Es war einmal ein Wirtshaus

Man kann sie zu gut verstehen – die Bewohner von Radcot in dem Roman „Was der Fluss erzählt“ von Diane Setterfield, der Ende des späten 19. Jahrhunderts spielt. Sie lieben Geschichten, sitzen jeden Abend im Wirtshaus Swan am Ufer der Themse in der Höhe von Oxford und erzählen sich Mythen und Sagen.
Eines Abends geschieht etwas, was reichlich Stoff für eine neue mysteriöse Geschichte bietet: Ein schwer verletzter Mann mit einem leblosen, aber unversehrten kleinen Mädchen im Arm stolpert ins Gasthaus und bricht zusammen. Zu welchen Theorien und Spekulationen dies führt, zählt für mich zu den stärksten Momenten der Erzählung. Jeder versucht, mit seinem Wissen den Vorfall zu erklären, Lücken zu füllen und sich einen Reim darauf zu machen, um das Ganze in eigener Manier weiterzuerzählen.
Der Vorfall ruft nach und nach neue Figuren auf den Plan: die Krankenschwester Rita, die das Mädchen untersucht; das Ehepaar Vaughn, das seit zwei Jahren seine Tochter vermisst; Robert Armstrong, der sich auf die Suche nach seinem Sohn und seiner Schwiegertochter macht. Ihre Vorgeschichten werden sehr ausführlich erzählt, was im mittleren Teil zu Längen führt.
Lässt man sich jedoch auf die langsam mäandernden Erzählstränge ein, kommt man in den Genuss einer wendungsreichen und atmosphärisch dichten Geschichte, besonders in der Hörbuchversion. Zu verdanken ist das vor allem der hervorragenden Sprecherin Simone Kabst, die jede Tonlage trifft, ob kindlich, entsetzt oder boshaft. Nicht nur die unterschiedlichen Charaktere, auch der Fluss mit all seinem Tücken und Geheimnissen wird durch die elegante Prosa von Diane Setterfield zum Leben erweckt. Besonderen Reiz gewinnt der Roman dadurch, dass seit einiger Zeit Storyteller-Communities zum Beispiel auf den schottischen Orkney-Inseln die Tradition des mündlichen Erzählens wieder aufleben lassen.