Über Verluste und Menschlichkeit

Der Titel des neuen Romans von Delphine de Vigan lautet "Gratitudes" ("Dankbarkeiten"). Doch zu Beginn der Geschichte drängt sich ein anderes Thema stärker in den Vordergrund und zwar das Altern und die damit verbundenen Verluste. Die Heldin des Romans Madame Seld alias Michka ist 84 und nicht mehr in der Lage, ohne Hilfe in ihrer Wohnung zu leben und zieht in ein Seniorenheim. Sie verliert nicht nur ihre Selbstständigkeit, sondern auch ihr Sprachvermögen und ersetzt häufig bestimmte Wörter durch ähnlich klingende. Aus "D'accord" wird beispielsweise "D'abord".
Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive von Marie, ihrer früheren Nachbarstochter, um die sie sich oft gekümmert hat, und dem Logopäden Jérome erzählt, der mit Michka Sprachübungen macht. An ihren Gedanken und Beobachtungen teilzuhaben, macht die Geschichte vielschichtiger und interessanter. Jérome versucht beispielsweise, sich Michka und auch die anderen Bewohner des Seniorenheims in jungem Alter vorzustellen und was für ein Leben sie geführt haben.
Die Sprache spielt in diesem Roman eine zentrale Rolle. Während Michka immer wieder nach den richtigen Worten sucht, ergeben sich viele Situationen, in denen selbst Marie und Jérome nicht die richtigen tröstenden oder aufmunternden Worte finden und lieber schweigen, statt Platitüden von sich zu geben.
Es geht um die ungesagten Worte, in doppelter Hinsicht, denn es gibt zwei Menschen, denen die Jüdin ihr Leben zu verdanken hat. Mit Maries Hilfe will sie das Ehepaar ausfindig machen, um ihm ihren tiefsten Dank zu vermitteln. Damit kommen Michkas düstere Vergangenheit und das titelgebende Thema ins Spiel. Während Michka in ihrer neuen Umgebung dankbar die Hilfe von Marie und Jérome annimmt, gibt sie ihrerseits den beiden eine wichtige Botschaft mit auf den Weg: Sich mit anderen Menschen auszusprechen, um es nicht ein Leben lang zu bereuen.
Michkas Einsamkeit im Seniorenheim und ihr fortschreitender körperlicher und geistiger Verfall stimmten mich traurig, doch dem Ganzen setzt de Vigan generationsübergreifendes Mitgefühl und Warmherzigkeit entgegen.