyd. Nach "Die Fotografin" war "Love is Blind" ("Blinde Liebe") mein zweiter Roman des schottischen Schriftstellers.
Wieder staunte ich, mit wieviel Expertise er seine Hauptfigur ausstattet und den Leser daran teilhaben lässt. Brodie Moncur arbeitet Ende des 19. Jahrhunderts als Klavierstimmer beim Instrumentenhersteller Channon & Co. in Edinburgh. Eines Tages erhält er von seinem Chef die Chance, in einer Filiale in Paris zu arbeiten. Die Geschäfte laufen zunächst nicht gut – bis Brodie auf die Idee kommt, Verträge mit berühmten Pianisten zu schließen, die auf ihren Tourneen Werbung für Channon Flügel machen. Sie engagieren John Kilbarron, der als „irischer Liszt“ gefeiert wird und die Umsätze in die Höhe schnellen lässt.
Es hätte die Geschichte einer erfolgreichen Laufbahn werden können, doch Brodie verliebt sich in Kilbarrons Geliebte Lika und damit nimmt sein Leben einen schicksalhaften Lauf. Ab da macht der Roman seinem Titel "Love is Blind" alle Ehre. Wir begleiten das Paar auf der Flucht quer durch Europa von St. Petersburg nach Biarritz, Edinburgh und Nizza. William Boyd versteht es, Liebe und Leidenschaft sowie Hass und Aggression so stark zu dramatisieren, dass man sich vorkommt wie in einem russischen Literaturklassiker. Ehrgeiz, Stolz, Liebe und Abhängigkeiten sind die treibenden Kräfte, die die Figuren immer mehr ins Unglück stürzen. Schade fand ich, dass sich die zweite Hälfte des Romans fast nur noch um die etwas langatmige Liebesgeschichte dreht und Brodies musikalisches Talent an Bedeutung verliert.