Suche nach Erkenntnis

Wer vor einer schweren Entscheidung steht, holt sich gern Rat bei Freunden, Kollegen oder Experten. Welche Quellen die Ich-Erzählerin in dem Roman „Sight“ ("Was wir voneinander wissen") anzapft, ist eher ungewöhnlich. Sie ist zum zweiten Mal schwanger und stellt sich erneut die Frage, ob sie das Kind will oder nicht. Während sie ihre Erstgeborene beim Spielen beobachtet, kommen ihr Zweifel, ob sie den Aufgaben einer Mutter gewachsen ist.
Sie lässt ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen, erinnert sich an die Beziehung zu ihrer Großmutter und zu ihrer kranken Mutter, die sie bis zu ihrem Tod pflegte. Ihre Trauer vermischt sich mit Grübeleien und Sorgen über ihre eigene Zukunft.
Auf der Suche nach Antworten vergräbt sie sich in eine Bibliothek und beschäftigt sich mit dem Leben berühmter Persönlichkeiten wie Wilhelm Conrad Röntgen, Sigmund und Anna Freud oder John Hunter, der die Anatomie erforschte. Sie interessiert sich vor allem dafür, wie diese Wissenschaftler ihre Erkenntnisse gewannen und ob sich darin universelle Muster erkennen und auf ihr eigenes Leben übertragen lassen. Die Idee fand ich sehr originell, doch die Umsetzung eher enttäuschend. Vergeblich suchte ich nach Parallelen und fragte mich mehrmals, worauf die Autorin hinaus will.
So interessant der Lebensweg jedes einzelnen auch ist, erschienen mir die Exkurse etwas lieb- und zusammenhanglos eingeschoben und störten den Erzählfluss. Jessie Greengrass schreibt einfühlsam und auf hohem literarischen Niveau, doch auf die Dauer ist der essayistische Stil auch anstrengend. Manchmal hätte ich der Ich-Erzählerin gern den Rat gegeben, sich nicht so viele Fragen zu stellen und sich in destruktiven Gedanken zu verlieren, sondern ähnlich wie ihr Ehemann mit mehr Zuversicht in die Zukunft zu blicken.