Selbstfindung im Exil

Zweimal kam ich letztes Jahr mit der griechischen Mythologie in Berührung: In "Mythos. Was uns die Götter sagen" von Stephen Fry und "Eine Odyssee" von Daniel Mendelsohn. Nun hatte ich Gelegenheit, die Sagen aus einer weiblichen Perspektive zu 'erleben', und zwar aus der Sicht von "Circe" ("Ich bin Circe") im gleichnamigen Roman von Madeline Miller.
Die Tochter des Sonnengottes Helios und der Nymphe Perse fühlt sich den Menschen näher als den Göttern und leidet unter der Demütigung und Zurückweisung durch ihre Familie. Als sie ihre magischen Kräfte entdeckt und sie nicht gerade im Sinne der Götter einsetzt, wird sie auf die Insel Aiaia verbannt. Das Exil entpuppt sich als Glücksfall für die Magierin, die sich nun intensiv mit der Tier- und Pflanzenwelt beschäftigt, allerlei Zaubertränke braut und ihre Kenntnisse immer mehr vertieft.
Für Abwechslung sorgen die wechselnden Besucher der Insel wie der Götterbote Hermes, der sie mit aktuellen Neuigkeiten auf dem Laufenden hält, das Ungeheuer Scylla, Daidalos, Medea und schließlich Odysseus. Auf die Weise kommen Circe verschiedene Rollen zuteil, manche unfreiwillig wie die der strengen Gouvernante. Väter schicken gern ihre ungehorsamen Tochter zu ihr, um ihnen ihre Grenzen aufzuzeigen. Als sie sich auf eine Beziehung mit Odysseus einlässt und einen Sohn gebärt, verwandelt sich die leidenschaftliche Liebhaberin in eine überfürsorgliche Mutter. Dieser Abschnitt ist für meinen Geschmack etwas zu lang geraten. An manch anderen Stellen wiederum wurde so viel mythologischer Stoff hineingepackt, dass man den Bezug zu Circe ein wenig verliert. Trotz allem bietet der Roman durch Millers starke Ausdruckskraft eine unterhaltsame und lehrreiche Lektüre.